Andreas Reckwitz (geb. 1970) ist eine der wichtigsten Stimmen, wenn eine fundierte wissenschaftliche Analyse der deutschen Gesellschaft gefragt ist. Seit seinem Bestseller „Die Gesellschaft der Singularitäten“ (2017), für den er mehrere renommierte Buchpreise erhielt, untersucht er den Strukturwandel der modernen Gesellschaft und fragt nach den Einstellungen der Menschen zu Fortschritt und Zukunft. Er fand eine zunehmende Erosion der Fortschrittsgläubigkeit und steigende Zukunftsangst. Im Nachfolge-Werk „Das Ende der Illusionen“ (2019) setzte er diese Analysen überzeugend fort.
Im Jahr 2019 wurde er mit dem Gottfried Wilhelm Leibniz-Preis ausgezeichnet – der höchsten Auszeichnung, die einem Soziologen hierzulande verliehen werden kann. Die Deutsche Forschungsgemeinschaft lobte ihn zum Anlass der Preisverleihung als „einen der führenden und originellsten Gesellschaftsdiagnostiker der Gegenwart“. Seit dem Jahr 2020 ist Reckwitz Professor für Allgemeine Soziologie und Kultursoziologie an der Humboldt-Universität zu Berlin. Zuvor war er von 2005 bis 2010 Soziologie-Professor an der Universität Konstanz und von 2010 bis 2020 an der Europa-Universität Viadrina.
Zukunftsangst ist oft mit erlebten oder antizipierten Verlusterfahrungen assoziiert. Menschen, die gravierende Verluste erlebt haben, geraten oft in eine Abwärtsspirale und fühlen sich dann als Verlierer. Abgesehen von individuellen Schicksalsschlägen führt nach Reckwitz der Strukturwandel zwangsläufig auch zu Modernisierungsverlierer. Es gibt Gewinner und Verlierer in diesem Strukturwandel. Verluste können also Menschen zu Verlierern machen. Dieser Prozess erzeugt zahlreiche intensive Gefühle und Affekte wie Angst, Wut und Zorn, die wiederum gesellschaftspolitisch sehr wirksam werden. Im Zusammenhang mit Populismus, Rechtsradikalismus und Radikalisierung werden diese Gefühle oft zur Erklärung herangezogen. Jene Menschen, die sich abgehängt, benachteiligt und zu kurz gekommen fühlen oder die Abstiegsängste haben, entwickeln ein Protest- und Aggressionspotential, das die zeitgenössische Gesellschaft prägt. Der deutliche Rechtsruck bei den kürzlichen Landtagswahlen in Thüringen, Sachsen und Brandenburg signalisiert diese Tendenzen.
Verlusterfahrungen und Modernisierungsverlierer wurden von Andreas Reckwitz bereits in seinen beiden ersten oben genannten Bestsellern beschrieben. In der Fachzeitschrift „Soziopolis“ hat der diese Ergebnisse noch einmal zusammengefasst und auf den Punkt gebracht: er entwarf eine „Soziologie des Verlusts“ (Reckwitz 2021). Dort betonte er bereits die politische Sprengkraft, die von unbewältigten Verlusten ausgehen kann. Sie zeigt sich in populistischen Bewegungen, der Radikalisierung politischer Parteien und in antidemokratischen Tendenzen. Dieser sehr lesenswerte und kompakte Aufsatz war die Vorlage für eine neues sehr umfassendes Buch von 463 Seiten mit dem Titel „Verlust. Ein Grundproblem der Moderne“ (2024).
„Verlust. Ein Grundproblem der Moderne“ (2024)
Mit seinem neuen Buch hat Andreas Reckwitz eine Gesellschaftsanalyse der Gegenwart vorgelegt. Den roten Faden bilden die zahlreichen und vielfältigen Verlusterfahrungen moderner Menschen. Die moderne Gesellschaft befindet sich nach Reckwitz in einer Verlustparadoxie: sie will Verlusterfahrungen reduzieren und potenziert sie zugleich. Lange Zeit bewegten sich diese beiden gegenläufigen Tendenzen in einem fragilen Gleichgewicht. Durch die vielgestaltigen Krisen der letzten Jahre ist dieses Gleichgewicht verloren gegangen: die Verlusterfahrungen werden dadurch für die Menschen sichtbarer und spürbarer. Reckwitz fasst Verlusterfahrungen als ein soziales Phänomen auf. Kollektive Verlusterfahrungen wie Abstiegsängste, Wohlstandsverlust, Arbeitslosigkeit und Verlust von Sicherheit (sehr aktuell angesichts steigender Kriminalität) sind per se schon soziale Phänomene. Beziehungsverluste (Trennungen, Scheidungen, Todesfälle) sind ebenfalls zwischenmenschliche und damit soziale Phänomene. Das ausführlichste Kapitel in dem Buch widmet sich der Verlustparadoxie. Das Wechselspiel von Verlustminimierung und Verlustpotenzierung und die damit entfaltete Verlustdynamik werden sehr anschaulich aufgewiesen.
Reckwitz analysiert auch die Folgen von Verlusten und die Möglichkeiten der Verlustbewältigung. Die gegenwärtige Zunahme von Verlusterfahrungen hinterlässt vulnerable, geschädigte, unzufriedene und im Extremfall traumatisierte Menschen. Die Möglichkeiten der individuellen Verlustbewältigung sind eine persönliche Aufgabe und eine Domäne der Psychotherapie. Die kollektive Verlustbewältigung ist eine weitgehend „unbewältigte“ Herausforderung. Die Krisen der letzten Jahre haben tiefe Spuren hinterlassen. Diese zeigen sich in Zukunftsangst, Pessimismus und einem schwindenden Fortschrittsglauben.
Rezeption von „Verlust“
Das Buch „Verlust“ von Andreas Reckwitz ist kurz nach Erscheinen in allen großen deutschen Tageszeitungen besprochen worden. Die Resonanz war überwiegend positiv. Sehr zustimmende Kritiker gab es in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung in den Artikeln von Marianne Lieder und Guillaume Paoli (Lieder 2024, Paoli 2024) sowie in der „Welt“ von Marc Reichwein. Da das Buch erst vor wenigen Tagen erschienen ist, steht die Resonanz der Fachwelt, insbesondere der Soziologen, Politologen und Psychologen, noch aus. Sie dürfte jedoch ebenso positiv sein wie bei den beiden ersten Bestsellern von Andreas Reckwitz. Mit dem Thema seines Buches – insbesondere bezüglich Zukunftsangst, Fortschrittsglaube und Vulnerabilität – hat er sicherlich den Nerv des Zeitgeistes getroffen. Es ist deshalb zu erwarten, dass die Wellen der Resonanz auf diese Gesellschaftsanalyse lange anhalten.
Phänomenologie der Zukunftsangst
In einem Interview im „Tagesspiegel“ wurde Andreas Reckwitz kürzlich gefragt, wie er sich erklärt, dass in Umfragen 84 Prozent der Deutschen pessimistisch in die Zukunft blicken. Er antwortete wie folgt:
„Das ist ein dramatischer Befund, und er gilt seit Jahren nicht nur für Deutschland, sondern für viele westliche Gesellschaften. Er zeigt, dass sich die Fortschrittserwartung massiv eingetrübt hab. Die Tendenz geht nun in die Richtung dessen, was man Zukunftsverlust nennen kann. Zukunft wird für die Gesellschaften nicht mehr als ein Raum der offenen Möglichkeiten wahrgenommen, sondern als eine Zeit, die Verschlechterungen mit sich bringt.“
(Andreas Reckwitz, Interview im Tagesspiegel vom 12. Oktober 2024)
Fast zeitgleich mit dem Erscheinen des neuen Buches von Andreas Reckwitz wurden die Ergebnisse der 19. Shell-Jugendstudie veröffentlicht. Die Shell-Jugendstudie wird seit 1953 etwa alle vier Jahre im Auftrag des Mineralölkonzerns Shell durchgeführt. Seit 2002 wird sie von Wissenschaftlern der Universität Bielefeld erhoben. Es ist eine repräsentative Befragung von 12 bis 25-jährigen der deutschen Bevölkerung. Aus dem umfangreichen Datenmaterial, das ist einer Buch-Publikation von 338 Seiten zur Verfügung steht (Albert, de Quenzel, de Moll 2024), interessieren für diesen Beitrag besonders die Angaben zu dem Spektrum von aktuellen Ängsten bei den befragten Jugendlichen. Im Folgenden wird ein Vergleich mit den Ergebnissen der Vorstudie aus dem Jahr 2019 vorgenommen:
Als häufigste Ängste wurden jene vor Krieg in Europa genannt (81 Prozent versus 46 Prozent im Jahr 2019) und Angst vor Armut (67 Prozent versus 52 Prozent 2019). Die Ängste vor Umweltverschmutzung und vor Terroranschlägen sind im Jahr 2024 geringer ausgeprägt gewesen als im Jahr 2019.
Dieser kurze Einblick in eine sehr ausführliche Studie zeigt bereits, dass die Zukunftsangst wohl bei der deutschen Jugend deutlich angekommen und verbreitet ist.
Und wo bleibt die Hoffnung?
Andreas Reckwitz entwirft in seiner Gesellschaftsanalyse ein Szenario, in dem die Bedrohung überwiegt. Er fühlt den Puls der Zeit, er spürt die vielgestaltigen Ängste und die erschreckenden Symptome einer Abwärtsbewegung. Zu viele Menschen denken: „Es wird alles noch schlimmer kommen“. Während in der Nachkriegszeit die Eltern ihren Kindern prophezeien konnten: „Ihr werdet es einmal besser haben als wir!“, sagen heute die Kinder zu ihren Eltern „So gut wie ihr werden wir es nicht mehr haben. Es wird alles nur schlimmer.“
In der Wochenzeitschrift „Die Zeit“ findet sich ein dreiteiliger Podcast mit dem Titel „Das Futur II der Postapokalypse: Verluste werden eingetreten sein.“. Andere halten es mit Hölderlin und seinen schönen Worten:
„Wo die Not am größten ist, wächst das Rettende auch.“
Vielleicht sollten wir Ausschau halten nach Rettungsankern und Möglichkeiten der Resilienz (Brunnermeier 2021, Reckwitz 2022)!
Literatur
Albert, Mathias, Quenzel Gudrun, de Moll Frederick (2024). Jugend 2024. Pragmatisch zwischen Verdrossenheit und gelebter Vielfalt. 19. Shell Jugendstudie. Beltz, Weinheim
Brunnermeier, Markus (2021). Die resiliente Gesellschaft. Wie wir künftige Krisen besser meistern können. Aufbau Verlag, Berlin
Csef, Herbert (1998). Sinnverlust und Sinnfindung in Gesundheit und Krankheit. Königshausen & Neumann, Würzburg
Csef, Herbert (2022). Andreas Reckwitz – eine Soziologie des Verlustes und das Ende der Illusionen. Tabularasa Magazin vom 10. Mai 2022
Lieder, Marianne (2024). Verlusterfahrungen. Die Zukunft verliert ihre Anziehungskraft. Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 11. Oktober 2024
Paoli, Guillaume (2024). Der Verlust der Soziologie. Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 11. Oktober 2024
Reckwitz, Andreas (2017). Die Gesellschaft der Singularitäten. Zum Strukturwandel der Moderne. Suhrkamp, Berlin
Reckwitz, Andreas (2019). Das Ende der Illusionen. Politik, Ökonomie und Kultur in der Spätmoderne. Suhrkamp, Berlin
Reckwitz, Andreas (2021). Auf dem Weg zu einer Soziologie des Verlusts. Soziopolis vom 6. Mai 2021
Reckwitz, Andreas (2022). Was macht uns resilient? Gespräch mit Svenja Flaßpöhler auf der PhilCologne 2021. WDR 5 Spezial, Sendung vom 1.1.2022
Reckwitz, Andreas (2022). Der Optimismus verbrennt. Die Zeit vom 17. März 2022, Seite 47
Reckwitz, Andreas (2024). Verlust. Ein Grundproblem der Moderne. Suhrkamp, Berlin
Reckwitz, Andreas (2024). Wie umgehen mit der Zukunftsangst? Die zentrale Aufgabe besteht darin, klüger mit Verlusten umzugehen. Interview mit Hans Monath, Tagesspiegel vom 12. Oktober 2024
Reichwein, Marc (2024). Warum der Fortschrittsglaube erodiert ist. Die Welt vom 12. Oktober 2024
Korrespondenzadresse:
Professor Dr. med. Herbert Csef
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