Es ist eine außergewöhnliche Art der Berufung, die Winfried Henze vorlebt. Priesterweihe 1954, dann Kaplansjahre in Braunschweig, Bremen und Hildesheim, fünfzehn Jahre Landpastor, einundzwanzig Jahre Pfarrer an St. Godehard in Hildesheim, schließlich seit 2003 wieder Landgeistlicher. Jetzt vollendete er sein 95. Lebensjahr und feierte zugleich siebzig Priesterjahre. Bis dato ist er von Adlum aus im aktiven Dienst des Bistums Hildesheim tätig als gesuchter Seelsorger und verlässlicher Begleiter in Lebens- und Trauerkrisen. Berühmt ist Henze für seine schnörkellose, unprätentiöse Art, das macht sein neues Buch zugleich interessant und höchst amüsant.
Ja, schreiben kann dieser Priester! Als Redakteur der Kirchenzeitung wurde er zum ökumenischen Wegbereiter im Bistum Hildesheim, blieb dabei aber stets „kernkatholisch und kernig katholisch“, wie ein Weggefährte es formulierte. Axel Bernd Kunze, der das in einem kleinen, aber feinen Verlag erschienene Buch als Erster aus einem gewissen Dornröschenschlaf weckte, beschreibt die Tätigkeitsfelder Henzes: „Auslandsreportagen führten ihn nach Afrika und Lateinamerika, er gewann zweimal den Journalistenpreis der Deutschen Bischofskonferenz, unter anderem für Interviews mit afrikanischen Rebellenführern. Der passionierte Segelflieger wirkte als Meisterschaftsseelsorger, war ein geschätzter Interviewpartner im Radio, rettete geradezu auf Don-Camillo-Manier den kulturhistorisch unschätzbaren Albanipsalter aus den Händen diplomatischer Verwicklungen und erregte immer wieder öffentliche Aufmerksamkeit, wenn er sich mit deutlichen Worten in politische Debatten einmischte, etwa um die Bremer Verfassung oder die zahlreichen Kirchenschließungen im Bistum Hildesheim. Henzes Sprachkraft und Geistesschärfe haben bis heute nichts an Kraft verloren.“
Henze ist als Buchautor keinesfalls ein Neuling. Sein Katechismus „Glauben ist schön“ erlebte neun Auflagen erlebte und ist mit rund dreihunderttausend gedruckten Exemplaren ein echter Bestseller. Und nun also: ein humorvolles „Lob der Kalkleiste“, womit natürlich der weißen Stehkragen am Priesterhemd gemeint ist. Da zitiert Henze Kinder, die ihre Sicht auf die hohe Geistlichkeit ohne falsche Scheu auf den Punkt bringen – „nicht immer zum Vergnügen der geistlichen Herren“, wie es im Untertitel des Kapitels heißt. Kunze zitiert eine Episode von Seite 30: „Mitunter bringen Kinder das Treffende besser auf den Punkt als Erwachsene. So antwortete ein Junge auf die Frage des Priesters während der Kinderpredigt, warum dieser in der Messe so feierliche Gewänder trage, ganz direkt: ‚Damit er darunter verschwindet!’ Stirnrunzeln in der Gemeinde – und doch: Er hat Recht. Der Priester steht am Alter nicht für sich selbst, sondern an Christi Stelle. Er muss wissen, dass seine eigene Person ganz hinter diesem Auftrag zurücktritt.“
Henze erlebte seine Schulzeit an einem Göttinger Gymnasium. Geprägt hat ihn der „bodenständige, aber auch widerständigen Katholizismus der Hildesheimer Bördedörfer“, so Kunze. Ein Kapitel aus der NS-Zeit illustiert dies: „Weihrauch und morscher Deckel.“ Hier wird ein unfreiwillig komischer Auftritt des Dorfpolizisten zur willkommenen Gelegenheit, Treue zum Bischof und zugleich Widerstand gegen die braunen Machthaber zu demonstrieren.
Auch die Gegenwart aber ist ernst, und in seinem Eingangskapitel thematisiert Henze die klerikalen Missbrauchsskandale: „Ist ein harmloses Erzählen, wie in den Zeiten von Don Camillo und Peppone überhaupt noch angebracht?“ Ja, gerade jetzt, gerade angesichts derartiger Skandale, sagt der Autor: „Niemals darf man Träger eines hohen Amtes und großer Verantwortung in einen Nebel der Unantastbarkeit hüllen, der genaues Hinsehen verhindert und Unterwürfigkeit erzeugt, im Staat darf man das nicht, beim Sport nicht, in der Publizistik nicht und am wenigsten in der Kirche“ – so zu lesen auf Seite 9 im „Lob der Kalkleiste“.
Henze macht aus seiner Verbindungszugehörigkeit keinen Hehl, er gehört dem dezidiert katholisch orientierten KV-Verein „Winfridia“ an – jedweder „Tümelei“ unverdächtig, vor allem: der Deutschtümelei unverdächtig. Unter dem Schlachtruf „Nach Canossa gehen wir nicht!“ nimmt er die Leser mit an die sozusagen „antirömischen“ Wallfahrtsorte in Deutschlands Norden. Axel Bernd Kunze fand auf Seite 66 dieses Zitat: „Ach Freunde, was sinkt doch alles dahin im Lauf der Jahrzehnte und Jahrhunderte! Wieviel Zorn verraucht, wieviel Erinnerung wird schal! Georg und Heinricht, Bismarck und Leo, Hermann und Varus, Tilly und Gustav Adolf!“ Die Reise beginnt, und so erklärt sich der Titel dieses Abschnitts, an der Bad Harzburger Canossasäule, ein Manifest des sturmfesten Ghibellinentum, der die Katholiken trotzig eine dem heiligen Gregor VII. geweihte Kirche entgegensetzten – weiter geht die Reise über das Hermannsdenkmal und Schlachtfelder des Dreißigjährigen Krieges bis zu den Sachsensteinen Karls des Großen.
Ignaz Döllinger, geistiger Vater der deutschen Altkatholiken, riet einst dazu, den Apostel der Deutschen als Namensgeber des Bonifatiusvereins der deutschen Katholiken zu wählen, und der hieß bekanntlich mit Vornamen Winfried. So machten es dann auch die katholischen Studenten, als sie 1870 in Göttingen die erste katholische Verbindung gründeten. Die Axt, mit der Bonifatius den germanischen Götterhimmel entthronte, ziert noch heute das Wappen der Göttinger Winfriden. Trotzig sangen sie im Kulturkampf, wie Henze erinnert: „Die Götter-Eichen sinken! / Die Siegeszeichen blinken! Von ferner Alp bis zu des Nordmeers Strand / erobert Winfried seinem Gott das Land.“
Ja, die Zeiten wandeln sich, wie Axel Bernd Kunze dem Band von Henze entnimmt. Er läßt Henze nochmals zu Wort kommen: „Vielleicht empfindet es heute auch mancher katholische Amtsträger als peinlich, dass dieser Bonifatius die Donareiche einfach umgehackt hat, statt in einen Dialog auf Augenhöhe mit den alten Germanen einzutreten und um die Erlaubnis zu bitten, in gebührendem Abstand eine römische Zypresse daneben pflanzen zu dürfen.“ Etwas mehr Stolz auf die eigene Tradition, die eigene Geschichte und die eigene Identität täten unserem Land und seiner Kirche in der Tat nicht schlecht. Hoffnungslosigkeit sei, so exzerpiert Kunze, die falsche Antwort auf die heutige Kirchenkrise, doch müsse die Kirche winterfest werden – in der Sprache der Bördedörfer: „Winterweizen aussäen“. Kunze resümiert, Henze habe seine Berufung immer darin gesehen, Pastor – und nicht Pfarrer – zu sein: Hirte, verankert im Dorfleben, die Familien begleitend. Ein Pastor, so sagte er einmal, sollte in jedem Verein seines Dorfes Mitglied sein, außer im Frauenkreis. Henze lebe die Freude seiner Berufung. Das werde auch im vorliegenden Bändchen deutlich.
Henze, Winfried, Lob der „Kalkleiste“ und allerlei zum Schmunzeln über ihre Träger. Dazu einiges, was einem beim Nachdenken über längst vergangene Zeiten so alles einfallen kann, Hildesheim 2024, 80 Seiten, ISBN 978-3-947066-95-7; 8,95 Euro.
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