Rechtspopulisten fallen nicht vom Himmel

„Ein Gespenst geht um in Europa.“ Aber anders als 1848 von Karl Marx beschworen ist es zurzeit nicht der Kommunismus, der den einen Hoffnung geben und die anderen in Angst und Schrecken versetzen soll. Nein, 168 Jahre später ist es der Rechtspopulismus, der den etablierten christlich-demokratischen, konservativen und sozialdemokratischen Parteien den Angstschweiß auf die Stirn treibt, sie Stimmen kostet und manchen zu panischen Reaktionen verleitet.
Der scheinbar unaufhaltsame Aufstieg der AfD bei den Landtagswahlen und das sensationell gute Abschneiden der FPÖ bei den österreichischen Präsidentschaftswahlen lässt bei den Großkoalitionären in Berlin die Alarmglocken schrillen. Schließlich waren die Erfolge der deutschen Rechtspopulisten bei den März-Wahlen in Baden-Württemberg verbunden mit dem Absturz der CDU und der Marginalisierung der SPD im Südweststaat wie in Sachsen-Anhalt. Auch wenn sich Geschichte nie im Maßstab eins zu eins wiederholt, so gibt es dennoch Parallelen. Nach der ersten Großen Koalition (1966-69) schaffte es die NPD fast ins Parlament. Am Ende der zweiten Groko (2005-09) brachten es Union und SPD zusammen nur noch auf 57 gegenüber 70 Prozent bei der Wahl 2005. Wenn jetzt gewählt werden würde, müssten sich CDU/CSU und SPD mit zusammen zirka 52 bis 54 Prozent bescheiden, ein Minus von rund 15 Punkten gegenüber September 2013.

Österreich als Menetekel


Dass Große Koalitionen die Ränder stärken und die Mitte schwächen, ist eben nicht nur eine Lehrbuchweisheit. Beim Blick nach Österreich muss man noch hinzufügen: Je länger Große Koalitionen dominieren, umso stärker wird die Mitte ausgehöhlt. In den 71 Jahren seit 1949 ist Österreich 37 Jahre lang von Schwarz-Rot oder Rot-Schwarz regiert worden. Begonnen hatten die christlich-konservative ÖVP und die sozialdemokratische SPÖ mit zusammen mehr als 90 Prozent. Von da an ging es bergab: 2013 kamen sie noch auf 51 Prozent. Und wer glaubte, es könne nicht mehr schlimmer kommen, wurde bei den Präsidentschaftswahlen eines Schlechteren belehrt: Für die Kandidaten der beiden „Großen“ stimmte gerade noch jeder fünfte Wähler (zusammen 22 Prozent).
Berlin ist nicht Wien. Wenn dort zwei ehemals starke Parteien zwischen National-Konservativen mit völkischem Unterton und modischen Grünen zerrieben werden, muss das nicht automatisch auch hierzulande so kommen. Aber eine Warnung sollte Österreich für die Noch-Volksparteien CDU, CSU und SPD schon sein. Schließlich sind der Niedergang der christlich-konservativen und der Aufstieg rechtspopulistisch bis rechtsradikaler Kräfte ein europaweites Phänomen. Die Zeiten, dass – unabhängig vom Auf- und Abtauchen linker und rechter Exoten – letztlich „die Mitte“ gewinnt, sind vorbei. Hatte Ralf Dahrendorf in den 80er-Jahren das „Ende des sozialdemokratischen Jahrhunderts“ ausgerufen, so scheint jetzt in ein neues national-konservatives, rechtspopulistisches Jahrhundert anzubrechen. Jedenfalls befinden sich europaweit Parteien im Vormarsch, die auf der Links-rechts-Skala viel weiter von der CDU entfernt sind als diese von der SPD.

Nationalisten gewinnen in ganz Europa


In Frankreich hat Marine Le Pen vom nationalistischen „Front National“ gute Chancen, Präsidentin zu werden, in den Niederlanden liegt die „Partei für die Freiheit“ mit Geert Wilders in den Umfragen auf Platz eins, in Großbritannien verhindert bisher nur das Mehrheitswahrecht, dass die „UK Independence Party“ mit Nigel Farange den Konservativen den Weg zur Mehrheit verbaut. Bei den Europawahlen 2014 hatte sie „Labour“ und die „Tories“ hinter sich gelassen.
Selbst im einst sozialdemokratischen Skandinavien sind die Rechtspopulisten zu Machtfaktoren geworden. Die „Wahren Finnen“ regieren ebenso mit wie die norwegische „Fortschrittspartei“: die „Dänische Volkspartei“ toleriert als zweitstärkste Kraft eine Minderheitsregierung. Die „Schwedendemokraten“ wurden bei der letzten Wahl mit 13 Prozent drittstärkste Kraft. Auch in der gerne als Muster-Demokratie bezeichneten Schweiz gibt es einen beachtlichen Rechtsruck. Die für eine Abschottungspolitik stehende „Schweizerische Volkspartei“ stellt im Nationalrat mit 30 Prozent die stärkste Fraktion.


Flüchtlingskrise gab den Rechtspopulisten Auftrieb



Wie im Westen Europas, so suchen auch in vielen jungen Demokratien Osteuropas die Wähler Zuflucht bei national bis nationalistisch orientierten Parteien. In Ungarn regiert der ebenso wie die CDU/CSU zur Europäischen Volkspartei zählenden „Ungarische Bürgerbund – Fidesz“ von Viktor Orban mit absoluter Mehrheit, in Polen die nationalistisch-katholische Kaczynski-Partei „Recht und Gerechtigkeit“. In Lettland ist die „Nationale Allianz“ ebenso Mitglied einer Koalitionsregierung wie die „Slowakische Nationalpartei“ in Bratislava und „Ordnung und Gerechtigkeit“ in Litauen.
Nicht alle diese Parteien lassen sich über einen Kamm scheren. Zu unterschiedlich sind die historischen und gesellschaftlichen Bedingungen, zu verschieden ihre Programme und Ziele. Nur ein Beispiel: Wenn offener Rassismus und die Sorge, zu viele Zuwanderer in zu kurzer Zeit könnten die Integrationsfähigkeit einer Gesellschaft überfordern, gleichermaßen als „rechts“ etikettiert werden, mag das zwar politisch korrekt klingen; in Wirklichkeit ist es schlichtweg dumm. Allerdings haben die Flüchtlingsströme der Jahre 2014/2015 und die realistische Einschätzung, dass Europa von vielen Millionen Menschen weiterhin als Fluchtburg angesehen wird, hat den rechtspopulistischen Parteien quer durch Europa Auftrieb gegeben.

Das Ende der Multikulti-Illusion


Der Rechtsruck ist im Westen Europas auch das Ergebnis des seit langem vom linken, rot-grünen Spektrum mit medialer Unterstützung gepflegten Wunschtraums von der multikulturellen Idylle. Inzwischen kann im Westen niemand mehr leugnen, dass Parallelgesellschaften das Gegenteil eines harmonischen Miteinanders von Menschen unterschiedlicher Herkunft sind, dass ein zivilisiertes Miteinander einen gemeinsamen Nenner braucht – ein verbindliche Leitkultur. Und wer wollte den Menschen im Osten verdenken, dass sie keine Wiederholung der multikulturellen Fehlentwicklungen im eigenen Land erleben wollen?
Die Flüchtlingskrise, die Angst vor islamistischen Fundamentalisten wie vor „importiertem“ Terror hat am rechten Rand wie ein Brandbeschleuniger gewirkt. Für die Verärgerung und Enttäuschung vieler Menschen über den Kurs sozialdemokratisch-christdemokratisch-bürgerlicher-liberaler Koalitionen gibt es freilich noch ganz andere Gründe: ein allgemeines Unbehagen über die Allmacht der Brüsseler Bürokraten, die Sorge um die Stabilität des Euros und der Banken, die Enttäuschung über mäßiges Wirtschaftswachstum, Sparzwänge und geschrumpfte Verteilungsspielräume, steigende Kriminalität, Befürchtungen, den eigenen Kindern werde es eher schlechter gehen als einem selbst, auch eine unterschwellige Angst vor dem eigenen wirtschaftlichen Abstieg. Dazu kommen allerorten gesellschaftspolitische Tendenzen, die die Förderung tatsächlich oder vermeintlich Benachteiligter ins Zentrum der Politik rücken und so die große, arbeitende und steuerzahlende Mehrheit links liegen zu lassen.

Deutschland zahlt den Preis der Euro-Rettung.


Das alles wird in Deutschland noch dadurch verschärft, dass die Menschen inzwischen realisiert haben, was der unmittelbare Preis der Euro-Rettung ist: Minizinsen und die damit verbundene faktische Enteignung der Sparer. Auch gilt hierzulande die alte Regel nicht mehr gilt, wonach sich jede neue politische Kraft rechts von der Union durch eine konzertierte politisch-publizistische Aktion kurz über lang in die Nazi-Ecke stellen lässt, was ihren politischen Exitus bedeutet.
Das Gespenst des Rechtspopulismus droht eine der größten Errungenschaften der Nachkriegszeit zu gefährden oder gar zu zerstören – das vereinte, friedliche Europa. Dass auch Deutschland von dieser Entwicklung erfasst worden ist, ist kein Zufall. Die AfD ist nämlich nicht vom Himmel gefallen. Sie ist auch das Produkt einer politischen Entwicklung, in der fast alle Parteien in die Mitte drängen. Nur dass sich das Koordinaten-System verschoben hat. Was früher als „links von der Mitte“ galt, nennt sich jetzt „Mitte“. Und rechts davon ist plötzlich Platz – gefährlich viel Platz.


Veröffentlicht in „Bayernkurier“, Nr. 05/2016 (Juni)

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