Die Auferstehung von Notre Dame in Paris

vor exakt fünf Jahren brannte der Dachstuhl von Notre dame

April 2019, die Karwoche hat begonnen. Notre Dame de Paris – über Nacht schwer geschlagen. Ein entsetzlicher Brand, der gewaltige Dachstuhl zerstört. Nur mit letzter Not konnte damals, vor exakt fünf Jahren, ein Ausbrennen der Türme verhindert werden. Mit Bangen verfolgten Millionen, wie die Mehrzahl der Gewölbe des Hauptschiffs der immensen Glut knapp standhielten. Die Häuser auf der Ile de la Cité scharten sich, so schien es, an diesem schweren Tag noch enger um die Mutter der Stadt, um die Kathedrale, deren Vorgängerbauten bis in spätrömische Zeit hinabreichen.

Für ihre Dignität, für ihre Würde, für ihre ruhevolle Kraft lieben die Menschen in Paris wie in ganz Frankreich ihre Notre Dame. Ganz Europa, ja, die Welt schaut auf diese Kirche, das Symbol schlechthin für die uralte, in der Antike wie im Christentum auf Gedeih und Verderb verankerte französische Nation. Weder diejenigen, die in Notre Dame achtungsvoll eine Mutter des geistigen Europa sehen, noch diejenigen, die diese Tradition verabscheuen, versagen ihr die Achtung, die Bewunderung. Tief im Grund der Seine-Insel künden Steine, künden alte Gewölbe von 1.600 Jahren, die dieser Ort bereits gottgeweiht ist – geborgen und bewacht von Notre Dame, der ältesten Tochter Frankreichs, der Hüterin der theologisch gefassten Kraftlinie des alten Rom in Gallia Transalpina.

Und nun war sie wahrlich schwer geschlagen, fast schien sie gänzlich verloren in der Nacht vom 15. auf den 16. April, diese Mutter Europas. Ihr Dachstuhl aus rund 1.300 ganzen Eichenstämmen, die teils noch im 12. Jahrhundert behauen worden waren, stand seit dem 13. Jahrhundert, stand über alle Kriege und Revolutionen hinweg unzerstört – im April 2019 ging er zur Gänze in Flammen auf. Ein unwiederbringlicher Verlust. Menschen in Paris und auf dem ganzen Kontinent beteten ein Vaterunser nach dem anderen für Rettung der Westtürme – auch der Autor dieser Zeilen. Als der erste Morgen der Karwoche 2019 anbrach, stand Notre Dame noch. Von Osten, mit dem Licht, gemahnte der Mauerkranz ihres Chorhauptes, des Dachstuhls beraubt, an die Dornenkrone Christi, die darunter, im Kirchenschatz, als heiligste Reliquie bewahrt wird.

 

Die Struktur des heiligen Raumes gerettet

Am Morgen nach dem Brand war es endlich klar: Die meisten Gewölbe des Hauptschiffs, des Chors und des Transepts haben gehalten. Sie mussten gründlich untersucht und gesichert werden, denn Steine glühen durch solch eine enorme Hitze, wie sie der Brand mit sich brachte, aus. Sie werden dann porös, werden instabil. Zudem waren alle Gewölbe mit Wasser vollgesogen, was ihr Gewicht um ein mehrfaches ansteigen ließ. Wichtiger noch ist, dass die Kreuzrippen sowie die Dienste und Kapitelle, auf denen sie ruhen, ihre volle Funktionalität haben, denn sie sind neben den Säulen das Gerüst, das die diaphanen Wände als Gitterstruktur das gesamte Gebäude stabil hält. Zwar brach das Vierungsgewölbe ein, und die Bilder, die noch in der Brandnacht im Kircheninneren gemacht werden konnten, zeigen die riesige, klaffende Wunde, die Notre Dame gerade hier erhielt. Glühende Balken und verflüssigtes Blei stürzten damals vom Dach und zerschmetterten den Marmorboden in der Vierung. Doch der ganz überwiegende Teil der kreuzrippengewölbten Joche des Kirchenraumes blieb letztlich erhalten, weswegen die Wände auch nicht nach innen stürzten, was andernfalls zu befürchten gewesen wäre.

Über 600 Millionen Euro standen bereits wenige Stunden, nachdem die letzten Flemmen gelöscht wurden, für den Wiederaufbau bereit. Die Pariser Bürgermeisterin Anne Hidalgo, sonst wahrlich nicht als Freundin der Mutter Kirche bekannte, sagte, die Metropole werde sich mit 50 Millionen Euro am Wiederaufbau beteiligen. Die Region Ile-de-France kündigte zehn Millionen Euro an. Die beiden größten Luxusgüterkonzerne Frankreichs, LVMH und Kering, verpflichteten sich: Die Familie Pinault, die bei Kering für Marken wie Gucci und Saint Laurent steht, gab 100 Millionen Euro. François-Henri Pinault erklärte noch in der Brandnacht, diese Tragödie treffe alle Franzosen, und in solch einer Situation wolle jeder mithelfen, „schnellstmöglich diesem Juwel unseres nationalen Kulturerbes wieder Leben einzuhauchen“. Am Tag nach dem Verlöschen des Feuers versprach dann LVMH, für die Moët Hennessy und Louis Vuitton bekannt, man werde 200 Millionen Euro für den Wiederaufbaufonds geben. Die Besitzerfamilie Arnault ließ verlauten, sie wolle „nach dieser nationalen Tragödie ihre Solidarität zeigen“. Notre-Dame sei ein Symbol Frankreichs, seines kulturellen Erbes und seiner Einigkeit.

In fünf Jahren sollte der Wiederaufbau geschafft sein, etwas über fünfeinhalb Jahr dürften es offiziell werden. Präsident Emmanuel Macron hatte dies noch in der Brandnacht zu seinem persönlichen Projekt erklärt. Wenn 2024 die Augen der Welt auf Paris gerichtet sein werden, weil die Olympischen Spiele in Paris stattfinden, hätten in Notre Dame wieder Gottesdienste stattfinden sollen – ganz gelang dies nicht. Aber am 8. Dezember 2024, dem „Hochfest der ohne Erbsünde empfangenen Jungfrau und Gottesmutter Maria“, soll mit einer feierlichen Messe die Wiedereröffnung stattfinden.

 

Hunderte Kirchen erleiden Martyrium

Notre Dame erlitt, als wenn sie es stellvertretend für alle Kirchen in Frankreich getan täte, in der Karwoche 2019 ihr Martyrium; noch nie stand sie zuvor in Flammen. Doch viele andere Kirchen in Frankreich erleben immer wieder Zerstörung und Schändung. Im März 2019 traf es die zweitgrößte Kirche in Paris, S. Sulpice, deren große Tür angezündet wurde, wodurch auch eine Fensterrose und sehr wertvolle Fresken stark beschädigt wurden. Ein Zusammenhang zum Brand von Notre Dame wurde nie hergestellt. Bis zum Erweis des Gegenteils ist damit davon auszugehen, daß es keinen solchen Bezug gab. Der Verstand möchte glauben, daß es auch wirklich so ist. Vera Lengsfeld weist indessen darauf hin, dass im Jahre 2017 allein in Frankreich 878 Kirchen, die Töchter der Kathedralen, Opfer von Attacken und Beschädigungen wurden. Allein in den Silvesternächten 2015 und 2016 wurden in ganz Europa hunderte von Kirchen geschändet – die meisten davon übrigens in Deutschland. So wünscht sich auch der Autor dieser Zeilen die Sicherheit, wirklich glauben zu können, dass es wirklich nur ein Funken aus einem Schweißgerät oder eine achtlos weggeworfene Zigarette eines Bauarbeiters war, der die älteste Tochter Frankreichs, der die Seele Europas so schwer verletzte.

Notre Dame in Paris steht in diesen Tagen in all ihrer Schönheit auf. Einige Gewölbe, viele Teile des Tragwerks, vor allem aber die Balken des Dachstuhls – sie sind neu gestaltet nach altem Vorbild. Sie werden in das bestehende Heiligtum hineingebaut, werden damit selbst zu integralen Teilen dieses Heiligtums. Die Berührung mit dem Ort, mit den schon dort verbauten Steinen wird sie heiligen. Notre Dame steht noch. Seit dem 15. April 2019 ist sie mit dem Feuer gekrönt, so wie das Haupt Jesu Christi mit der Dornenkrone. Schmerzhaft, aber das Osterfest sicher erwartend. Sehr viel drückt eine Quintessenz aus, die Vera Lengsfeld unter dem unmittelbaren Eindruck des Brandes 2019 formulierte: „Europa entstand, als es sich um 1000 ein weißes Kleid an Kathedralen zulegte. Es wird untergehen, wenn es seine Kathedralen, die symbolisch für sein christliches Erbe stehen, nicht schützt.“

Über Sebastian Sigler 105 Artikel
Der Journalist Dr. Sebastian Sigler studierte Geschichte, Literaturwissenschaft und Kunstgeschichte in Bielefeld, München und Köln. Seit seiner Zeit als Student arbeitet er journalistisch; einige wichtige Stationen sind das ZDF, „Report aus München“ (ARD) sowie Sat.1, ARD aktuell und „Die Welt“. Für „Cicero“, „Focus“ und „Focus Money“ war er als Autor tätig. Er hat mehrere Bücher zu historischen Themen vorgelegt, zuletzt eine Reihe von Studien zum Widerstand im Dritten Reich.