Sizilianischer Autor Santo Piazzese entfaltet das vielfältige Panorama von Sizilien

Santo Piazzese. Blues im Mittherbst. Aus dem Italienischen von  Cathrine Hornung. Karlsruhe (Edition CONVERSO) 2024, 174S., 20,80 €, ISBN 878-3-949558.

In den sieben Erzählungen aus der Feder des renommierten sizilianischen Autors Santo Piazzese entfaltet sich das vielfältige Panorama von Sizilien und der schillernden Inselwelt an der Südspitze Italiens. Der Erzähler, la Marca, angehender Professor für Bio-Physik sitzt schwitzend im Caffe Mokarta, mitten in Erice, einem sizilianischen Bergstädtchen. Er leidet  unter der kochenden Hitze, die selbst für einen „eingeborenen“ Sizilianer unerträglich sei, wie er dann und wann schweißtreibend stöhnt. Was ihn nicht davon abhält, von Erice zu schwärmen. Vom Glockenturm im Chiaramonte Stil, „der sich am Eingang zur Altstadt erhob, vom Stadttor, der Porta Trapani , Gebäude von ergreifender Schönheit, wie er schweißtriefend gesteht. Es ist drei Uhr nachmittags und es herrscht eine „vorschriftswidrige Hitze, eine schwüle Hitze, gepaart mit jener klebrigen Luft, die sich in  Schweiß mengte und einem bei jedem Atemzug das Hemd an den Leib pappte.“ Doch der angehende Professor verbindet diese Qualen mit einer äußerst angenehmen Erwartung, einer Pasticceria grammatico, einer Kreation aus Mandelteig, dass ihm Michelle, eine ehemaligen Doktorandin mitbringen wollte. Und während er sehnsüchtig wartet (wohl eher auf Michelle als auf die Pasticceria !) meditiert er über die große Sexualrevolution (oder die große Kulturrevolution, die Revolution für Körper und Geist, mit manchen Vorzügen)… Während er schwitzend allerlei kühlende Drinks schlürft, philosophiert er auch über die sexuellen Fähigkeiten italienischer Boys, die denen der deutschen nach Zentimeter gemessen (!) überlegen seien. Dafür sei die akademische Ausbildung in Germania weitaus besser. Das habe er seinen Doktorantinnen immer wieder versichert, erzählt La Marca auch seinen Lesern – mit einem schelmischen Blick.

Und je länger diese dem Geschwätz des Professors folgen, desto tiefer dringen sie auch in die Wurzeln sizilianischer Kultur vor. Und die erweisen sich als Verführung durch erotische Erwartungen. Deshalb folgen Leser auch dem sehnsuchtsvollen Blick  des Professors in die Richtung, „aus der jeden Moment der hennarote Schopf von Michelle und die bunten futuristisch anmutenden Mähnen von Francesca und Alessandra auftauchen mussten.“ Darum geht es also la Marca, dem kaum etwas an der Begegnung mit alten Freunden lag, sondern… Na, der Leser weiß es natürlich, es geht um die Befriedigung seiner Eitelkeit und um die Fortsetzung seines Gesprächs mit seinem alten Freund  Rizzitano, den Marca schon sehr lange kennt. Und dieser Rizzitano wartet zu Beginn der zweiten. Erzählung, in der es nunmehr weniger um den verführerischen „Duft“ von Testosteron als um die Erinnerungen der beiden Freunde geht. Floskeln fliegen durch die heiße Luft, mentaler Striptease, Spott über das Zölibat – die Themen häufen sich. Auch vorgetäuschte Erinnerungen an den Aufenthalt an amerikanischen Unis, in denen „Marlowe“, wie Rizzitano seinen alten Freund nennt, nie war, schwirren als Wortfetzen durch den Raum. Für den Leser sind solche akademische Schwafeleien insofern lustig, als sie sich als ein Gemisch aus sizilianischer Geschwätzigkeit und pseudoakademischer Angeberei erweisen und zugleich ein Merkmal südländischer Alltagskultur sind. Das betrifft auch die Erzählweise in einer weiteren Erzählung mit dem Titel „Nimms mir nicht krumm, Allah“, in der La Marca auf einem Fischkutter anheuert, um seine Abschlussarbeit über die Thunfischschwärme zu schreiben, die zwischen Gibraltar und den östlichen Gefilden des Mittelmeeres vorkommen. Auf dieser „Santa Ninfa“ haben sechs Besatzungsmitglieder angeheuert. Sie kommen aus unterschiedlichen Anrainerstaaten des Mittelmeeres und bringen ihre beruflichen Erfahrungen in die schwierigen Arbeitsprozesse auf der Spada, dem Fangschiff, ein.

Eine besonders vielschichtige und widersprüchliche Erzählung trägt die merkwürdige Überschrift “Fritz“. In ihr skizziert La Marca einen älteren Gesprächsteilnehmer, der den eigentümlichen Namen  Der Generalissimo trägt. Er erregt die besondere Aufmerksamkeit seiner Zuhörer, denn er spricht über Carl von Clausewitz, wobei er auch dessen berühmten Ausspruch kommentiert: der Krieg sei die Fortsetzung der Politik und Hitler, so der Generalissimo, habe die  Quintessenz dieser Formel missachtet, indem er den militärischen Mitteln mehr Gewicht beigemessen als den politischen Der deutsche Leser könnte die ganze Passage als eine Farce betrachten, zumal der Generalissimo bald aus der Gesprächsrunde verschwindet, nicht ohne sich vorher über den Nazigeneral Guderian lobend zu äußern. Da der Erzähler La Marca sich aber in keiner Weise über die brutale Kriegsführung der Nazis äußert, bleibt die Erzählpassage ein dunkler Fleck in dieser quicklebendigen Beschreibung der Alltagskultur von Sizilianern, gesehen durch die Optik der dortigen intellektuellen Oberschicht. Sie enthält diese Erzählpassage mit dem  Hinweis auf die militärische Wahngeschichte der deutschen „Fritzis“. Schade, dass auf diese Weise die süditalienische Kulturlandschaft eine faschistoide Würdigung erhält.

Dennoch bleibt der Charme des „Blues im Mittherbst“ aufgrund der fesselnden Beschreibung des Mittelmeeres erhalten. Dafür sorgen der freche, schnoddrige Erzählton, die vielfältigen Bilder von Sizilien, die Informationen über den Thunfischfang wie auch  die lebendige Schilderung der dortigen Hochseefischerei. Und darüber hinaus verleiht die bunte Gestaltung des Paperback-Umschlags dem Band eine große Attraktivität. Nur der Titel ‚Roman‘ auf dem Umschlag ist ein wenig verwirrend, denn es sind sieben Erzählungen, die auf die Liebhaber sizilianischer Kultur warten.

Santo Piazzese. Blues im Mittherbst. Aus dem Italienischen von  Cathrine Hornung. Karlsruhe (Edition CONVERSO) 2024, 174S., 20,80 €, ISBN 878-3-949558.