Dass die arme Lucrezia aus dem Zuschauerraum des Münchner Cuvilliés-Theaters auftrat, sollte wohl heißen: Sie ist eine von uns. Schon der erste der beiden hintereinander gebrachten Einakter vom Ende der 1930er Jahre, Ottorino Respighis aufpeitschender „Atto in tre momenti“ („Lucrezia“) und Carl Orffs „Kleines Welttheater“ („Der Mond“), gab Rätsel auf: Linda Sollachers klaustrophobe Glaskästen vor einem verwaschenen Vorhang; die auf einem Schlachtfeld verwundeten jungen Männer in Grau mit Melone, von Eva-Mareike Uhlig slapstik-gefährlich gewandet; die vage eingeblendeten, erst nach der Pause im Zauberwald zur Geltung gebrachten berühmten Lucrezia-Gemälde von Lucas Cranach bis Rembrandt; Respighis Erzählfigur „La Voce“, vom Balkon herab beschwörend gesungen, leider nicht von allen Plätzen aus sichtbar; nicht zuletzt das kaum von allen Plätzen zu sehende, aber für den „Mond“ wichtige Glaskästchen mit dem darin dauerhaft anwesenden Laubsäge-Wald.
Die Klammer der beiden gut einstündigen Opern, so wollte es die aus der Ukraine kommende Regisseurin Tamara Trunova in Vorgesprächen, sei der Raub. Der Gattin des adeligen Collatino, wurde ihre Unschuld, der Erde das Mondlicht gewaltsam entwendet. Nun ja. Da ist viel „hineingeheimnist“. Dass Lucrezia sich als Opfer der Vergewaltigung durch Tarquino, den brutal-geilen Sohn des letzten Königs von Rom, lieber umbringt als in Schande weiterzuleben, ließ erschaudern – auch wenn man dabei erneut Rätsel zu lösen hatte, etwa um sich erklären zu können, wodurch Lucrezias Suizid ermöglicht wurde. Ein mit Gift getränktes weißes Fähnchen aus dem Kühlschrank (o je, schon wieder dieses Requisit des „Regie-Theaters“!) kann`s doch nicht gewesen sein.
Der zurückhaltende, Ratlosigkeit und/oder Betroffenheit bekundende Beifall für „Lucrezia“ bei gesanglichen Spitzenleistungen (Titelheldin Louise Foor, ihr Brutalo Thomas Morle und die Erzählerin Natalie Lewis) wandelte sich am Ende der Märchen-Oper nach den Brüdern Grimm (Nr. 175 der „Kinder- und Hausmärchen“) in durchwachsene Zustimmung. Tamara Tunova nutzte nicht durchgängig verständlich das prächtige Bühnenbild für den inzwischen Staub angesetzten wunderlichen Orff mit der mal hell leuchtenden, mal geviertelten Mond-Scheibe, die vom Eichbaum weggenommen und wieder zum Eichbaum zurückgebracht wird. Der Unterschied zwischen Ober- und Unterwelt wurde gar nicht augenfällig. Dafür rollten und tollten die vier fidelen Burschen, die den Mond klauten und ins optisch nicht vorhandene Totenreich verbrachten, lustig herum: Gabriel Rollinson, Vitor Bispo (schon als Lucrezias Gatte ein bemerkenswert schöner Tenor), Haozhou Hu und Pawel Horodyski samt Thomas Mole (Lucrezias baritonal rauer Schänder) als Bauer. Überragend der verschmitzte Erzähler des graubärtigen Schotten Liam Bonthrone, mehr noch als der allzu begütigende statt schimpfende alte Mann, der bei den Brüdern Grimm Petrus, beim Produktionsteam Daniel Noyola heißt. Bravi für die wunderbare Louise Foor (Lucrezia), den Projektchor der Bayerischen Staatsoper, für die Produzierenden des Opernstudio-Abends und, last but not least, für die Dame am Pult. Sie kam mit den Neo-Partituren (Respighi: Richard Whilds, Orff: Takénori Némoto) höchst respektabel zurechtkam und leistete ganze Arbeit. Vor etlichen Jahren gehörte sie noch dem Kinderchor der Bayerischen Staatsoper an: Ustina Dubitsky.