Todesfackel in Saint-Omer

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Im nordfranzösischen Saint-Omer ist eine große, weithin bekannte Kirche komplett aus- und abgebrannt. Ein neugotischer Bau, immerhin mit wertvoller neugotischer Innenausstattung aus der Erbauungszeit, zwar stadtbildprägend, aber nicht von überragender Anmut oder mit einem mittelalterlichen Turmhelm, sondern eher bescheiden. Schlimm diese Feuerbrunst, gewiß. Und auch noch Brandstiftung durch einen fanatischen Christenhasser. Schlimm, schlimm, schlimm. Aber ein Fanal?

Ja, ein Fanal. Der lichterloh brennende und dann in sich zusammenstürzende Glockenturm eine Todesfackel. Oh, warum solch harte Worte? Ist das nicht überzogen? Geben Sie mir einige wenige Sätze, um zu beschreiben, was ich meine, werte Leser. Der Landstrich hinter der großen Hafenstadt Dünkirchen und dem signifikanten Fährhafen Calais ist genau das, was die Franzosen sagen: „Pas-de-Calais“ – natürlich ist es etymologisch und übersetzerisch völlig unzutreffend, das mit „Nicht-Calais“ zu übersetzen, denn natürlich ist das „pays“ gemeint, das Land um Calais. Aber so drängt es sich auf, bereist man dieses Land, so wie ich es mehrfach getan habe: Dort, rund um Saint-Omer ist ein einziges „Nicht-Calais“, gottverlassene Landschaft unter einem leeren Horizont. Einzelne Baudenkmäler von der sehr schönen Kathedrale von Saint-Omer bis hinunter zur kaum weniger lohnenden Abteikirche von Saint Riquier ragen aus einem gesichtslosen Küsten-Hinterland hervor, das ohnehin noch nie reich war und das in vielen Jahrhunderten immer wieder vom Krieg heimgesucht wurde. In dem sich, auf das 20. Jahrhundert bezogen, deutlich ablesen läßt, was ein ganzes Jahrhundert hoffnungslos verfehlter Wirtschafts- und Sozialpolitik anzurichten vermag.

Freudlos die Gassen in den öder, schier endlosen Vorstädten, zugegebenermaßen ist dieser Eindruck subjektiv. Aber die Eindrücke wiederholen sich. Langweiliger ist es im hinterland, langweiliger als in den Armenhäusern Osteuropas, weil Kultur fehlt. Die Abwesenheit Gottes erscheint physisch spürbar – und in ihrer Reparaturbedürftigkeit, ihrer Lückenhaftigkeit, der allgegenwärtigen Zerstörung sind die Dörfer, die kleinen Städte hier ärmer als arm. Keine Menschen auf den Straßen, außer bejahrten Ehepaaren osmanischen Ursprungs, bei denen die Frau standesgemäß drei Schritte hinter dem Mann zu gehen hat. Straßenköter, die die einzeln fahrenden Autos ankläffen. Metalltor, die im Windklappern, ansonsten Stille. – Und in einer solchen Vorstadt ein Leuchtturm des Glaubens. In diesem Land, diesem wahren „Nicht-Calais“, diesem „Nicht-Paris“, von dem aus auch die kilometermäßig nahen, halbwegs schicken Küstenstädte, von Boulogne-sur-Mer bis Berck, mittendrin der klandestin-mondäne, im schönsten Art Decó erbaute Kunstort Le Touquet Paris-Plage – von dem aus also die Küstenstädte Welten entfernt sind. Wie wichtig ist da jede einzelne Kirche, gerade im Hinterland!

Und dann, mitten im „Nicht-Calais“ – die Vorstadt von Saint-Omer. Arbeitersiedlung, Handwerkervorstadt, Absteige für abgehängte Existenzen, Refugium mittelloser Witwen. Mittendrin im Elend, das mit dem Unkraut durch die Ritzen maroder Mauern krabbelt, stand wie ein Schutz für alle Armen und Gestrandeten bis zum 1. September 2024 die „Kathedrale der kleinen Leute“, die Gemeindekirche „L’église de l’Immaculée-Conception“, zu deutsch „Maria zur unbefleckten Empfängnis“. Und nun ist sie abgebrannt, eingestürzt, der fahle Himmel wölbt sich endlos über den rußgeschwärzten Mauerkronen, von denen nicht sicher ist, ob sie nicht auch noch zusammenfallen, ausgeglüht, ermattet, verzehrt.

Natürlich weiß die französische Regierung, obschon hoffnungslos provinzvergessen, wie dreckig sie ihre armen Landsleute im „Nicht-Calais“, im „Nicht-Paris“ missachtet, ignoriert, hängenlässt. Immerhin wurde genau deswegen genau diese Kirche frisch renoviert, auf Staatskosten, 2018 war die Grundsanierung vollendet. Und nun – alles verbrannt. Am zuverlässigsten und informiertesten berichtet der von jungen Leuten gemachte, bemerkenswerte gute Dienst Apollo News: „Die Kirche von Saint-Omer, die 1859 eingeweiht wurde und seither eine zentrale Rolle für die Stadt spielte, ist trotz des Einsatzes von über 120 Feuerwehrleuten nicht mehr zu retten gewesen. Übrig blieben nur Trümmer: Die Decke des stolzen Gebäudes klafft auf, der Kirchenboden ist voll verkohlter Trümmer – das Gebäude ist nicht wiederzuerkennen.“

Apollo News nannte am Tag nach dem Brand auch als erster Dienst den Namen des mutmaßlichen Brandstifters, Joel Vigoureux: „Der 39-Jährige soll in den vergangenen Jahren 25-mal Brände an verschiedenen Orten in Frankreich gelegt haben – achtmal war eine Kirche sein Ziel.“ Für die Taten sei Vigoureux 2021 zu dreieinhalb Jahren Gefängnis verurteilt und erst wenige Tage vor dem Brand von Saint-Omer freigelassen worden. Sein Haß trieb ihn umgehend zur nächsten, schrecklichen Tat gegen Christen und ihre Heiligtümer. Das ist erwiesen, Vigoreux hat gestanden. Noch einmal Apollo News: „Gegen den 1985 geborenen Mann wird wegen Sachbeschädigung durch gefährliche Mittel mit religiösem Hintergrund ermittelt, heißt es vonseiten der französischen Behörden. Es könnte womöglich um ein anti-christliches, islamistisches Motiv handeln – französische Medien berichten, dass Vigoureux auf Facebook verschiedenen Accounts folgte, die den Islam lobpreisen oder pro-palästinensischen Content teilten.“ Womit das wesentliche gesagt ist.

Für 2021 ist bekannt, dass es 857 Straftaten gegen Kirchen allein in Frankreich gab. Zwar steht bei 92 Prozent dieser Taten ein Eigentumsdelikt im Mittelpunkt der Ermittlungen, weil das die Logik der Kriminalisten ist, aber in jedem einzelnen Fall wurde ein Ort geschändet, der Christen heilig ist, an dem sie Gewissheiten suchen, Trost finden, Stärkung empfangen. Auch wurde in jedem einzelnen dieser Fälle Zerstörung angerichtet. Das französische Innenministerium registrierte für das Jahr 2023 bereits um die 1.000 antichristliche Hassverbrechen, so berichtet die Beobachtungsstelle für Intoleranz und Diskriminierung gegenüber Christen in Europa, kurz OIDAC Europe. 90 Prozent dieser Vorfälle waren demnach direkt gegen Kirchen und Friedhöfe gerichtet. Sichtbar ist diese Zerstörung in den Kirchen, landauf, landab. Unsichtbar, aber weit tiefergehend sind die Zerstörungen in den Seelen der Menschen, die hier beteten, die mit Schmerz an ihre zerstörten Orte denken.

Und die Reaktion in der breiten Öffentlichkeit? Kurzes erschrecktes Aufmerken, ein paar Sätze voller Betroffenheitsrhetorik, danach Gleichgültigkeit. Eine Gleichgültigkeit, die zugleich Ausdruck von Sprachlosigkeit ist. Der Norden Frankreichs, einst von immer neuen Kriegen verheert, nun vom wirtschaftlichen Niedergang in die Knie gezwungen, durch chronische Armut entstellt. Ein einst christliches Land, in das Jesus heute nur noch kommt, um die Weinenden aufzurichten. Ein Land, das sein Gesicht verlor, als es verraten wurde – als Hinterland eines Hafens missbraucht, von dessen Gütern ihm nichts bleibt. Ein solch verarmtes, desillusioniertes, von allen guten Geistern buchstäblich verlassenes Land benötigte eigentlich in jedem der kleinen Städtchen, aus deren Fenster die Fratze der Armut grinst, eine Église de l’Immaculée-Conception. Doch die einzige weit und breit, die für die Menschen da war, wie überall glaubhaft bestätigt wird – abgebrannt.

Die Fackel des abbrennenden Kirchtirms von Saint-Omer wirkt angesichts wie die Bestätigung, wie das Ausrufezeichen in einer längst zerstörten, von christlicher Kultur einst durchwobenen Landschaft, darum ist dieses singuläre Ereignis ein Gleichnis auf das Sterben des Glaubens, das Sterben dieses Teils des alt gewordenen Europa. So rückt der Tag wieder ein Stück näher, an dem das gottverlassene „Nicht-Calais“ reif ist für eine stille Entwicklung, in der die Enkel der alten Ehepaare osmanischen Ursprungs, bei denen die Frau standesgemäß, weil Allah es so will, hinter dem Mann zu gehen hat. Diese Enkel werden Moscheen erbauen. Warum auch nicht. Es sind ja dann wohl gar keine Orientierungspunkte, keine Heiligtümer da. Nur ausgebrannte Kirchenruinen. Wie die von Saint-Omer.

Über Sebastian Sigler 105 Artikel
Der Journalist Dr. Sebastian Sigler studierte Geschichte, Literaturwissenschaft und Kunstgeschichte in Bielefeld, München und Köln. Seit seiner Zeit als Student arbeitet er journalistisch; einige wichtige Stationen sind das ZDF, „Report aus München“ (ARD) sowie Sat.1, ARD aktuell und „Die Welt“. Für „Cicero“, „Focus“ und „Focus Money“ war er als Autor tätig. Er hat mehrere Bücher zu historischen Themen vorgelegt, zuletzt eine Reihe von Studien zum Widerstand im Dritten Reich.