Bundespräsident Steinmeier hat am 7. Oktober in seiner Rede nach einem interreligiösen Gottesdienst in Erinnerung an den Überfall auf Israel am 7. Oktober 2023 betonte: Wir werden nie vergessen, was am 7. Oktober geschehen ist. Wir vergessen die Menschen nicht, die an diesem Tag ihr Leben verloren haben. Wir denken an die, die gelitten haben und bis heute leiden. Ihnen schulden wir es, die Hoffnung nicht aufzugeben. So wie sie selbst die Hoffnung nicht aufgeben.
Änderungen vorbehalten. Es gilt das gesprochene Wort.
Der 7. Oktober wird für uns alle für immer zu jenen Tagen gehören, bei denen wir uns erinnern, wo und wann uns die Nachrichten des Grauens erreichten – der Tag, an dem der Traum Israels, der Traum von einer sicheren Heimstatt für alle Jüdinnen und Juden weltweit, so brutal erschüttert wurde.
Sie raubten uns den Ort, der unser sicherster sein sollte. Die, die überlebt haben, sind seelisch verletzt. Ich glaube, manches wird niemals heilen.
So hat es Racheli Nachmias berichtet, eine junge Israelin, die vor einem Jahr das Supernova-Musikfestival im Süden Israels besucht hatte. Sie hat den Terrorangriff der Hamas überlebt.
Wenn ich zurückdenke an den 7. Oktober vor einem Jahr, dann erinnere ich mich: Erst nach und nach drangen die Nachrichten zu uns durch, die Namen von überfallenen Kibbuzim – Kfar Aza, Nir Oz, Be’eri – und anderer Orte der Barbarei. Erst nach und nach vervollständigte sich das Bild, die unvorstellbare Grausamkeit, mit der Menschen auf bestialische Weise hingemordet wurden – unterschiedslos: Männer, Frauen, Kinder. Wie selbst die toten Körper noch geschändet wurden. Frauen und Mädchen vergewaltigt. Menschen jeden Alters verschleppt, in der Hand von Terroristen. Die Überlebenden zurückgelassen mit der Ungewissheit und der Angst, ob ihre Angehörigen noch leben, was ihnen in der Geiselhaft angetan wird. Am Ende waren fast 1.200 Menschen grausam umgebracht, 250 als Geiseln gefangen genommen worden.
Noch nie seit der Shoah sind an einem einzigen Tag so viele Jüdinnen und Juden ermordet worden. Heute, genau ein Jahr später, gedenken wir gemeinsam der Opfer des Hamas-Überfalls. Wir trauern mit denen, die ihre Liebsten verloren haben. Wir leiden mit denen, die noch immer bangen um ihre Angehörigen. Wir stehen an ihrer Seite.
Wenn ich mich zurückerinnere an den 7. Oktober, dann bin ich heute so entsetzt und fassungslos wie damals. Und ich erinnere mich an das Gespräch mit Präsident Herzog am gleichen Tag. Seit mehr als zwanzig Jahren kennen wir uns. Noch nie habe ich den Freund und Kollegen so erschüttert erlebt.
Ich erinnere mich auch gut, wie wir gemeinsam kurz nach dem Angriff der Hamas die überfallene Region im Süden Israels besucht haben, darunter den Ort eines furchtbaren Massakers: den Kibbuz Be’eri. Die blutverschmierten Wände in den Häusern werden mir nie aus dem Kopf gehen. Noch weniger die Verzweiflung und Todesangst, von der mir Kibbuzniks erzählt haben. Die Verzweiflung und die Todesangst, als die Terroristen im Nachbarhaus mordeten und sich dann der eigenen Wohnungstür näherten, dem Versteck, dem safe room im Haus. Ausgerechnet der wurde für viele zur Todesfalle.
Seit einem Jahr sind die Geiseln nun in der Gewalt der Hamas. Unter ihnen sind auch Deutsche. Deutschland setzt sich mit aller Kraft für die Freilassung aller Geiseln ein, und wir unterstützen den Plan des amerikanischen Präsidenten dafür und für eine Waffenruhe in Gaza. Ich sage sehr deutlich: Die Freilassung der Geiseln muss höchste Priorität behalten. Sie müssen endlich nach Hause kommen!
Nach Hause zurückkehren, das müssen auch die können, die schon kurz nach dem 7. Oktober vom täglichen Raketenhagel der Hisbollah vertrieben worden sind. Zehntausende sind auf der Flucht vor tödlicher Bedrohung irgendwo in Israel untergekommen. Sie haben ihr Zuhause schon seit einem Jahr nicht mehr sehen können, weil die Angriffe der Hisbollah Leben und Überleben dort unmöglich machen. Angriffe, gegen die Israel sich wehrt und wehren muss!
Dieser 7. Oktober war eine Zäsur, ein tiefes Trauma für Jüdinnen und Juden nicht nur in Israel, sondern auf der ganzen Welt. Israel, das war ihr sicherer Hafen. Sie wussten, sie fühlten: Egal, was passiert, wir können immer nach Israel. Und jetzt? Nele Pollatschek hat diese Verunsicherung in Worte gefasst: Wir sitzen zwar immer noch auf gepackten Koffern, aber zum ersten Mal wissen wir nicht, wo die Reise hingehen würde.
Ich muss Ihnen ehrlich sagen: Als deutscher Bundespräsident hätte ich mir nicht vorstellen können, dass Jüdinnen und Juden das sagen würden, fast 80 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges, nach dem Menschheitsverbrechen der Shoah. Mich schmerzt das zutiefst!
Wir kommen heute hier zusammen, um zu trauern, hier in der Gedächtniskirche. Diese Kirche, sie ist ein Mahnmal. Sie erinnert uns an unsere deutsche Verantwortung, daran, wohin deutscher Rassenhass und entfesselter Nationalismus geführt haben, welches Leid und welche Zerstörung wir Deutsche im vergangenen Jahrhundert über Europa gebracht haben. Die mehr als 60 Millionen Toten des Zweiten Weltkrieges und das Menschheitsverbrechen der Shoah verpflichten uns bis heute.
Nie wieder, das heißt: Nie wieder zuzulassen, dass menschenverachtender Rassenhass, Antisemitismus und übersteigerter Nationalismus sich in Deutschland breit machen. Zu dieser Verantwortung gehört auch, an der Seite Israels zu stehen, wenn die Heimstatt von Jüdinnen und Juden angegriffen und die Sicherheit und Existenz Israels bedroht sind. Und: Nie wieder, das heißt, für Menschenrechte und für die Würde jedes Einzelnen einzutreten.
Das ist die dreifache Verpflichtung. Sie ist tief eingeschrieben in das Selbstverständnis unseres Landes. Sie gehört zum Fundament unserer Demokratie.
Dennoch, wir spüren, dass im Krieg in Nahost diese Prinzipien, die uns leiten, auf eine schmerzhafte, auch widersprüchliche Realität stoßen. Je länger der Krieg dauert, je mehr er sich ausweitet, je mehr Opfer er fordert, umso mehr.
Dieser Krieg hat schon jetzt zu viele Menschen getötet, zu viel Leid gebracht: für Israelis und für Palästinenser, und jetzt auch für die Menschen im Libanon. Auch die Menschen in Gaza erleben seit einem Jahr unermessliches Leid, jeden einzelnen Tag. So viele haben in diesem Krieg ihr Leben verloren, so viele müssen fliehen, immer wieder aufs Neue. Krankheiten breiten sich aus. Und die Menschen hungern, vor allem die Kinder.
Die Fragen werden lauter, drängender, auch die öffentliche Debatte – weniger darüber, ob Israel ein Recht zur Selbstverteidigung hat, sondern darüber, wo die Grenzen jeden Rechts auf Selbstverteidigung liegen.
Für uns Deutsche kann diese schmerzhafte, diese widersprüchliche Realität nicht bedeuten, dass wir uns der dreifachen Verpflichtung des „Nie wieder“ entledigen. Wenn sich Prinzipien und Wirklichkeit stoßen, ist das ein Auftrag, dass die Wirklichkeit eine andere, eine bessere werden muss. Eine Wirklichkeit, in der Israelis und Palästinenser friedlich neben- und miteinander leben können. Das wird nicht allein mit militärischen Mitteln gelingen. Das verlangt eine politische Perspektive für die Region. Und dazu werden wir unseren Beitrag leisten müssen.
Ich wünsche mir ein Ende des Sterbens im Nahen Osten, aber ich möchte dafür werben, in einer verzweifelten Lage nicht nur auf die einfachen, vereinfachenden Ratschläge zu setzen. Die Toten in Gaza, den Hunger, die Zerstörung hätte es nicht gegeben ohne den Überfall und die Massaker vom 7. Oktober vergangenen Jahres. Dass Israel sich gegen eine fundamentale Bedrohung seiner Sicherheit zur Wehr setzen würde, wusste die Hamas nicht nur. Es war das zynische Kalkül der Terroristen, Israel in einen Krieg in Gaza hineinzuziehen. Einen Krieg, in dem Zivilisten als Schutzschild für ihre militärischen Stellungen missbraucht worden sind und zehntausende Unschuldige ihr Leben verloren haben.
Ich wünsche mir ein Ende des Sterbens im Nahen Osten, aber ich warne vor einer leichtfertigen Verurteilung Israels. Der deutsch-israelische Historiker Dan Diner – einer, der seit Jahrzehnten für die Aussöhnung zwischen Israelis und Palästinensern eintritt – hat jüngst noch einmal auf die besondere Lage Israels hingewiesen. Darauf, dass das Schicksal die Deutschen und Israelis nach 1945 unterschiedlich bedacht hat. Letztere leben in beständiger existentieller Ungewissheit, während sich erstere ihrer Existenz – der Existenz ihres Staates und ihres Volkes – gewiss sein können. Eine solche Existenzgewissheit ist den israelischen Juden nicht gewährt.
Ich verstehe das nicht als in Schutz nehmen Israels vor jeder Kritik, auch nicht als Plädoyer gegen Bemühungen, den Krieg zu beenden. Ich verstehe es eher als Warnung vor europäischer Überheblichkeit gegenüber einem Land, das – anders als wir – in einer Nachbarschaft lebt, in der die Auslöschung des Staates Israel keine Phrase ist, sondern die Politik bestimmt.
In diesen Tagen richtet sich unser Blick nicht allein auf die Kriegsregion. Wir schauen auch auf unser eigenes Land. Seit dem 7. Oktober erleben wir auch an deutschen Schulen und Universitäten, in Kultureinrichtungen, auf den Straßen und in den Medien, wie uns dieser Krieg im Nahen Osten zu zerreißen droht. Trauer, Wut, Ohnmacht, Angst um Angehörige und Freunde auf beiden Seiten – solche Gefühle treiben auch in unserem Land viele Menschen um.
Ich verstehe den Schmerz vieler. Aber so aufgewühlt wir auch sein mögen, wir dürfen darüber nicht unseren Kompass verlieren. Vor lauter Zerrissenheit dürfen wir nicht hinnehmen, was nicht hinnehmbar ist: Wenn Wohnungen von Juden markiert und beschmiert werden; wenn Brandsätze auf Synagogen fliegen; wenn jüdische Studierende an ihren Universitäten bedroht werden; wenn auf Demonstrationen ein Naher Osten ohne Israel gefordert wird – dann ist das Antisemitismus, dann ist das Judenhass. Das dürfen und das werden wir niemals dulden!
Seit dem 7. Oktober leben Jüdinnen und Juden auch in unserem Land im Ausnahmezustand, in einem permanenten Gefühl der Bedrohung, so heißt es im heute veröffentlichten Lagebild des Zentralrats der Juden in Deutschland. Hier sind wir alle gefordert: Polizei und Sicherheitsbehörden, die Justiz, auch die Gesellschaft als Ganze. Wir müssen alles tun, um jüdisches Leben zu schützen!
Das ist unsere immerwährende Verantwortung. Diese Verantwortung, sie bleibt! Nur, wenn Jüdinnen und Juden in Deutschland sicher und in Freiheit leben können, nur dann ist dieses Land ganz bei sich.
Freiheit und Sicherheit für die Menschen – dahin muss auch der Weg im Nahen Osten führen. Das muss die Perspektive sein. Eine Perspektive, für die wir arbeiten und auf die wir hoffen.
Wenn wir zu hoffen aufhören, kommt, was wir befürchten, bestimmt
, sagte Ernst Bloch. Ich habe eine Hoffnung: die Hoffnung auf Israels Zukunft. Am Israel Chai!
Ich habe die Hoffnung, dass Israel das Trauma des 7. Oktober eines Tages hinter sich lassen wird. Ich habe die Hoffnung, dass Israel stark und wehrhaft sein wird, damit so etwas wie der 7. Oktober nie wieder geschehen kann. Ich habe die Hoffnung, dass Israel auch im Innern wieder zu sich selbst findet und die Menschen wieder zueinander kommen. Und ich habe die Hoffnung, dass Israel in Frieden mit seinen Nachbarn leben kann und leben wird.
Wir werden nie vergessen, was am 7. Oktober geschehen ist. Wir vergessen die Menschen nicht, die an diesem Tag ihr Leben verloren haben. Wir denken an die, die gelitten haben und bis heute leiden. Ihnen schulden wir es, die Hoffnung nicht aufzugeben. So wie sie selbst die Hoffnung nicht aufgeben.
Die Angst sitzt so tief
, sagt Michal Ohana, die ebenfalls das Supernova-Festival überlebt hat. Es ist so eine tiefe, so eine essenzielle Angst. Ich glaube, es wird dauern. Aber irgendwann finde ich wieder zu mir zurück.
Quelle: Bundespräsident.de