„Parsifal“ – das Münchner Wald-Weh-Weihe-Wunder

Nach der „Parsifal“-Vorstellung am 10. 4. 24 im Münchner Nationaltheater: Ensemble und Staatsopernchor – Bühne: Georg Baselitz – beim Empfang des Schlussapplauses. Foto: Hans Gärtner

Es musste ja noch einmal so weit kommen mit dir. Du bist verwundet. Du ächzt und stöhnst. Du blutest. Wieder. Kirill Petrenko hatte dich am 1. Juli 2018 weit über die Schmerzgrenze hinaus geführt. Du wusstest, warst vorgewarnt. Seit der einstige Münchner GMD sich mit Richard Wagner beschäftigte, nein: in seine Drogenmusik hineinsteigerte – mit dem „Ring“, dem „Tannhäuser“, den „Meistersingern“ an seinem Haus und mit seinem zu höchstgradigen Leistungen gebrachten Bayerischen Staatsorchester, ist es nur die letzte Konsequenz, dass er dich damals mit dem „Parsifal“ versehrte. Du kamst aus der 2. Vorstellung der Opernfestspiel-Neuproduktion. Du hast die Premiere auf BR Klassik hörend verfolgt und warst gepackt, so wie noch nie zuvor von einem „Parsifal“. Du runzeltest die Stirn, als du vom Ausstatter erfuhrst, dass er dir – wieder – vorenthält, was denn der Gral eigentlich ist.

Und nun bist du erneut verwundet und noch einmal mehr verwirrt. Sahst, was das elfköpfige Produktions-Team (Inszenierung: Pierre Audi) für diese Novität ersann und knapp vor der Premiere für eine endgültige Realisierung veränderte, abzulesen allein schon an den ganz anderen (irgendwie mehr einleuchtenden) Kostümen (Florence von Gerkan) als die Fotos im Begleitbuch zeigen. Es strotzt nur so vor Großmaler-Skizzen. Allesamt kopfschüttelnd betrachtet, weil nicht die Bohne typisierend für die ganz unterschiedlichen Charaktere. Diesen Skizzen entspricht das kaum erträgliche Bühnenbild mit endlich auch auf den Kopf gestellten Horror-Bildern, das der damals 80-jährige Georg Baselitz, der berühmte, das Religiöse im „Parsifal“ achtlos beiseite schiebend, verantwortet: finsterster Grusel-Tann, in sich zusammensinkende, grässliche Tentakel-Fichten, die, wie im 2. Aufzug Klingsors als solche nicht erkennbare Burg, paralysieren.

Wären da nicht, so schriebst du damals weiter, Sängerpersönlichkeiten von überragender Valenz, du hättest besser weggeguckt. Aber fünf Stunden lang? Gut, dass du durchhieltst. Und nun ein zweites Mal nach sechs Jahren. Auch wenn Petrenkos würdiger Nachfolger am Pult, Constantin Trinks, dich mit seinem Hang zu Getragenheit und Langsamkeit schon im Vorspiel nervte, schaffte er es, Petrenko gleich, plastisch gehörte Farben in Baselitz` schwarze Wüstenei zu bringen. Wie doch der Karfreitagszauber so büßerisch-lila glühte! Und wie ganz am Schluss des 3. Aufzugs sich szenisch doch noch das damals schon als Wunder beschriebene ereignet, das dich optisch  u n d  musikalisch aufrüttelte: die Sterbeszene des Amfortas, zu der sich die wuchtigen Mannen seiner (noch immer völlig unsichtbar gebliebenen) Gralsburg aus einer breiten und tiefen Versenkung bis zu Titurels Leichenaufschüttung rund um den Souffleurkasten kriechend begeben. Nicht vergessen, im Gegenteil: noch abscheulicher empfunden: ihre pseudo-nackt (und warum zwiegeschlechtlich?)  entgegengenommene Kommunion, ähnlich den bildhässlichen so genannten Blumenmädchen!

Der superben sängerischen Besetzung allein wegen – inklusive des choralhaft und vollrund tönenden Staatsopernchors – lohnte auch diesmal allein das Durchhalten in diesem Münchner „Parsifal“: Julia Roberts, eine wunderbare Kundry, schön und mädchenhaft, verführerisch, grandios in ihrer reinen, warmen, mühelos in die Höhen ihres schuldhaften Verlachens gelangend, Clay Hilley als figürlich zum Wegschauen verleitender, gesanglich aber berührender tumber Tor und Erlöser, Georg Zeppenfeld als unvergleichlich überzeugendster aller Gurnemanze dieser Welt, Jochen Schmeckenbecher als (wie schon Kollege Wolfgang Koch) total überdrehte Dickwanst-Klingsor-Karikatur, nicht zuletzt Edel-Bariton Christian Gerhaher als schwer leidender, jede Nuance seines in den letzten sechs Jahren noch stärker reflektiert gesungenen Textes anders herausarbeitender Amfortas.

Du verließest, wieder schwer getroffen vom dich durchbohrenden Speer in Richard Wagners Wald-Weh-Weihe-Wunder, von Pierre Audis und Georg Baselitz` Leichenschau und Grabfinsternis ohne je einen (doch zweimal so deutlich besungenen) Morgen-Schimmer, stets nur tiefe Nacht auf der Bühne erlebt, das Münchner Nationaltheater in Richtung Marstallplatz. Schau an! Da lachte dich zur guten Nacht auf einer Foto-Tafel Amfortas an, nein: Christian Gerhaher. Als Papageno. 2011 sang er Mozarts Zauberflöten-Wurschtl hier am Haus. Hintergründig. Erheiternd. Der Gedanke daran: Balsam für den nach Hause strebenden wieder Verwundeten.

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Prof. Dr. Hans Gärtner, Heimat I: Böhmen (Reichenberg, 1939), Heimat II: Brandenburg (nach Vertreibung, `45 – `48), Heimat III: Südostbayern (nach Flucht, seit `48), Abi in Freising, Studium I (Lehrer, 5 J. Schuldienst), Wiss. Ass. (PH München), Studium II (Päd., Psych., Theo., German., LMU, Dr. phil. `70), PH-Dozent, Univ.-Prof. (seit `80) für Grundschul-Päd., Lehrstuhl Kath. Univ. Eichstätt (bis `97). Publikationen: Schul- u. Fachbücher (Leseerziehung), Kulturgeschichtliche Monographien, Essays, Kindertexte, Feuilletons.