Fluchtpunkt Marseille – Die große Flucht der Literatur

In seinem jüngsten Werk beschreibt der Leipziger Essayist Uwe Wittstock lebensnah und ergreifend die Vertreibung deutscher Autoren aus dem nazibesetzten Frankreich. Von Benedikt Vallendar.

Welches Elend Adolf Hitler über Menschen gebracht hat, wird bei der Lektüre dieses Buches einmal mehr als deutlich. Mit journalistischer Akribie und geschliffenem Erzählstil gelingt es Uwe Wittstock, ein bisher weitgehend unbekanntes Kapitel deutscher Literaturgeschichte höchst spannend zu erzählen: Das Ausbluten des deutschen Literaturbetriebes und seiner internationalen Bedeutung durch Flucht und Vertreibung aus Frankreich ab Mai 1940, was bereits mit der Machtergreifung Hitlers im Januar 1933 begonnen hatte.

Nach Kriegsausbruch bemühten sich Literaturenthusiasten und reiche Mäzene, an ihrer Spitze der Publizist Varian Fry (1907 – 1967) höchst rührselig, Exilanten aus Europa nach Übersee zu verschiffen, was in vielen Fällen auch tatsächlich gelang. Doch leider nicht immer die Unterstützung der US-Administration fand. Erst nach dem japanischen Überfall auf Pearl Harbour 1941 entschieden sich die USA zum Kriegseintritt. Heute ist am Potsdamer Platz in Berlin eine Nebenstraße nach dem lange verfemten Varian Fry benannt. In Israel wurde er gar postum als „Gerechter unter den Völkern“ geehrt.

Prekäre Lebensbedingungen

Der Hafen von Marseille war für die Lebensretter aus den USA im Sommer 1940 ein wichtiges Nadelöhr, da er sich zunächst noch außerhalb der von deutschen Truppen besetzten Gebiete befand, auch wenn die französischen Behörden zusichern mussten, gesuchte Persönlichkeiten an die Gestapo auszuliefern, darunter den ehemaligen Arzt und SPD-Reichsfinanzminister Rudolf Hilferding, der nach seiner Festnahme zu Tode gefoltert wurde.

Schon in den dreißiger Jahren hatten sich Tausende deutscher NS-Gegner, darunter Intellektuelle und Politiker nach Frankreich geflüchtet, wo binnen kurzem eine rege Exilgemeinde entstand, die dort meist unter höchst prekären Bedingungen vor sich hinvegetierte; darunter so bekannte Geistesgrößen wie Walter Benjamin, der Maler Max Ernst und seiner Geliebten Peggy Guggenheim oder Heinrich Mann, der mit seiner 30 Jahre jüngeren Freundin Nelly, einer ehemaligen Bardame regelmäßig Geld von seinem berühmten Bruder Thomas aus den USA überwiesen bekam. Unterdessen die deutschen Behörden alles taten, um den Zugriff der Exilanten auf finanzielle Unterstützung aus der Heimat zu unterbinden.

„Noch schnell ein Ei, und schon eilt der Tod herbei“

Was viele damals nur ahnten oder nicht wahrhaben wollten: Auch in Frankreich gab es nicht wenige Hitler-Sympathisanten, Antisemiten und Rassisten, die der Gestapo gegen Geld oder aus Überzeugung detaillierte Informationen über die deutschen Exilanten lieferten, bis hin zu Adressen, Versammlungen und regelmäßigen Treffpunkten. So dass es oft allein auf die politische Haltung eines französischen Gendarmen ankam, ob eine Flucht vor den Besatzern gelang oder nicht. Nach dem Frankreichfeldzug hatten SD und Gestapo nicht selten leichtes Spiel, um ihrer geflohenen Feinde habhaft zu werden.

Wittstocks Buch liest sich in Teilen wie ein spannender Kriminalroman, etwa wenn er den Leser in die Gefühlswelt Lion Feuchtwangers, Anna Seghers, Hanna Ahrendts und anderer entführt und der Leser Dinge erfährt, die man normalerweise nur seinem privaten Tagebuch anvertrauen würde.

Aktuelle Literaturempfehlung:

Uwe Wittstock: Marseille 1940. Die große Flucht der Literatur. Verlag C. H. Beck, München 2024, ISBN 978-3-406-81490-7

Über Benedikt Vallendar 83 Artikel
Dr. Benedikt Vallendar wurde 1969 im Rheinland geboren. Er studierte in Bonn, Madrid und an der FU Berlin, wo er 2004 im Fach Geschichte promovierte. Vallendar ist Berichterstatter der Internationalen Gesellschaft für Menschenrechte (IGFM) in Frankfurt am Main und unterrichtet an einem Wirtschaftsgymnasium in Sachsen.