Hamas – Islamisierung, Macht und Dschihad

Gaza, Streifen, Palästina, Quelle: hosnysalah, Pixabay License Freie kommerzielle Nutzung Kein Bildnachweis nötig

Dreißig Jahre nach ihrer Gründung übernahm die Hamas 2007 im Gazastreifen die Macht. Nach 16 weiteren Jahren der Vorbereitung eskalierte sie ihre Angriffe auf Israel. Ihre langfristige Strategie wurzelt nicht nur in der Erfahrung der großen islamischen Expansion, sondern kann auch zum Vorbild ähnlicher Bewegungen werden. Von Eric Angerer.

Die Hamas wurde 1987 aus dem palästinensischen Ableger der ägyptischen Muslimbruderschaft formiert. Sie setzte die schon zuvor von ihr betriebene Islamisierung des Gazastreifens fort und kombinierte sie zunehmend mit bewaffnetem Kampf gegen Israel.

Ideologisch nahm sie Anleihen beim europäischen Antisemitismus, stützt sich vor allem aber auf die von Mohammed, dem Koran und der Erfahrung der islamischen Expansion entwickelte Tradition. Das bedeutet eine totalitäre Herrschaftsideologie, eine überhebliche Geringschätzung aller Ungläubigen und insbesondere einen Hass auf Juden und die aggressive Ausdehnung der eigenen Religion auf letztlich die ganze Welt. (1)

Intifada und Kampf gegen den Friedensprozess

Nach der Gründung der Hamas im Gazastreifen im Dezember 1987 schlossen sich ihr umgehend die Muslimbrüder im Westjordanland an. Da sie mit ihren Vereinen, ihren Paramilitärs und ihren Moscheen bereits über starke Strukturen verfügte, konnte sie in den Protesten der Intifada eine führende Rolle spielen und verzeichnete starken Zulauf. Ab Herbst 1988 verhaftete die israelische Armee Hamas-Führungsmitglieder, lies aber Scheich Yasin unangetastet.

Als die PLO begann, über Friedensverhandlungen mit Israel nachzudenken, betonte die Hamas, dass es mit den Juden niemals Frieden geben könne. Eine Anerkennung Israels käme dem Verbrechen der Apostasie gleich, also einem Abfall vom Glauben, der im Islam ja immerhin mit der Todesstrafe belegt ist. Die Hamas überzog den Gazastreifen mit ihren Parolen, die in grüner Farben auf die Häuser geschrieben wurden, Gewaltaufrufe und das islamische Glaubensbekenntnis auf der Palästinaflagge. Sie bekam Spenden aus Jordanien, Kuwait und anderen Ländern.

Sie baute ihren militärischen Arm aus, aus dem schließlich die Qassambrigaden hervorgingen. Diese Paramilitärs ermordeten angebliche Kollaborateure, verübten Anschläge auf israelische Militärpatrouillen und Brandanschläge auf die israelische Landwirtschaft. Als im Februar und Mai 1989 zwei israelische Soldaten getötet wurden, nahm Israel über 250 Hamaskämpfer und Yasin selbst fest – er wurde wegen der Anstiftung zu Morden an „Kollaborateuren“ zu lebenslanger Haft verurteilt. Die Hamas trennte in der Folge die politische und militärische Organisation (2)

Die Friedensinitiative des israelischen Präsidenten Jitzchak Schamir wurde von der Hamas rundweg abgelehnt, während die PLO Kurs auf eine Zweistaatenlösung nahm. Das führte ab 1990 zu Gewalt zwischen PLO und Hamas, die im Gazastreifen zu einem regelrechten Bürgerkrieg wurde. Gleichzeitig ermordeten Hamas-Aktivisten im gefeierten „Krieg der Messer“ mit Messerangriffen und mit Anschlägen israelische Zivilisten und allein 1991 20 „Kollaborateure“ im Gazastreifen.

Qassambrigadisten wurden nun im Iran, wo die Hamas im Herbst 1991 ein Büro eröffnete, ausgebildet. Ab 1992 wurden die Hamaskämpfer auch in Syrien trainiert, von der säkularen „Volksfront zur Befreiung Palästinas“ (PFLP). Mit dem militärischen Knowhow der PFLP begann die Hamas nun auch mit dem Bau von Autobomben für Anschläge in israelischen Städten. Israelische Zivilisten waren nun das Hauptziel des Hamas-Terrors. 1993 wurden die Anschläge intensiviert und 59 Israelis ermordet, um den Oslo-Friedensprozess zu torpedieren und die israelische Öffentlichkeit gegen ein Abkommen aufzubringen. (3)

Hamas und PLO

Die Hamas bekämpfe ab 1994 auch die neue Palästinensische Autonomiebehörde (PNA). Es kam zu Schießereien. PNA-Chef Arafat reagierte halbherzig. Die Hamas-Anschläge wurden zuerst toleriert, dann Hamas-Mitglieder verhaftet, doch wieder freigelassen, die Qassambrigaden nicht entwaffnet. Weitere blutige Hamas-Anschläge in Israel stärkten dort die rechte Opposition und die Skepsis gegenüber dem Friedensprozess. In der Folge gewann 1996 Benjamin Netanjahu mit dem Slogan „Sicherheit vor Frieden“ die Wahlen. Er setzte den Friedensprozess aus, was die Hamas als Sieg verbuchte.

Davon ermutigt intensivierte die Hamas ihre Anschläge auf israelische Zivilisten. Als Israel im Tausch für zwei gefangene Mossad-Agenten Yasin freiließ, feierte die Hamas das als großen Triumph. Als im Herbst 1997 Attentatsversuche der Hamas auf Arafat bekannt wurden, nahm die PNA Yasin fest – aber erneut nur vorübergehend. 1999 wurden etwa 2.000 Hamas-Kämpfer von den PNA inhaftiert, bei Massenprotesten dagegen kam es erneut zu innerpalästinensischen Schusswechseln. Und Ende des Jahres flog Jordanien etliche Hamas-Führer nach Katar, um sie loszuwerden. (4)

Im Juli 2000 scheiterten die Verhandlungen von Camp David II. Daraufhin lieferten sich Hamas und PLO/Fatah bis 2002 einen regelrechten Wettlauf an Selbstmordanschlägen in Israel, vor allem auf Linienbusse. Ab 2003 führte die Hamas dann auch Raketenangriffe durch, auf die Israel mit verstärkten Angriffe und auch gezielten Tötungen von Hamas-Funktionären antwortete. Der Roadmap-Dreistufenplan beinhaltete dann einen Gewaltverzicht, den die PNA aber nicht gegen die Hamas und den Islamischen Dschihad durchsetzen konnte, weshalb Israel mit den gezielten Tötungen fortfuhr.

Von 2000 bis 2004 registrierte Israel 425 Terrorangriffe der Hamas, bei denen 377 Israelis ermordet und 2076 verletzt wurden – hauptsächlich Zivilisten bei Bushaltestellen, Einkaufspassagen, Tiefgaragen, Restaurants und Hochhäusern. Yasin machte jede Waffenruhe von Maximalforderungen abhängig: Räumung aller besetzten Gebiete und aller jüdischen Siedlungen, Rückkehrrecht aller Flüchtlinge von 1948. Und selbst dann würde die Hamas nur eine zehnjährige Kampfpause zugestehen – wohl um dann, von einer gestärkten Position aus, den Kampf zur Vernichtung des jüdischen Staates neu aufzunehmen. Nach einem neuerlichen Selbstmordanschlag im März 2004 tötete die israelische Armee Yasin und bald darauf seinen Nachfolger Abd al-Aziz ar-Rantisi. (5)

Wahlsieg der Hamas

Nachdem Arafat im November 2004 verstorben war, übernahm Mahmud Abbas die Führung von PLO und PNA. Abbas stellte sich nicht nur in die Tradition seines Vorgängers, sondern auch dessen berüchtigten Mentors, des Nazi-Bewunderers Amin Al-Husseini, den er in einer Videoansprache zum 48. Jahrestag der Gründung der Fatah als „großen Mann“ bezeichnete, der den Palästinensern als Vorbild dienen solle. (6)

Bei den Kommunalwahlen im Winter 2004/05 gewann die Hamas elf von 26 Wahlkreisen im Westjordanland und sieben von zehn im Gazastreifen, konnte sich mit Abbas aber nicht auf eine Vertretung in der PLO einigen. Den von Ariel Scharon einseitig erklärten Abzug der israelische Armee aus dem Gazastreifen im August 2005 und die Zwangsräumung der dortigen jüdischen Siedlungen feierte die Hamas als ihren Sieg und ließ ihre Brigaden in Gaza aufmarschieren. Im Wahlkampf für die Nationalratswahl im Januar 2006 schloss die Hamas Verhandlungen mit Israel strikt aus und siegte mit 74 Sitzen gegenüber 45 für die Fatah.

Abbas wollte zwar die Befehlsgewalt über die PNA-Einheiten keineswegs abgeben, beauftragte aber Hamas-Führer Ismail Haniyya mit der Regierungsbildung. Israel verlangte von diesem, er müsse wie vereinbart die Hamas-Paramilitärs entwaffnen und die Aufrufe zur Vernichtung Israels aus der Charta streichen. Die Hamas lehnte ab, woraufhin Israel, die USA, die EU und die Arabische Liga die PNA boykottierten.

Mit der Führung der PNA in der Hand richtete die Hamas einen eigenen Satellitensender ein, Al-Aqsa-TV, rüstete nun alle militanten Gruppen massiv auf. Darin attackierte sie die Fatah als korrupt und Instrument der USA, propagierte verstärkte Angriffe auf Israel und feierte etwa einen Selbstmordanschlag einer vierzigfachen Großmutter im November 2006. Während die nun Hamas-geführte PNA-Polizei den Fatah-Kräften keine Gehälter mehr auszahlten, verstärkte Abbas seine Präsidentengarde und es kam seit April 2006 zu ständigen Feuergefechten zwischen beiden Gruppen, bei denen bis Januar 2007 mehr als 60 Personen starben. Erst im Februar 2007 einigte man sich auf eine Einheitsregierung und die Aufnahme der Hamas in die PLO, die Hamas erhielt zwölf von 25 Ministerposten. (7)

Die Herrschaft der Hamas

Die Einheitsregierung konnte sich allerdings nicht auf eine Anerkennung Israels und einen Gewaltverzicht einigen. Die Hamas verweigerte die Zusammenarbeit mit Muhammad Dahlan, dem Sicherheitschef der PNA, und führte ab Mai 2007 nahezu täglich bewaffnete Überfälle auf die PNA-Polizei in Gaza durch – und folterte und tötete Fatah-Funktionäre. Der Hamas-Putsch begann dann am 12. Juni 2007 mit gleichzeitigen und erfolgreichen Angriffen auf alle Fatah-Einrichtungen im Gazastreifen. Gefangene Gegner wurden im Hamas-TV live gedemütigt, gefoltert und hingerichtet, insgesamt 90 Menschen getötet.

Daraufhin löste Präsident Abbas die Einheitsregierung auf, setzte Ministerpräsident Haniyya ab, rief den Notstand aus und ließ die Hamas-Kämpfer im Westjordanland festnehmen. Beiden Bürgerkriegsparteien wurden Kriegsverbrechen wie das Erschießen von Zivilisten, die Hinrichtung von Gefangenen und die Verwendung von Ambulanzfahrzeugen für Kampfeinsätze vorgeworfen. Schlussendlich herrschte von nun an die Hamas im Gazastreifen, die Fatah/PLO im Westjordanland. (8)

Die Hamas blockierte im Gazastreifen nun auch jegliche palästinensischen Medien, die nicht unter ihrer Kontrolle standen, um die Islamisierung der Gesellschaft abzuschließen. Der Terror im öffentlichen Raum, der bisher von den „Sittenwächtern“ durchgeführt worden war, wurde nun von der Polizei übernommen. Noch schärfer als schon bisher wurden nun unter anderem Geschlechtertrennung, strikte Alkoholverbote, Kopftuchpflicht für Frauen im öffentlichen Raum durchgesetzt. Häftlinge wurden religiös umerzogen und erhielten Haftverkürzungen, wenn sie aus dem Koran auswendig zitieren konnten.

Die staatliche Verwaltung, Schulen und Polizei wurden immer mehr mit den politischen, religiösen und sozialen Strukturen der Hamas verwoben. Ein Teil der Errichtung eines totalitären Gottesstaates war der schrittweise Aufbau eines islamischen Rechtssystems. Systematische Bombenanschläge auf Cafés und Spielhallen wurden von der Polizei nicht wirklich verfolgt. Ein propagierter Sittenkatalog verpönte öffentliches Rauchen, Kaugummikauen, Internetcafés, das Flanieren von unverheirateten Paaren und „unzüchtige“ Kleidung am Strand und sogar bei Schaufensterpuppen als unislamisch und verwerflich. Das Tragen von Hosen sei bei Mädchen „satanisch“, der Hidschab biete Schutz vor dem verderblichen Einfluss des Westens. (9)

Der Dschihad gegen Israel wurde als „heilige Pflicht“ propagiert. Gerechtfertigt wurden damit sowohl die militärisch sinnlosen systematischen Raketenangriffe auf israelische Städte, die einfach nur Juden töten sollen, als auch die palästinensischen Opfer der israelischen Gegenschläge. Diese einkalkulierten eigenen Menschenverluste wurden dann freilich für die westliche Öffentlichkeit als „zionistischer Holocaust“ angeprangert. (10)

Verhetzte Kinder und UNRWA

Schon in den Kindergärten begann die Verherrlichung des „bewaffneten Widerstands“ und des Märtyrertums. Auch die Frauen im Gazastreifen spielten für den islamischen Extremismus eine zentrale Rolle. Als Mütter, Erzieherinnen und Lehrerinnen ziehen sie die nächste Generation von Hamas-Anhängern auf und vermitteln ihnen das ideologische Rüstzeug. Dementsprechend gibt es zahllose Fotos von Volksschuljungen, die stolz als Hamas-Kämpfer kostümiert posieren. Bereits in den Kindergärten bereiten „Pädagoginnen“ Vierjährige auf das „Märtyrertum“ – als höchste Form des Kampfes gegen Israel – vor. (11)

Suha Arraf, eine palästinensische Feministin mit israelischem Pass, hat 2012 für eine sehenswerte Doku vier Frauen der Hamas in ihrem Alltag begleitet und es geschafft, die Mentalität und Ideologie dieser Frauen einzufangen. Huda al-Abud, damals 56 Jahre alt, sagte ihr: „Der einzige Grund, warum wir Kinder in die Welt setzen, ist, um sie Gott und dem Kampf preiszugeben.“ Von ihren zehn Kindern blieben ihr bis 2012 nur fünf. Zwei starben als Selbstmordattentäter, drei wurden getötet, als israelische Hubschrauber Jagd auf Terroristen machten.

Huda al-Abud ist stolz darauf. Sie erzählt über die Beerdigung ihres Sohnes: „Leute kamen aus dem ganzen Gazastreifen, um daran teilzunehmen. Heute nennen sie mich ‚Umm als Shahidim‘, die Mutter der Märtyrer. Andere Frauen beneiden mich und möchten auch so stark sein.“ Ihre Stärke vermittelte sie anderen Müttern. Sie hielt Vorträge in einer Moschee und zeigte immer wieder das Video, das am Morgen jenes Tages gedreht wurde, an dem ihr Sohn in den Tod ging und sie davor umarmte. (12)

Der internationale Boykott des Hamas-Regimes und die Blockade des Gazastreifens stärkten wiederum die Abhängigkeit der Bevölkerung von den Hilfsangeboten der Hamas. Der Gaza-Streifen erhielt Milliardenhilfe der EU, von den USA, von Katar und anderen. Sie läuft über die United Nations Relief and Works Agency (UNRWA). Diese größte aller UN-Strukturen beschäftigt 30.000 Menschen, davon etwa 12.000 im Gazastreifen. 99 Prozent der UNRWA-Mitarbeiter sind ortsansässige Palästinenser. Statt mit den internationalen Finanzmitteln die Infrastruktur und die Wirtschaft aufzubauen, hat die Hamas, im Wesentlichen über die UNRWA, ein karitatives Abhängigkeitssystem perfektioniert und Milliarden für Tunnelsysteme und Bewaffnung ausgegeben.

Dass UNRWA-Mitarbeiter an dem Massaker am 7. Oktober beteiligt waren, konnte nur naive oder uninformierte Menschen überraschen. Das totalitäre System der Hamas kontrolliert im Gazastreifen seit 2007 buchstäblich alles – jeden Verein, jede Behörde, jede Institution. Und das galt und gilt auch für die UNRWA, deren vergleichsweise gute Jobs fast ausschließlich an Hamas-Parteigänger vergeben wurden. Dementsprechend stimmten bei einer Art Betriebsratswahl vor einigen Jahren 95 Prozent der UNRWA-Mitarbeiter für die Hamas. UNRWA ist im Gazastreifen von der Hamas beherrscht, ihre Funktionäre haben auch vor Jahren schon mal Hitler gefeiert oder zur Ermordung von Juden aufgerufen. In den UNRWA-Schulen wurde mehr oder weniger die Hamas-Ideologie verbreitet. Die unmittelbare Beteiligung an Morden ist da nur die Spitze des Eisberges. (13)

Pragmatismus oder Dschihad?

Von 2007 bis 2023, also über 16 Jahre, war die Lage im Gazastreifen weitgehend gleichbleibend. Der religiöse Totalitarismus der Hamas und die UNRWA sorgten für eine abhängige Grundversorgung und für eine Bevölkerungsexplosion von 1,4 auf 2,1 Millionen. (14) Gleichzeitig wurden die Bewohner das Gazastreifen systematisch indoktriniert und ideologisch und militärisch auf die Konfrontation mit Israel vorbereitet.

Raketenbeschuss auf Israel und die Ermordung von jüdischen Zivilisten waren ohnehin ständig an der Tagesordnung. Schon bis 2008 waren es mehrere tausend Qassam- und Katjuscha-Raketen, die aus dem Gazastreifen auf Israel niedergingen, die erst durch Israels Gegenschlag, der „Operation Gegossenen Blei“, einigermaßen reduziert wurden. Einen Vorgeschmack auf eine größere Eskalation lieferte dann die Jahre 2014 und 2021, als die Hamas und ihr Verbündeter, der Islamische Dschihad, 3.000 beziehungsweise 4.300 Raketen auf israelische Städte abfeuerten. Ohne Israels Luftabwehrsystem „Iron Dome“ wären die Folge wohl hunderttausende tote israelische Zivilisten gewesen.

Gelegentliche Angebote der Hamas zu einer Waffenruhe wurden von westlichen Politikern, etwa US-Präsident Barack Obama, wiederholt als Pragmatismus oder Kompromissbereitschaft missverstanden. Tatsächlich handelte es sich dabei lediglich um taktische Flexibilität – immer dann, wenn der militärische Druck Israels groß war. (15) Sie steht dabei ganz in der Tradition des Korans, der im Kampf gegen die Ungläubigen nur eine vorübergehende Waffenruhe („Hudna“) vorsieht, einen dauerhaften Frieden aber ausschließt.

Ein weiteres Unverständnis westlicher Politiker und Journalisten besteht im Glauben, die Hamas-Attacken würden sich nur gegen die israelische Blockade richten. Tatsächlich ging und geht es der Hamas immer um die Zerstörung des jüdischen Staates. Das steht in ihrer Charta und das hat sie in zahlreichen Erklärungen und ihrer Praxis deutlich gemacht.

Die endgültige Eskalation brachte der 7. Oktober 2023. Nach 1.100 Raketen im August 2022 und 1.470 im Mai 2023 flogen am Tag des großen Hamas-Angriffs innerhalb weniger Stunden etwa 3.000 Raketen aus dem Gazastreifen auf Israel – und in der Folge bis Ende Januar 2024 insgesamt 14.000. Dazu kam der großangelegte Überfall auf südisraelische Dörfer, an dem etwa 2.500 Hamas-Kämpfer und vermutlich 1.000 palästinensische Zivilisten beteiligt waren und bei dem etwa 1.200 Juden bestialisch ermordet und 240 verschleppt wurden. (16)

Annäherung zwischen Israelis und Saudis torpedieren

Über die Motive nahm sich die Hamas kein Blatt vor den Mund. Hamas-Führungsmitglied Chalil al-Haja sagte der New York Times in Doha, es sei notwendig gewesen, „die gesamte Gleichung zu ändern und nicht nur einen Zusammenstoß zu haben“. Mit dem Angriff am 7. Oktober sei es „uns gelungen, die Palästinenserfrage wieder auf den Tisch zu bringen, und jetzt kommt niemand mehr in der Region zur Ruhe.“ Die vielen Opfer auf palästinensischer Seite durch die Reaktion Israels sei der notwendige Preis dafür.

„Ich hoffe, dass der Kriegszustand mit Israel an allen Grenzen dauerhaft wird und dass die arabische Welt auf unserer Seite steht“, zitierte die New York Times Taher al-Nunu, den die Zeitung als Medienberater der Hamas bezeichnet. „Was die Gleichung ändern könnte, war eine große Aktion, und es war zweifellos klar, dass die Reaktion auf diese große Aktion groß sein würde“.

Während die EU und die USA Milliarden Dollar an die Hamas transferiert haben, meist über die UNRWA, erklärt Chalil al-Haja ganz offen, das Ziel der Hamas sei es nicht, den Gazastreifen zu regieren und diesen etwa mit Wasser und Strom zu versorgen. Mit dem Angriff am 7. Oktober „ging es nicht darum, die Situation in Gaza zu verbessern. Diese Schlacht dient dazu, die Situation komplett umzuwerfen.“ (17)

Vor allem sollte eine weitere Annäherung zwischen Israel und Saudi-Arabien verhindert werden. Osama Hamdan, Mitglied im Politbüro der Hamas, sagte der Deutschen Presse-Agentur in Beirut, die Hamas habe mit dem Massaker „den Versuch Israels, unter dem Deckmantel der Normalisierung in die Region einzudringen und die Rechte der Palästinenser zu verletzen, vereitelt“. Mit den Abraham-Accords hatten ja schon 2020 die Vereinigten Arabischen Emirate (VAE) ihre Beziehungen mit Israel normalisiert, zuletzt waren die Saudis auf demselben Weg. Wegen des Gaza-Krieges hat Riad dann aber die Gespräche gestoppt. (18)

Erfolge der Hamas

Für die Hamas – mit Katar und der Türkei im Hintergrund – und den Islamischen Dschihad läuft ihr Plan, Israel in eine Eskalation zu zwingen und die Annäherung zwischen Teilen der arabischen Welt und dem jüdischen Staat abzuschießen, nur teilweise wie gewollt. Zufrieden sein können sie mit den großen propalästinensischen Demonstrationen in London, Paris und Berlin. Muslimische Migranten und ihre linken Sympathisanten dominierten die Straßen und machen Druck auf Politik und Medien.

Ebenfalls als Erfolg verbuchen können die Hamas und ihre Dachorganisation, die Muslimbruderschaft, die in Westeuropa viele Islamverbände beherrschaft, dass Narrative, die sie in den letzten Jahren mit Hilfe von woken Grünen und Linken und gekauften Politikern wie Eva Kaili etabliert haben, weiterhin halten. Dabei geht es erstens um den im globalistisch-liberalen Mainstream erhobenen Totschlagvorwurf der „Islamophobie“, also um angeblich unbegründete Angst vor dem Islam – ein Vorwurf, mit dem jede sachliche Kritik an der totalitären muslimischen Herrschaftsideologie als „Rassismus“ diffamiert wird. (19)

Zweitens hält auch in den allermeisten Medien die Erzählung, dass Terrorismus zwar nicht gut sei, aber doch irgendwie verständlich, dass man den „Kontext“ der Vertreibung von 700.000 Arabern im Zuge der „Nakba“ 1948 sehen müsse, die die Ursache des Konfliktes sei, dass die Aktionen der Hamas irgendwie mit Widerstand gegen Ungerechtigkeit zu tun habe. Dabei wird in nahezu allen medialen und politischen Darstellungen ausgeklammert, dass der Nakba seit den 1920er Jahren zahlreiche arabische Pogrome gegen Juden vorausgingen, dass Israel den UN-Teilungsplan akzeptiert hatte, die arabischen Staaten und palästinensische Milizen hingegen einen Krieg gegen die Juden begannen und zeitgleich arabische Staaten 900.000 Juden vertrieben (20).

Misserfolge der Hamas

Was für die Hamas, die Muslimbrüder und Katar aber nicht so gut läuft, ist die Entwicklung im muslimischen Raum selbst. In der Türkei gab es zwar gigantische, vom Regime veranstaltete propalästinensische Kundgebungen, und auch in arabischen Staaten waren Menschenmassen auf den Straßen. Aber bewaffnete Aktionen im Westjordanland waren gering und wurden von israelischen Einheiten rasch im Keim erstickt. Versuche, die arabischen Israelis aufzuhetzen, trugen keine Früchte.

Aus dem Libanon hat die schiitische, vom Iran dirigierte Hisbollah zwar wie so oft Raketen auf Israel abgeschossen, aber nicht nachdrücklich in den Krieg eingegriffen – entweder weil sie die israelische Armee fürchtet und ihre Machtstellung im Libanon nicht gefährden will oder weil sie der Iran an der Leine hält. Der Iran selbst hält sich zwar nicht rhetorisch, aber in der Praxis ziemlich zurück – möglicherweise unter dem Druck von China und Russland, die ihr in der Region gut laufendes Projekt der BRICS nicht in die Luft jagen wollen.

Und auch BRICS-Neumitglied Saudi-Arabien hat sich bislang nicht in eine Eskalation treiben lassen. Zwar wurden die Gespräche über eine Normalisierung der Beziehungen mit Israel vorerst ausgesetzt. Saudische Medien schreiben aber offen darüber, dass es sich beim Hamas-Überfall auch um einen Angriff auf die saudische Politik gehandelt habe. Und der saudische Minister Chalid al-Falih sagte kürzlich in Singapur, dass das Thema der Annäherung mit Israel „nicht vom Tisch“ sei. (21)

Bilanz der Hamas-Herrschaft

Muslimbruderschaft und Hamas haben über Jahrzehnte die Islamisierung des Gazastreifens realisiert. Sie haben das wohlüberlegt und geduldig getan, ganz in der Tradition der islamischen Expansion. Damals, ab dem 7. Jahrhundert, hatten Muslime etwa christliche Gebiete wie Nordafrika und die Levante erobert und sie in einem geschickten Prozess islamisiert. Am Anfang geschah das jeweils vorsichtig und mit allerlei Zugeständnissen an die christliche Bevölkerung. Mit dem Anstieg des muslimischen Bevölkerungsanteils – durch die Ansiedlung von Arabern, durch Druck zum Konvertieren und durch Frauenraub – wurde die Gangart immer aggressiver, bis diese Gebiete vollständig islamisch waren. Gerade einmal in Ägypten machen die christlichen Kopten noch etwa acht Prozent der Bevölkerung aus.

Einen ähnlichen Prozess betreibt die Muslimbruderschaft in Westeuropa. In vielen muslimischen Ländern findet das in ähnlicher Weise statt. Zwar sind die allermeisten Bewohner dort ohnehin bereits Islamgläubige, es haben sich aber teilweise noch säkulare und westlich-moderne Einflüsse gehalten – und diese werden schrittweise zurückgedrängt. In Ländern wie Afghanistan, dem Irak oder der Türkei ist das bereits weit fortgeschritten, die Regierungen in Syrien oder Ägypten leisten noch Widerstand. Im Gazastreifen hat die Muslimbruderschaft vorexerziert, wie ein solcher Prozess erfolgreich zu einem islamischen Gottesstaat führen kann.

Dabei ist die Lage des Gazastreifens natürlich speziell, nämlich eine Art Vorposten gegen den jüdisch-zionistischen Erzfeind nebenan. In der Auseinandersetzung mit ihm kreuzen sich mehrere Konfliktlinien: erstens ein religiös-nationaler Konflikt zwischen Juden und muslimischen Arabern, zweitens ein Kampf der Zivilisationen zwischen der westlich-säkularen Kultur und der vormodern-totalitären Ideologie des Islam und drittens ein geopolitischer Konflikt mit Interessen des US-Lagers, von Russland und China sowie regionalen Akteuren wie Iran/Syrien, Türkei/Katar und Saudiarabien/Ägypten.

In der von ihr herbeigeführten Eskalation konnte die Hamas ihre Ziele wie ausgeführt nur teilweise erreichen. Von den muslimischen Staaten war die Unterstützung zurückhaltender, als die Hamas erhofft hatte. Andererseits ist die Unterstützung der Westens für Israel, besonders wenn man den Vergleich zur Ukraine heranzieht, ausgesprochen halbherzig. Der jüdische Staat wir von Spitzenpolitikern der USA, Großbritanniens und der EU ständig kritisiert und zur Zurückhaltung aufgerufen.

Diese halbherzige Haltung des Westens hat mehrere Ursachen. Erstens haben die westlichen Staaten massive ökonomische Interessen in arabischen Ländern, die sie nicht beschädigen wollen. Zweitens ist arabisches Kapital in großem Ausmaß in Europa investiert und kann Druck auf die Politik machen. Drittens ist der politische Einfluss der Muslimbrüder über ihre Netzwerke in Europa groß und wird durch die vom westlichen Mainstream über Jahrzehnte geförderte Ideologie des islamophilen Multikulturalismus und der muslimischen Massenzuwanderung verstärkt. Und viertens haben die US-Eliten in den letzten Jahren mit der Ideologie des Globalismus ihre Unterstützung für den jüdischen Nationalstaat zunehmend in Frage gestellt.

Mit dem Überfall am 7. Oktober suchte die Hamas die Zuspitzung. Ihre weitere Zukunft wird vom Ausgang des Krieges abhängen. Entscheidend wird sein, ob es die israelische Armee schafft, die Hamas wirklich zu brechen oder ob sie letztendlich überlebt und demnächst ihr Spiel neu beginnen kann. Das ist die Kernfrage, und wer heute zu einer Einstellung der Kämpfe aufruft, fordert in Wahrheit dazu auf, dass die Hamas überlebt und an der Macht bleibt. (22)

Wenn die Hamas nicht zerstört wird, sondern ihre Strukturen einigermaßen intakt halten kann, wird das ein Sieg für sie sein, und ihr Image wird weiter wachsen. In der palästinensischen Öffentlichkeit zählt weniger, wie viel Tod und Zerstörung das Handeln der Hamas in der eigenen Bevölkerung verursacht hat, sondern ob sie es schafft, der Armee der Juden zu trotzen. Israel ist sicherlich bereit, den Weg zur Zerschlagung der Hamas bis zum Ende zu gehen. Die Frage wird sein, ob westlichen „Verbündeten“ des jüdischen Staates das zulassen, ob sie Israel siegen lassen werden.

Literatur

(1) https://www.achgut.com/artikel/gaza_krieg_was_ist_was_wird_2

(2) Joseph Croitoru: Hamas. Auf dem Weg zum palästinensischen Gottesstaat. Beck, München 2010

(3) Joseph Croitoru: Hamas. Auf dem Weg zum palästinensischen Gottesstaat. Beck, München 2010

(4) Joseph Croitoru: Hamas. Auf dem Weg zum palästinensischen Gottesstaat. Beck, München 2010

(5) Joseph Croitoru: Hamas. Auf dem Weg zum palästinensischen Gottesstaat. Beck, München 2010

(6) https://www.achgut.com/artikel/gaza_krieg_was_ist_was_wird_2

(7) Joseph Croitoru: Hamas. Auf dem Weg zum palästinensischen Gottesstaat. Beck, München 2010

(8) Joseph Croitoru: Hamas. Auf dem Weg zum palästinensischen Gottesstaat. Beck, München 2010 und https://www.hrw.org/news/2007/06/12/gaza-armed-palestinian-groups-commit-grave-crimes

(9) Joseph Croitoru: Hamas. Auf dem Weg zum palästinensischen Gottesstaat. Beck, München 2010

(10) Joseph Croitoru: Hamas. Auf dem Weg zum palästinensischen Gottesstaat. Beck, München 2010

(11) https://www.achgut.com/artikel/gaza_krieg_eine_analyse_1_was_ist_was_wird_1

(12) https://programm.ard.de/TV/phoenix/soldatinnen-gottes/eid_287258034436944

(13) https://www.manova.news/artikel/umkampftes-israel-2, siehe auch: https://news.sky.com/story/israeli-intelligence-report-claims-four-unrwa-staff-in-gaza-involved-in-hamas-kidnappings-13059967

(14) https://de.statista.com/statistik/daten/studie/1417982/umfrage/gesamtbevoelkerung-im-gazastreifen/

(15) Zaki Shalom: Israel, the United States, and the War Against Hamas, July-August 2014. Liverpool University Press, Liverpool 2019

(16) https://de.statista.com/statistik/daten/studie/1417369/umfrage/raketenangriffe-auf-israel-im-nahostkonflikt/ und https://orf.at/stories/3339050/

(17) https://www.zeit.de/news/2023-11/08/bericht-hamas-sucht-permanenten-kriegszustand-mit-israel

(18) https://www.achgut.com/artikel/gaza_krieg_eine_analyse_1_was_ist_was_wird_1

(19) https://www.achgut.com/artikel/gaza_krieg_was_ist_was_wird_4

(20) https://www.manova.news/artikel/umkampftes-israel-2

(21) https://www.achgut.com/artikel/gaza_krieg_was_ist_was_wird_4

(22) https://www.achgut.com/artikel/gaza_krieg_was_ist_was_wird_4

 

Über Eric Angerer 3 Artikel
Eric Angerer, Jahrgang 1974, ist Historiker, Sportlehrer und freier Journalist. Der begeisterte Alpinist war zuletzt in der Bewegung gegen das Corona-Regime aktiv.