Interview mit Verteidigungsminister Boris Pistorius: „Wir müssen für die Demokratie kämpfen“

Bundesminister der Verteidigung Boris Pistorius | ©Bundeswehr/Norman Jankowski

Der russische Überfall auf die Ukraine bedeutet auch für Bundeswehr und NATO eine „Zeitenwende“. Mit einem Sondervermögen von 100 Milliarden Euro soll die Truppe „Krieg führen können, um ihn nicht führen zu müssen“. Zeitgleich treibt die NATO ihre Norderweiterung durch die Aufnahme Schwedens und Finnlands voran. Und über allem schwelt die Frage, wie unverrückbar sich ein künftiger US-Präsident – sollte dieser wieder Donald Trump heißen – zur Bündnispflicht bekennt.

Im Interview mit Sven Lilienström, dem Gründer der Initiative Gesichter der Demokratie, betont Verteidigungsminister Boris Pistorius deshalb: „Was unsere eigene Sicherheit in der EU betrifft, müssen wir noch mehr tun“. Und ergänzt: „Ob die NATO-Quote am Ende bei 2,0 Prozent oder 2,4 Prozent liegt, ist nachrangig. Für uns muss handlungsleitend sein, was zu tun ist, um unser Land und unsere Bündnispartner verteidigen zu können!“ Das Interview finden Sie hier.

Herr Pistorius, Sie sind seit gut einem Jahr Bundesminister der Verteidigung. Was bedeuten Demokratie und demokratische Werte für Sie ganz persönlich?

Demokratie ist ein Privileg, um das uns die meisten Menschen auf der Welt beneiden. Einige haben sich so sehr daran gewöhnt, dass wir öffentlich hitzig debattieren oder frei wählen können, dass ihnen dieser Wert oft gar nicht mehr bewusst ist. Und darin besteht auch die Gefahr: Würden wir die Demokratie als etwas Selbstverständliches erachten, für das wir nicht mehr kämpfen müssten, wäre sie verloren. Es gibt genügend Verfassungsfeinde, die sie lieber heute als morgen abschaffen würden. Mir hat es daher sehr viel bedeutet, dass Hunderttausende Menschen in unzähligen Städten in diesem Jahr gegen Rechtsextremismus auf die Straße gegangen sind. Darunter auch in meiner Heimatstadt Osnabrück.

Mir hat das gezeigt, dass vielen die Gefahren, die von Verfassungsfeinden ausgehen, bewusst sind, dass sie den Wert der Demokratie kennen, schätzen und dafür eintreten. Das macht mir Mut.

Und ja, Demokratie ist manchmal auch mühsam, harte Arbeit: Debatten führen, eine gemeinsame Haltung finden, Kompromisse schmieden und Mehrheitsmeinungen aushalten, auch wenn man sie selbst eigentlich nicht gut findet. Der große Vorteil gegenüber Autokratien ist aber unbestechlich: Wir hinterfragen uns, wir justieren nach oder ändern vielleicht sogar den Kurs, wenn nötig.

Als Politiker, zumal als Verteidigungsminister, stelle ich mich natürlich den Debatten. Auch dann, wenn sie nicht leicht zu führen sind. Mehr noch: Wenn es nötig ist, stoße ich unangenehme Diskussionen auch selbst an. Brauchen wir in Zeiten, in denen sich die Bedrohungslage in Europa verschärft, eine allgemeine Dienstpflicht? Eine Musterungs- oder gar eine Wehrpflicht – für Männer und Frauen? Brauchen wir eine kriegstüchtige Bundeswehr? Das sind Themen, die manche als Zumutung empfinden, über die ich auch gar nicht alleine entscheiden kann und will. Zur Demokratie gehört eben der Meinungsbildungsprozess. Erst, wenn wir als Gesellschaft und in der Politik eine Haltung entwickelt und alle Vor- und Nachteile abgewogen haben, können wir eine Entscheidung für oder gegen eine allgemeine Dienstpflicht fällen.

Häufig wird die Debatte, gerade wenn sie hitzig geführt wird, als Streit missverstanden. Davor möchte ich warnen. Auch wenn Demokratie manchmal harte Arbeit und mühsam ist, ihr Wert ist unschätzbar. Ein Privileg eben.

Die globale Sicherheitsarchitektur steht vor riesigen Herausforderungen. Brauchen wir eine gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik der EU? Und welche Rolle spielt die NATO dann?

Die NATO als Verteidigungsbündnis ist und bleibt der unverrückbare Pfeiler unserer Sicherheit. Und Putins brutaler Angriffskrieg gegen die Ukraine hat gezeigt, dass wir noch enger zusammenrücken, uns noch besser absprechen, wenn wir von außen bedroht werden. Mehr noch: Mit Schweden und Finnland haben wir sogar neue NATO-Partner dazugewonnen.

Deutschland trägt mit vielen multilateralen Projekten wie dem Bau von U-Booten oder mit dem Europäischen Schutzschirm ESSI seinen Teil zu diesen engeren Absprachen bei. Und gleichzeitig wissen wir, dass wir als Team NATO noch besser werden, die Gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik weiter stärken müssen.

Wenn es darauf ankommt, zeigen wir Deutschen was wir können. Man denke an die Marine-Mission ASPIDES im Roten Meer: In dem Moment, als das Mandat für den Einsatz da war, war unsere Fregatte Hessen bereits vor Ort und startklar. Oder die Luftbrücke Gaza: Gemeinsam mit Frankreich tragen wir dazu bei, die notleidenden Menschen mit Nahrung und Medikamenten zu versorgen. Die Zusammenarbeit mit unseren französischen Freunden funktioniert einwandfrei. Das macht uns stark.

Und ja, was unsere eigene Sicherheit in der EU betrifft, müssen wir noch mehr tun. Unabhängig davon, wer die US-Präsidentschaftswahlen gewinnen wird, die US-Amerikaner werden sich künftig stärker auf den Indopazifik konzentrieren. Umso mehr müssen wir in der Lage sein, für unsere eigene Sicherheit zu sorgen. Das heißt zum Beispiel, dass wir dafür sorgen müssen, dass die Produktion von Waffen und Munition in der EU erhöht wird. Brüssel könnte dabei noch stärker eine koordinierende Rolle einnehmen, so dass die Aufgaben unter den Partnern abgestimmt und sinnvoll aufgeteilt sind. So könnten wir künftig mehr gemeinsam beschaffen und die Zusammenarbeit der europäischen Armeen verbessern. Dabei würden die nationalen Rüstungsindustrien und die europäische Resilienz insgesamt gestärkt.

Apropos NATO: Donald Trump droht Deutschland gerne mit dem 2 Prozent-Ziel. Mit Erfolg – und das nimmt auch Trump wahr. Was tun, wenn die USA unter Trump demnächst 2,4 Prozent fordert?

Die Zahl von zwei Prozent stammt nicht von Donald Trump. Die Verbündeten haben sie gemeinsam auf dem NATO-Gipfel in Wales 2014 beschlossen. Es ist ein Richtwert, auf den sich die Mitgliedsstaaten damals geeinigt haben, um einerseits Sicherheit zu garantieren und um andererseits Vergleichbarkeit bei den Rüstungsausgaben unter den Verbündeten herzustellen.

Perspektivisch werden wir eher mehr als weniger ausgeben müssen, um uns vor militärischen Angriffen zu schützen. Russland hat bekanntlich auf Kriegswirtschaft umgestellt, erhöht die Rüstungsproduktion enorm und fällt immer wieder mit Drohgebärden auch gegen NATO-Staaten etwa im Baltikum auf. Wir haben in Deutschland ein Sondervermögen von 100 Milliarden Euro auf den Weg gebracht. Mehr als zwei Drittel davon haben wir bereits vertraglich gebunden. Wir beschaffen also Waffen, Munition und sorgen für die nötige Infrastruktur. Parallel dazu reformieren wir unsere Streitkräfte, um die Bundeswehr optimal aufzustellen, falls es zum Ernstfall, den wir unbedingt verhindern wollen, kommen sollte. Unsere Soldatinnen und Soldaten sollen Krieg führen können, um ihn nicht führen zu müssen.

Wir müssen Putin also klarmachen: Denk erst gar nicht dran, uns anzugreifen. Wir verteidigen jeden Meter NATO-Territorium. Das ist das Prinzip von Abschreckung. Ob die NATO-Quote am Ende bei 2,0 Prozent oder 2,4 Prozent liegt, ist nachrangig. Für uns muss handlungsleitend sein, was zu tun ist, um unser Land und unsere Bündnispartner verteidigen zu können.

Sowohl von innen, als auch von außen gibt es zunehmend Versuche, unsere Demokratie zu destabilisieren. Brauchen wir eine stärkere Bundeswehr, um unsere Demokratie zu schützen?

Die Bundeswehr ist dazu da, die äußere Sicherheit unseres Landes zu gewährleisten. Und damit stärkt sie natürlich auch das Vertrauen in unseren demokratischen Staat. Je besser die Truppe aufgestellt ist – mit Personal und Material, desto entschiedener kann sie ihren Teil dazu beitragen, dass unsere Demokratie geschützt ist.

Also ja, wir müssen unsere Bundeswehr auch künftig weiter stärken, damit sie angesichts der verschärften Bedrohungslage optimal aufgestellt ist. Nur, was heißt das? Uns muss klar sein: Mit Waffen- und Munitionskäufen allein ist es nicht getan.

Mit dem Aussetzen der Wehrpflicht ist uns in den vergangenen Jahren das Gespür verloren gegangen, wer die Bundeswehr eigentlich ist: Das sind Frauen und Männer mit Verantwortungsbewusstsein, die sich dazu entschieden haben, für die Sicherheit dieses Landes einzustehen.

Stattdessen hat sich bei manchen der Eindruck verfestigt, dass Sicherheit etwas sei, das wir outsourcen könnten. Nach dem Motto: Mehr Geld in die Bundeswehr pumpen, dann sind wir schon safe. So ist es nicht. Wir brauchen Frauen und Männer, die ihre Talente, ihre Kreativität beim Heer, bei der Luftwaffe, bei der Marine oder im Bereich Cyber einbringen wollen – zivil oder militärisch, als Gebirgsjäger, IT-Expertin oder Krankenpfleger.

Die Bundeswehr ist natürlich nur eine von vielen Einheiten, die unsere Demokratie schützen. Darüber hinaus sind wir auch auf den Zivil- und Katastrophenschutz angewiesen, die Sicherheitsbehörden oder auch die Gesundheitsversorgung.

In Skandinavien spricht man daher von einer Gesamtverteidigung. Jede und jeder ist gefordert sich zu fragen, an welcher Stelle sie oder er für die Sicherheit seines Landes eintreten möchte. So trägt am Ende die gesamte Gesellschaft dazu bei, das Land zu verteidigen und eine Resilienz zu erzeugen – gegenüber inneren und äußeren Feinden. Diese Haltung der Skandinavier sollten wir uns zum Vorbild nehmen.

Zuletzt wurde ausgiebig über Waffensysteme wie „Taurus“ debattiert. Doch wie fit ist die Bundeswehr – auch im internationalen Vergleich – eigentlich in Sachen Cyberabwehr und hybrider Kriegsführung?

Die Bundeswehr muss im Rahmen der Cyberverteidigung zunächst für den Schutz der eigenen Truppe und der eigenen Systeme sorgen. Da sind wir gut aufgestellt und müssen uns parallel ständig fragen, was wir verbessern können.

Der hybride Angriff Russlands, bei dem ein Telefonat im Bereich der Luftwaffe abgehört und dann im Netz veröffentlich wurde, hat gezeigt: Wir stehen im Fokus Putins. Dabei ist Moskau überlegt vorgegangen. So wurde das Gespräch nicht zufällig in einer Abfolge mit dem Tod Nawalnys und den Schlagzeilen im Fall Jan Marsalek veröffentlicht. Am Ende geht es Putin darum, Unruhe in Demokratien zu stiften, den Westen zu spalten.

Wir haben den Vorfall so schnell wie möglich aufgeklärt und sind, sobald wir gesicherte Informationen hatten, an die Öffentlichkeit gegangen. Weitere Untersuchungen laufen. Natürlich haben wir auch unsere IT überprüft. Die Systeme sind nicht infiltriert worden. Wir können uns auf sehr gutes Fachpersonal, gerade im Organisationsbereich Cyber- und Informationsraum, stützen. Zusätzlich sind wir im Bereich der Forschung und Entwicklung sehr aktiv. Auch unser „Cyber Innovation Hub“ arbeitet in den Bereichen Digitalisierung, Cybersicherheit aber auch Schutz vor Desinformationen an Ansätzen von morgen.

Darüber hinaus unterstützen wir auch den zivilen Bereich, wie wir es zum Beispiel nach dem Cyberangriff auf den Kreis Anhalt-Bitterfeld gemacht haben. Da haben unsere IT-Experten mitgeholfen, innerhalb kürzester Zeit die Verwaltungs-IT wiederaufzubauen – im Rahmen der Amtshilfe.

Vielfalt in der Truppe: Frauen sowie Menschen mit LGBTQ- oder Migrations-Hintergrund sehen sich in erhöhtem Maße Diskriminierung ausgesetzt. Ist die Bundeswehr nur in ihrer Werbung bunt statt braun?

Unser Soldatengesetz ist eindeutig: In der Truppe ist kein Platz für Diskriminierung und Homophobie. Wenn solche Fälle bekannt werden, gehen wir der Sache sofort nach. Auch wenn Einzelfälle sehr viel Aufmerksamkeit erregen: Im Ministerium und bei meinen Truppenbesuchen stelle ich auch immer wieder fest, dass zum Beispiel Schwule und Lesben akzeptiert sind und Vielfalt im Alltag gelebt wird. Zur Wahrheit gehört, dass wir noch besser werden müssen, um die gesamte Breite unserer Gesellschaft abzubilden. Dann ist die Truppe stark.

Herr Pistorius, Ihr Hobby ist laut BILD: „In der Küche stehen und alle bekochen.“ Was kochen Sie am liebsten? Wenn Sie der Truppenküche eine Schulnote geben müssten, welche wäre das?

Ich koche am liebsten Französisch, Thailändisch, Italienisch und gerne auch herzhafte deutsche Küche aus den verschiedenen Regionen. Mein Lieblingsgericht ist „Spaghetti Carbonara“ nach dem italienischen Originalrezept.

Die Momente, wenn bei Truppenbesuchen die Essenszeit gekommen ist und ich mit Soldatinnen und Soldaten in der Warteschlange oder an den Tischen ins Gespräch komme, schätze ich besonders. Während man zuvor noch über die optimale Ausstattung bei der Bundeswehr oder die nächste Übung gesprochen hat, ist jetzt Zeit, um auch mal albern zu sein und zu erfahren, was die Männer und Frauen vor Ort umtreibt, auch privat. Wenn man im Winter ein paar Stunden draußen gestanden und gefroren hat, tut mir die einfache Erbsensuppe richtig gut. Ich habe mir sagen lassen, dass es einen immer größeren Bedarf nach vegetarischem Essen gibt. Ich würde immer die Wurst mit dazu nehmen. Wichtig ist mir, dass die Ernährung ausgewogen ist, dass auch Gemüse und Salat angeboten wird.

Vielen Dank für das Interview Herr Pistorius!

Bundesminister der Verteidigung Boris Pistorius |©Bundeswehr/Norman Jankowski

Web: www.faces-of-democracy.org

Über die Initiative Gesichter der Demokratie:

Mit über 130 prominenten Persönlichkeiten aus Politik, Wirtschaft, Medien und Gesellschaft sowie 2 Millionen Unterstützer*innen – darunter Staats- und Regierungschef*innen, Friedensnobelpreisträger*innen, die Chefredakteur*innen führender Leitmedien sowie die Vorstandsvorsitzenden global agierender Konzerne – befindet sich die Initiative Gesichter der Demokratie mittlerweile im siebten Jahr ihres Bestehens.