Solange man nicht tot ist, ist man am Leben – Mit „Zu nah am Abgrund“ ist ein weiterer grandioser Roman von Pascal Garnier auf Deutsch erschienen

Pascal Garnier: Zu nah am Abgrund. Septime Verlag: Wien 2024. Gebunden. 144 Seiten. 20 Euro. ISBN: 978-3-99120-048-2.

Man kann nach Pascal Garnier süchtig werden. Manche Schriftsteller haben einen bestimmten Sound, den man immer wieder erkennt. Der Belgier Georges Simenon ist so ein Fall. Oder auch der im Jahr 2010 verstorbene französische Autor Pascal Garnier. Es ist ein Verdienst des Wiener Septime Verlags, dass er nun schon den dritten Kriminalroman Garniers auf Deutsch herausbringt. Nach „Der Beifahrer“ und „An der A 26“ liegt jetzt „Zu nah am Abgrund“ vor.

Wieder kommt Garnier, der auch als Maler und Autor von Jugendbüchern tätig war, mit sehr wenigen Seiten und relativ wenig Personen aus. Es gibt Bücher, die brauchen rund 200 Seiten, bis sie so richtig in Gang kommen. Bei diesem Autor ist das nicht der Fall. Der Leser ist sofort mitten im Geschehen.

Worum geht es? Éliette, die Protagonistin, ist 64 Jahre alt und erfüllt von einer süßen Bitterkeit. Sie genießt ihre Rente in ihrem Häuschen auf dem Land. Eigentlich wollte sie hier mit ihrem Ehemann den Ruhestand verbringen. Doch der Tod hat – wie so oft in diesem kleinen, großen Roman – einen Strich durch die Rechnung gemacht. Die Kinder wohnen weit entfernt, was sich aber eigentlich nicht nur auf die räumliche Entfernung bezieht. Éliettes Leben ist zu einem Monolog geworden: „Sie hatte eine Weile gebraucht, um es sich einzugestehen: Sie brauchte ihre Familie, aber nach vierundzwanzig Stunden sehnte sie sich danach, dass sie wieder fuhren.“

Kurze Zeit später kreuzt ein rund 20 Jahre jüngere Mann der Weg der immer noch attraktiven Witwe. Es wird schnell klar, dass mit diesem Étienne etwas nicht stimmt. Er ist ein Kleinganove. Doch Éliette lässt ihn in ihr Haus, denn ihr Körper, der „so bemitleidenswert geworden“ ist „wie ein Blumenstrauß, den ein abgewiesener Verehrer auf einen Bahnsteig geworfen hat“, verlangt danach.

Keine Sorge, Garnier erzählt nun keine verschwitzt-schwülstige Geschichte, wie eine brave Witwe für einen bösen Jungen entflammt. Die jetzt einsetzenden Ereignisse mögen nicht realistisch sein, doch sie faszinieren. Ein Sohn der Nachbarn, zu denen die schöne Witwe Kontakt hat, kommt bei einem Autounfall ums Leben. Eine ziemlich durchgeknallte junge Göre erscheint auf dem Plan, von der man zunächst nicht weiß, in welchem Verhältnis sie zu dem Kleinganoven Étienne steht.

Was nun passiert, ist abgrundtief düster, hoffnungslos und gänzlich unromantisch – und beschert einem einen großen Lesegenuss, so dass man das Buch nach 140 Seiten nur aus einem Grund frustriert zur Seite legt: Schade, dass es schon vorbei ist und man auf den nächsten Garnier in deutscher Sprache noch warten muss.

Großen Genuss bereitet vor allem die Sprache des Autors: Der „Hunger auf Leben“ wird als „diese Bulimie des Daseins“ bezeichnet. Sie ist witzig-lakonisch: „Statt eins Frühstücks nahm er eine Messerspitze Kokain.“ Oder auch: „Der Himmel errötete wie die Wangen eines Mädchens, dem man gerade etwas gestanden hat.“ Die allgegenwärtige Verzweiflung der Protagonisten bricht sich Bahn in schwarzem Humor: „Nicht mal umbringen kann sich mit dieser verdammten Karre.“

Pascal Garnier: Zu nah am Abgrund. Septime Verlag: Wien 2024. Gebunden. 144 Seiten. 20 Euro. ISBN: 978-3-99120-048-2.
Über Ansgar Lange 19 Artikel
Ansgar Lange wurde 1971 in Arnsberg / Westfalen geboren. Er studierte Politische Wissenschaft, Geschichte und Germanistik in Bonn und schrieb seine Magisterarbeit über "Christa Wolf und die DDR" bei Professor Hans-Peter Schwarz. Während seines Studiums war er freier Mitarbeiter der Konrad-Adenauer-Stiftung in Schloss Eichholz . Anschließend arbeitete er in einer Bonner Kommunkationsagentur und journalistisch (u. a. Deutschlandfunk, Die Furche, Die Tagespost, Die Politische Meinung, Die Neue Gesellschaft / Frankfurter Hefte). Seit 2009 ist er als Geschäftsführer einer Ratsfraktion in Remscheid tätig.