Süßes aus Syrien – Was ist los, auf der angeblich „gefährlichsten Straße“ Deutschlands?

Eisenbahnstrasse 20 in Leipzig, einst Gründerzeithaus, heute Laden und Treffpunkt für Menschen aus vielen Kulturen, Foto: Benedikt Vallendar

Im Herbst 2015 aus seiner Heimat geflohen, betreibt Khaled Kaznadar heute in Leipzig sein eigenes Geschäft – auf Deutschlands angeblich „gefährlichster Straße“. Von Benedikt Vallendar.

„Wir bieten vor allem arabische Lebensmittel an, doch gilt das nicht für unsere Kundschaft“, sagt Khaled Kaznadar mit einem freundlichen Lächeln, während er durch seinen Laden in der Leipziger Eisenbahnstraße 20 führt. Und die gerade neu angelieferte Ware inspiziert, Frischobst und Süßwaren aus Algerien, dem Libanon und Jordanien, pünktlich zum muslimischen Zuckerfest, das neuerdings auch vermehrt an deutschen Schulen gefeiert wird, oft ohne dessen religiöse Bedeutung zu verstehen. Wenige Tage zuvor lief im Leipziger Lokalradio gar der Spot eines Süßwarenherstellers, der mit Gratisgaben zum Zuckerfest für sich warb, was Khaled als Geschäftsmann nur recht sein kann. Am Ende des Ramadans, den das Zuckerfest traditionellerweise einläutet, klingelt bei vielen Händlern nochmal so richtig die Kasse.

Familie in der Türkei

Der 43-Jährige Khaled gehört zu jenen, die im Herbst 2015 zu Tausenden nach Deutschland kamen, auf der Flucht vor Terror, Krieg und Verfolgung in ihrer syrischen Heimat. Ein Großteil der Familie ist dortgeblieben, sagt Khaled, lebt in der Türkei und steht regelmäßig mit der Verwandtschaft in Kontakt, dem Internet sei Dank. Khaled scheint es geschafft zu haben, steht auf eigenen Füßen und hat sogar Arbeitsplätze geschaffen. Oft treffen sich in seinem Laden Freunde und Nachbarn, die weniger Glück hatten als er; sich als Hilfsarbeiter durchschlagen, versuchen, Deutsch zu lernen oder mit dem Jobcenter im Clinch liegen, manchmal wegen 100 Euro und weniger, wofür Khaled nur wenig Verständnis zeigt. „Das Geld hat man in Deutschland schnell legal verdient, dafür braucht man keine Unterstützung vom Staat“, sagt er mit deutlicher Kritik an manchen seiner Landsleute.  Demnächst stünde auch seine Einbürgerung an, sagt Khaled und hält stolz ein Dokument in die Kamera, das seinen momentanen Aufenthaltsstatus zeigt; es erfülle ihn mit Stolz, sagt er, endlich dazuzugehören, in Deutschland zu leben, zu arbeiten und Steuern zu zahlen. Wie ihm geht es vielen. Hinter der Fleischtheke steht ein Landsmann, der zwar nur gebrochen Deutsch spricht, aber immerhin hier allein seine Brötchen verdient, ohne aufs Amt zu müssen. Und was wohl auch nur die wenigsten tatsächlich wollen, da Gelderwerb durch Handel und Gewerbe in der orientalischen Kultur fast schon zur D.N.A. gehört; und nur in seltenen Fällen mit Verstößen gegen das Betäubungsmittelgesetz zu tun haben dürfte, auch wenn in der Öffentlichkeit oft andere Bilder kursieren und die arabische Community pauschal mit Drogenhandel und anderen Malaisen in Verbindung gebracht wird. Indes hat Khaled die Standortwahl für seinen Laden nicht bereut, sagt er, obgleich die Eisenbahnstraße als angeblich „gefährlichste Straße“ Deutschlands gilt, belegt durch Polizeistatistiken zu Raubdelikten, Körperverletzung und Waffenbesitz. Und in der Tat, polizeirechtlich gesehen gilt sie tatsächlich als „Gefahrengebiet“, wo Beamte anlasslos kontrollieren und Objekte durchsuchen dürfen; und von wo regelmäßig das ZDF und andere überregionale Sender berichtet haben, was Pressestellen gern mit „statistischen Erhebungen“ begründen, an denen ein „öffentliches Interesse“ bestehe, ohne konkreter zu werden.

Foto: Vallendar

Zuzug und Zulagen

Doch allem Gemunkel um Statistiken und Behauptungen zum Trotz, scheinen sich nur wenige Leipziger davon abhalten zu lassen, bei Khaled einzukaufen. Vor allem an Wochenenden gehe es hier bunt und fröhlich zu, sagt er, mache er seine größten Umsätze und könne den Angestellten sogar Zulagen zahlen, was sonst eher unüblich sei. Zwar sind Kriminalität und Drogengeschäfte hier weiterhin ein Teil der Realität. Vor allem aber die Vielfalt, der Charme als Szeneviertel und die vergleichsweise günstigen Mieten ziehen immer mehr Menschen an und machen die Eisenbahnstraße zum Spannendsten und Großstädtischsten, was Leipzig derzeit zu bieten hat.

Kultig wie Neukölln

Zu DDR-Zeiten eine eher unscheinbare Durchgangsstraße von knapp drei Kilometern Länge, mit heruntergekommenen Mietskasernen und maroden Fassaden aus der Gründerzeit, ist die Eisenbahnstraße zugleich ein Hotspot orientalischer Kultur und Lebensfreude in Sachsen, unweit des MDR-Hochhauses und der Leipziger Universität, was vor allem Studenten, Rentner und Menschen mit geringen Einkommen für sich entdeckt haben. „Doch mittlerweile hat sich in der Eisenbahnstraße auch ein stiller Wandel vollzogen“, glaubt die Soziologin Elke Seiffen von der Universität Bonn. Will sagen: die Schmuddelecke von früher mausert sich nach und nach zum Trendviertel, wie einst die Kieze in Berlin-Neukölln und Kreuzberg; was auf der Eisenbahnstraße vor allem die zahlreichen Kneipen, Restaurants und Geschäfte mit Kolonialwarencharakter belegen.

Foto: Vallendar

Köstliches zum Ramadan

Einer, der mit seiner Familie regelmäßig zum Beten in die Moschee an der Leipziger Eisenbahnstraße kommt, ist der Tunesier Nabil Daaloul (52), in Aachen promovierter Chemiker, der vor allem das orientalische Flair liebe und vorzugsweise mit der Straßenbahn anreist, da Parken mangels Plätzen auf der Eisenbahnstraße wohl mit zu den dringlichsten Problemen zählen dürfte. Daalouls tunesischer Führerschein galt in der EU nur sechs Monate, sagt er; und dass er den deutschen aufwändig nachmachen müsse. „Die wollen halt alle nur Geld verdienen“, zeigt sich Daaloul ein wenig frustriert. Denn wenn jemand in Tunesien Auto fährt, dann kann er es in Deutschland dreimal, ist der zweifache Vater überzeugt. Daher benutzen er und seine Familie zwangsläufig den öffentlichen Nahverkehr oder lassen sich von Freunden chauffieren, wie heute. „Jetzt zum Ramadan kaufen wir hier, was es im Supermarkt nicht gibt“, sagt Daaloul, derweil er seinen Trolli durch die Gänge in Khaleds Lebensmittelgeschäft schiebt, wo täglich frisch Importiertes auf Käuferinnen und Käufer aus aller Herren Länder wartet.

Über Benedikt Vallendar 83 Artikel
Dr. Benedikt Vallendar wurde 1969 im Rheinland geboren. Er studierte in Bonn, Madrid und an der FU Berlin, wo er 2004 im Fach Geschichte promovierte. Vallendar ist Berichterstatter der Internationalen Gesellschaft für Menschenrechte (IGFM) in Frankfurt am Main und unterrichtet an einem Wirtschaftsgymnasium in Sachsen.