Waterloo remettre …

Auf die List der Vernunft scheint doch Verlaß! Jedenfalls wäre der englische 24. Juni 2016 ein privilegierter Kandidat dafür, das zu explizieren. – Kurz nach dem Bicentenaire von Waterloo zeigt sich jetzt ein nachgeholter Sieg der kontinentalen Europaidee, die mit Abgang des L’empereur vom Feld bei Belle-Alliance am Ende schien. – Schon vom Pour-le-merite Träger Jünger war der (wohl jedem Militär auffällige) Umstand beklagt worden: daß Grouchy bei Waterloo zu spät kam, ärgert mich immer noch. Nun aber, ab jetzt können wir zu Grouchy sagen: spät kommt ihr, doch ihr kommt … Es zeigt sich: Europa hat einen langen Atem!
Wo zeigt sich das? – Die Option Englands gegen die ‚Europäische Union‘ ist eben kein irrationaler Affekt alter, weißer Männer mit Wettleidenschaft und einem Hang zu merkwürdigem Essen, sondern verweist auf eine politische Normalform mit langer Erfolgsgeschichte. Es ist dies die in England durch alles Auf-&-Ab der Geschichte bewährte Praxis des Westminster-Parlamentarismus. Wenn sich kontinentale politische Formen davon unterscheiden, so ist das ein Mangel … jenseits des Kanals! Europa nun nach englischem Maß zu gestalten, wäre also bloß eine Verdoppelung der Westminster-Polis. Da Europa immer mehr sein wird, als nur die Summe ihrer Mitglieder, wird sich das immer, auch wenn alle englischen Wünsche erfüllt wären, von der Westminsterkultur unterscheiden (und damit für England inakzeptabel). – Das hat schon unmittelbar nach dem Krieg 1946 ganz klar der europäisch gesinnte Churchill gesagt, als er für die kommenden Auseinandersetzungen mit dem Kommunismus darauf hoffte, es mögen sich bald die Vereinigten Staaten von Europa bilden, zu denen aber Großbritannien niemals zugehören wird.
Die erste große intellektuelle Aufgabe, die sich seit dem 24. Juni nun ergäbe, wäre es, mit europäisch gesinnten Philosophen, Theologen, Künstlern, Journalisten etc. an einer neuen Erzählung über Europa mitzuwirken, die die Begrenzungen des Nationalen, Völkischen, Religiösen und Traditionellen kennt, problematisieren und zu überwinden versprechen könnte. Erst mit einem solchen spirituellen Vorlauf könnte man die heutigen bescheidenen Europa-Wege, die bloß vom Massentourismus, von Händlern und Advokaten (d.i. Politikern) genutzt werden, so erweitern, dass sich europäische Landschaften, Flüsse, Städte und Provinzen mit der Zeit als Heimat das Gefühl der Menschen bereichern.
In dieser neuen Erzählung sollten also für eine neue politische Idee Europas die besten geistigen, sozialen und militärischen Traditionen des Kontinents (seit Bonaparte, Clausewitz, Saint-Simon, Tocqueville, Davour, Friedrich III., sowie Nietzsche und den europäisch gesinnten Schriftstellern und Künstlern seines Schlages zwischen Lissabon und Warschau, desgleichen Praktiker wie Rathenau, Schuman, Adenauer & de Gaulle) verbunden und vereinigt werden, um hier jenen neuen geistig-politischen Großraum neu zu konstituieren, der wirtschaftlich, politisch, militärisch und vor allem geistig das große Spiel der Welt zu bestehen im Stande wäre.

Über Steffen Dietzsch 18 Artikel
Steffen Dietzsch ist Professor für Philosophie und Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Philosophie der Humboldt-Universität Berlin. Er ist Direktor des Kondylis-Instituts für Kulturanalyse und Alterationsforschung (Kondiaf). Seine Forschungsschwerpunkte liegen in den Bereichen Kantforschung und -biographik, Philosophie des Deutschen Idealismus und europäische Nietzsche-Rezeption. Zuletzt erschien: "Wandel der Welt, Gedankenexperimente", Heidelberg 2010.

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