Der menschliche Geist verfügt über die Fähigkeit, Dinge aus sich selbst heraus in die Außenwelt zu projizieren, sprich in seiner Vorstellungswelt etwas (X) zu erschaffen, was so nicht real ist, philosophisch formuliert: was entweder gar kein Referenzobjekt in der Wirklichkeit hat (Halluzination: X gibt es gar nicht) oder aber das Referenzobjekt gibt es tatsächlich, dieses hat aber andere als die vorgestellten Eigenschaften ( y ), ist also anders als vorgestellt (Illusion: X gibt es tatsächlich, es hat aber nicht die Eigenschaft y). Solche Projektionen können aus Ängsten resultieren, die wir nach außen tragen, aber auch aus Wünschen und Sehnsüchten. Zugleich verfügt der menschliche Geist aber auch – und soweit wir wissen nur er – über das Vermögen, die Wahrheitsfrage zu stellen, was einen besonderen Grad von Bewusstsein, einen besonderen Grad der Reflexion voraussetzt, was die kognitive, begriffliche Unterscheidung zwischen Welt (Realität) und Weltbild, zwischen Wirklichkeit und Vorstellungswelt zur Bedingung hat.
Um meinen ehemaligen Lehrer Wolfgang Wieland zu zitieren: „Denn es ist für das mythische Bewußtsein charakteristisch, daß es noch keine Unterscheidung zwischen einer wahren und einer scheinbaren Welt trifft; ebensowenig kennt das mythische Bewußtsein die Differenz zwischen Welt und ihrer Deutung. Daß der Mythos eine Weltdeutung bietet, daß diese Deutung richtig oder falsch ist, kann daher immer nur von einem Standpunkt jenseits des Horizontes des mythischen Bewusstseins behauptet werden. Daß Homer möglicherweise lügt, ist eine für die griechische Geistesgeschichte folgenreiche Entdeckung gewesen. Ist diese Entdeckung erst einmal gemacht worden, so ist die Rückkehr ins Märchenalter der menschlichen Vernunft ein für allemal versperrt. Es war für die Philosophie in ihren Anfängen nicht leicht (und das gilt inzwischen wohl wieder, jf), mit dem Mythos zu konkurrieren.“ (Geschichte der Philosophie in Text und Darstellung, Band 1: Antike, Herausgegeben von Wolfgang Wieland, Einleitung S. 14, Reclam 1978)
Der menschliche Geist wurde also, so könnte man formulieren, im Zuge der Gehirnentwicklung des Homo Sapiens und der damit einhergehenden Entwicklung seines Geistes, aus dem Paradies des mythischen Bewusstseins hinauskatapultiert und erlangte ein kritisches Bewusstsein, das zu eben jener Unterscheidung zwischen Welt und Vorstellung von der Welt, zwischen wahr und falsch fähig ist. Das Wort „Kritik“ geht auf das altgriechische κριτική [τέχνη] = kritikē [téchnē] zurück, welches wiederum abgeleitet ist von: κρίνειν = krínein = ‚[unter-]scheiden, trennen‘. Und es gibt kein Zurück in dieses Paradies, in dem es diese Unterscheidung zwischen Welt und Weltdeutung, zwischen Wirklichkeit (Realität) und meiner Vorstellung von der Wirklichkeit, zwischen wahr und falsch noch nicht gibt. Aber es gibt etwas anderes, was dies gewissermaßen partiell zu simulieren versucht: die Projektion.
Denn es gibt eine sehr starke Sehnsucht in uns, nicht nur überleben zu wollen, sondern auch uns in der Welt wohl fühlen zu wollen, was – um es vorsichtig zu formulieren – nicht immer ganz leicht ist. Daher arbeitet unser Geist, der nicht völlig zurück kann ins mythische Bewusstsein quasi mit einem Trick. Er trickst sich bisweilen selbst aus, so könnte man sagen, um diese Sehnsucht zu bedienen, indem er mit Projektionen quasi sich selbst korrumpiert und zugleich korrumpieren lässt. Er ist mithin Subjekt und Objekt dieses Betrugs zugleich, daher sprechen wir von Selbstbetrug.
Wenn es sich um Wunschprojektionen handelt, wird die Wahrheitsfrage also gerne suspendiert oder sie wird um eines anderen Ziels willen – dem Wunsch danach, sich wohl zu fühlen – falsch beantwortet respektive gar nicht ernsthaft, nicht unparteiisch geprüft. Das heißt, es interessiert unseren Geist dann gar nicht wirklich, ob das Vorgestellte und Geglaubte, also das für wahr Gehaltene, wirklich wahr ist oder nicht. Bei Wunschprojektionen sind wir von einer anderen Idee (im Sinne Platons, also Idee als etwas objektiv Seiendes) geleitet und angetrieben, nicht der Idee des Wahren, sondern der Idee des Guten, hier zumeist in der auf das eigene Ich beschränkten Idee des Guten, also des für sich selbst Nützlichen und Angenehmen (nicht das Gute an sich, sondern das für mich Gute, wobei hier die Schmerzvermeidung im Vordergrund steht).
Damit bewegt sich unser Geist stets in diesem Spannungsfeld zwischen Projektion, insbesondere für sich selbst nützlichen, angenehmen Wunschprojektionen und der Wahrheitsfrage, die wir, sobald wir ein kritisches Bewusstsein erlangt haben, nicht mehr ganz los werden können, so dass die Tricksereien und der Selbstbetrug notwendig werden, um seine Projektionen zu schützen. Alle #Ideologien – sowohl die metaphysisch spekulativen (religiösen) als auch die rein profanen, insbesondere Marxismus und Sozialismus (im Grunde eine Ersatzreligion) – bauen übrigens genau auf solchen Wunschprojektionen auf. Daher sind sie auch so erfolgreich und darum ist es so schwer, gegen diese anzukommen, weil in den meisten Menschen das Bedürfnis danach, sich wohl fühlen zu wollen, deutlich stärker ausgeprägt ist als das Bedürfnis, wissen zu wollen, was tatsächlich der Fall ist, und weil die meisten bereit sind, Letzteres für Ersteres zu opfern respektive in bestimmten Fragen, die sie für sich selbst als existenziell empfinden, zu suspendieren.