Österreichischer Bundeskanzler Karl Nehammer im Interview: „Wir alle – und ich meine wirklich alle – müssen wieder zu einem gemäßigteren Ton zurückfinden“

Karl Nehammer, Bundeskanzler der Republik Österreich | © Florian Schröter

Demokratiefeindliche Tendenzen, eine in Teilen vergiftete Debattenkultur sowie Hass und Hetze in den sozialen Medien – auch in Österreich muss sich die Demokratie zunehmend wehrhaft zeigen. Was unternimmt die Politik in unserem Nachbarland, um die Demokratie zu stärken und eine Radikalisierung innerhalb der Gesellschaft zu verhindern? Darüber, über ein Verbot von TikTok und die Frage, wie „demokratiefreundlich“ die Klimakrise eigentlich ist, sprach Sven Lilienström, Gründer der Initiative Gesichter der Demokratie, mit dem 51-jährigen ÖVP-Politiker und Bundeskanzler der Republik Österreich Karl Nehammer.

Herr Bundeskanzler, die Gesichter der Demokratie feiern in diesen Tagen Geburtstag. Seit nunmehr sieben Jahren lautet unsere erste Frage immer: Was bedeuten Demokratie und demokratische Werte für Sie ganz persönlich?

Demokratie heißt Freiheit! Demokratie braucht eine starke und breite Mitte. Extremismus und Radikale sind Gift für die Demokratie. Demokratie heißt, Kompromisse finden und im Austausch mit anderen Lösungen für die Probleme unserer Gesellschaft finden. Man muss bei allem immer versuchen, so viele Menschen wie möglich mitzunehmen. Das ist oft mühsam und das sprichwörtliche Bohren harter Bretter. Aber es ist richtig und notwendig, weil wir eben alle unterschiedliche Menschen mit unterschiedlichen Wünschen und Bedürfnissen sind. Und indem die Demokratie den Raum für jede und jeden Einzelnen bietet, schafft sie zu einem gewissen Grad auch Vielfalt.

Umfragen zeigen: Das Vertrauen in die Demokratie schwindet. Was unternimmt die Politik in Österreich, um die Demokratie zu stärken und das Vertrauen der Menschen – insbesondere der Jugend – zurückzugewinnen?

Demokratie ist nichts, das einfach von selbst besteht. Sie muss jeden Tag erneuert werden. Sie braucht Menschen, die anpacken und aktiv mitgestalten. Das heißt auch, dass wir uns als politisch Verantwortliche daran erinnern müssen, dass wir unsere Wortwahl immer wieder reflektieren und darüber nachdenken, was Worte auslösen können. Wenn ich mir den Ton und die politische Kultur heute manchmal so anschaue, wundert es mich nicht, dass viele junge Menschen keine Lust haben, sich am demokratischen Prozess zu beteiligen. Ich bin ein Fan davon, hart in der Sache zu diskutieren, aber vernünftig im Umgang miteinander. Es ist wichtig, dass wir alle, und ich meine wirklich alle, wieder zu einem gemäßigteren Ton zurückfinden. Die Sorgen und Wünsche junger Menschen muss man ernst nehmen und ihnen dabei auch zeigen, dass sie durch die Beteiligung am demokratischen Prozess die Möglichkeit haben, mitzubestimmen. Kurz gesagt, wir müssen daran arbeiten, der Demokratie wieder ein positiveres Bild zu geben.

Was in Deutschland die AfD, ist in Österreich die FPÖ. In Deutschland Alice Weidel und Tino Chrupalla, in Österreich Herbert Kickl. Was tun gegen den Rechtsruck? Sind unsere Demokratien wehrhaft genug?

Wir erleben aktuell eine Radikalisierung rechts wie auch links. Vieles ist im Wandel und vieles ist in den letzten Jahren auf den Kopf gestellt worden. Das macht vielen Menschen verständlicherweise Sorgen. Und in unsicheren Zeiten tendieren Menschen auf der Suche nach einfachen Lösungen zu Extremen. Das heißt, hier sind wir als Politiker, die sich in der Mitte der Gesellschaft positionieren, gefordert, den Menschen zu zeigen, dass das, was wir tun, uns ernst ist. Dass wir die Probleme offen ansprechen und echte Lösungen finden, statt falsche Versprechungen zu machen, wie das die Radikalen gerne tun. Dass wir Verantwortung übernehmen und Haltung zeigen. Und Haltung zeigen heißt auch Halt geben. Das ist ganz wesentlich in Zeiten der Unsicherheit. Und genau darum ging es in den letzten Monaten der Krisen.

Die Ära der unipolaren Weltordnung scheint vorbei – der Systemwettbewerb zwischen den USA und China prägt die Weltbühne. Welche Antwort hat Österreich auf den zunehmenden Protektionismus und Subventionswettlauf?

Österreich ist als mittelgroßes Land in der Europäischen Union treibende Kraft dafür, dass wir gemeinsam wieder wettbewerbsfähiger werden müssen – besonders gegenüber China und den USA. Ich habe dazu in meinem Österreichplan bereits klare Vorstellungen vorgelegt: Wir müssen die überbordende Bürokratie, die unsere Wirtschaft hemmt, stoppen. Wir müssen die Verbotskultur beenden und Innovation und Forschung zulassen. Unsere Wirtschaft soll im wahrsten Sinne des Wortes wirtschaften können. Wir müssen die Frage der Kapitalmarktunion in der EU lösen, damit wir Investitionen wieder zurück nach Europa und Österreich holen können. Es gibt viel zu tun in der europäischen Wirtschaftspolitik – und es geht dabei um nichts geringeres als unseren Wohlstand in Europa.

Der Klimawandel ist eine der größten Herausforderungen überhaupt. Haben wir noch die Zeit, das 1,5-Grad-Ziel mit parlamentarischen Mitteln zu erreichen? Anders gefragt: Wie demokratiefreundlich ist die Klimakrise?

Die Frage, wie wir die Herausforderung annehmen, dass der Klimawandel stattfindet und wir ihm begegnen müssen, ist keine einfache. Da verstehe ich, dass bei vielen Menschen Sorge aufkommt, aber wir dürfen uns hier nicht von der Größe der Aufgabe überwältigen lassen. Wir brauchen Klimaschutz und Umweltschutz – aber mit Hausverstand. Wir dürfen nicht den Fehler machen, das Dogma über die Realität zu stellen, und gut gemeinte, aber schlecht durchdachte Maßnahmen setzen – damit ist dem Klima nicht geholfen. Wir haben als Bundesregierung überdurchschnittlich viel für den Klimaschutz getan, vom Erneuerbare-Ausbau-Gesetz, über die Klima- und Transformationsoffensive mit 5,7 Milliarden Euro bis hin zu Förderungen für PV-Anlagen. All das ist gelebter Klimaschutz.

Sie sind auch auf TikTok präsent. Ist es Ihrer Meinung nach wichtig, dass Politikerinnen und Politiker auch auf TikTok Gesicht und Haltung zeigen? Wie bewerten Sie die Diskussion rund um ein mögliches Verbot der App?

Mein Ziel ist, Politik so gut wie möglich zu erklären und so vielen Leuten wie möglich nahe zu bringen. TikTok ist besonders beliebt bei jungen Menschen und mit denen möchte ich auch in Kontakt treten. Die Politik muss sich immer auch nach den Menschen richten und auf sie zugehen. Da es rund um TikTok einige schwerwiegende Sicherheitsbedenken gibt, haben wir als Bundesregierung die Verwendung von TikTok auf Diensthandys untersagt.

Herr Bundeskanzler, in Ihrer – wahrscheinlich knappen – Freizeit sind Sie leidenschaftlicher Hobbyboxer. Gibt es Gemeinsamkeiten zwischen Politik und Boxring? Mit wem würden Sie gerne mal in ebendiesen steigen?

Sowohl beim Boxen als auch in der Politik ist ständige Konzentration gefragt. Ein falscher Schritt beim Boxen kann, wie ein Fehler in der Politik, große Auswirkungen haben. Darum gilt es in beiden Bereichen, eine treffsichere Arbeit abzuliefern. Der französische Präsident Emmanuel Macron ist auch Boxer, mit ihm habe ich mich erst vor kurzem über die gemeinsame Leidenschaft ausgetauscht.

Vielen Dank für das Interview Herr Bundeskanzler!

Über die Initiative Gesichter der Demokratie:

Mit 140 prominenten Persönlichkeiten aus Politik, Wirtschaft, Medien und Gesellschaft sowie 2 Millionen Unterstützer*innen – darunter Staats- und Regierungschef*innen, Friedensnobelpreisträger*innen, die Chefredakteur*innen führender Leitmedien sowie die Vorstandsvorsitzenden global agierender Konzerne – befindet sich die Initiative Gesichter der Demokratie mittlerweile im siebten Jahr ihres Bestehens.

Quelle: Initiative Gesichter der Demokratie

Karl Nehammer, Bundeskanzler der Republik Österreich | © Florian Schröter

Finanzen