Erich Kästner war schon der berühmte Literat, der weltweit Anerkennung fand. Während der NS-Diktatur geriet er schnell in das Visier des Regimes. Kästner, der seine deutsche Heimat nicht wie viele andere Schriftstellerkollegen verlassen wollte, hatte sich aber verschätzt. Hitlers Unrechtssystem dauerte nicht ein Jahr wie der Schriftsteller meinte, es war keine Episode. Der gebürtige Dresdner sollte am eigenen Leib die sinnlose Gewalt und Willkür des Despotenstaates spüren. Aber auch fünfzig Jahre nach seinem Tod steht die Welt wiederum in Flammen. Von Stefan Groß-Lobkowicz.
Für seine kritischen und antimilitärischen Gedichte, Glossen und Essays, die der damals gefeierte Autor auf dem Zenit seiner Karriere in vielen Zeitungen veröffentlichte, zahlte er einen hohen Preis. Freiheit und Kritik waren verpönt in einer Welt der Gleichschaltung und des Gleichschrittes, von Überwachen und Strafen, Repression und Bespitzelung. Sein Gedicht „Das Führerproblem, genetisch betrachtet“ und „Marschliedchen“ gerieten in den Fokus des NS-Regimes, seine Karriere abrupt beendet – Publikationsverbot. Er selbst glaubte – wie viele Zeitgenossen damals, dass der nationalsozialistische Irrsinn nur eine Episode sei, von kurzer Dauer, „vielleicht ein paar Monate dauern“, „höchstens ein Jahr“ und „nicht so schlimm würde.“ Mit dieser Zeitanalyse hat sich Kästner sicherlich getäuscht, gleichwohl er unter Pseudonymen weiterschreiben durfte. Er hatte Glück im Unglück, durfte, auch auf Anweisung von Josef Goebbels und mit dessen Sondergenehmigung, Drehbücher für einige komödiantische Unterhaltungsfilme wie Münchhausen (1943) schreiben. Sein Bleiben in Deutschland hatte er damals damit begründet, vor Ort Chronist der Ereignisse zu sein. Täglich sammelte er Material aus der Zeit und machte sich in einem geheimen Tagebuch für einen künftigen Roman über das „Dritte Reich“ umfangreiche Notizen. Dieses blau eingebundene Buch hütete er wie seinen Augapfel, versteckt es in seiner Bibliothek, nahm es aber während der Bombenalarme mit in den Luftschutzkeller. Anders als seine Bibliothek, die bei einem Luftangriff zerstört wurde, das kleine blaue Buch blieb erhalten.
Der Mensch ist blind im Gehorsam
Bereits sechs Jahre vor dem Machtantritt der Nazis hatte Kästner eine negative Bilanz der Gesellschaft gezogen. Was er moniert, sind Willkür und Willenlosigkeit, der Mensch als kollektive Masse. Er kritisiert Unfähigkeit zur Reflexion, den blinden Gehorsam, der von niedrigen Trieben beherrscht wird. In seinem Gedicht „Kennst du das Land, wo die Kanonen blühen“, einer Abwandlung von Goethes „Kennst Du das Land, wo die Zitronen blühen“ aus Wilhelm „Meisters theatralischer Sendung“, in dem der Weimarer Klassiker einst frenetisch seine Italiensehnsucht feierte, fällt die Bilanz bei Kästner düster aus. Er glaubt nicht, dass sich die Menschen zum Besseren wenden, er kritisierte die absurde Unlogik der Kriegsmaschinerie, die Aussetzung der Vernunft zugunsten der Ideologie, denn „der Verstand erst stramm und zweitens still. Die Augen rechts. Und mit dem Rückgrat rollen. […] Dort wird man nicht als Zivilist geboren. Dort wird befördert, wer die Schnauze hält.“ Als strikter Antimilitarist und Pazifist wusste er: „Dort reift die Freiheit nicht. Dort bleibt sie grün. […] Was man auch baut – es werden stets Kasernen.“ So resümierte er 1927 die Schrecken des Ersten Weltkriegs und gab eine düstere Prognose für die Zukunft: „Du kennst es nicht? Du wirst es kennenlernen!“ Wie sehr er recht haben sollte, wird ihm in den nächsten Jahren selbst zur unliebsamen Gewissheit.
„Fabian“ – unmöglich im Strom der Unmoral mitzuschwimmen
Kästner war ein bekennender Moralist, ohne den Zeigefinger zu heben. In seinem Roman „Fabian“ kämpfte er gegen alles, was die Welt an Schlechten und Bösen bereithielt. Für seinen Protagonisten war es daher unmöglich, im Strom der Unmoral mitzuschwimmen. „Fabian“, der Roman, der Ende der 20er Jahre spielt und 1931 erschien, spiegelt nicht nur Kästners Vorstellungen von Moral und Ethik wider, sondern deutet den Zeitgeist als einen sich im Niedergang befindlichen, als parasitären. Statt dass die Gesellschaft ethisch-solidarischen Maximen folgt, die Stimme zwischenmenschlicher Solidarität zu ihrem Credo macht, bleiben diese alte Tugenden nur Relikte aus vergangenen Zeiten. Kästner, der Idealist weiß, dass der Optimist mehr Unglück erleiden muss als der Pessimist. „Fabian“, anfangs ein Moralist, später durch gesellschaftliche und persönliche Wirrungen zum Pessimisten geworden, ertrinkt als Nichtschwimmer am Ende des Romans bei der Rettung eines Kindes, gerade zu dem Zeitpunkt, wo er wieder zum Moralisten wurde.
Auch heute ist die Welt wieder ein Verdun
Fünfzig Jahre nach dem Tod Kästners ist die Welt wiederum ein Flammenmeer, die Toten quillen über, die Erde ist von Leichen übersät. Wieder regieren Brutalität, Kriegssucht und Nationalismus. Totalitäre Systeme greifen nach der Weltmacht, feiern ihren Siegeszug. Despoten und Diktatoren zündeln und greifen nach der Weltherrschaft. Die Kriege in der Ukraine, im Nahen Osten, die vielen Bürgerkriege – der traurig-resignierende Befund Kästners, dass sich die Welt nicht verändern lässt, scheint wiederum bittere Realität. Die Bilder, die er in seinem Gedicht „Die Maulwürfe oder Euer Wille geschehe“, welches Kästner in einer Rundfunksendung 1959 zu seinem 60. Geburtstag rezitierte, bevor er Mitte der 1960er Jahre literarisch vollkommen verstummte, zeigt: Die Schreckensszenarien sind geblieben, sie haben nichts an Aktualität verloren. „Als sie, krank von den letzten Kriegen, tief in die Erde hinunterstiegen, in die Kellerstädte, die drunten liegen, war noch keinem der Völker klar, daß es ein Abschied für immer war.“ Ähnlich resignativ war sein Gedicht „Verdun, viele Jahre später“ von 1932. Dort heißt es: „Auf den Schlachtfeldern von Verdun finden die Toten keine Ruhe. Täglich dringen dort aus der Erde Helme und Schädel, Schenkel und Schuhe“. „Diese Erde ist kein Garten und erst recht kein Garten Eden.“ Mahnend waren schon damals seine Worte: „Habt ein besseres Gedächtnis!“
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