Wie eine umsichtige Herzogin die Stadt Weimar zur Kulturmetropole formte

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1756 übernahm Herzogin Anna Amalia, Witwe des früh verstorbenen Herzogs Ernst August II. Constantin, kaum 20jährig die Regentschaft im Herzogtum Sachsen-Weimar-Eisenach. Ob ihr bewusst war, dass sie damit ihrer abgelegenen und verschlafenen Residenzstadt Weimar zu rund 170 Jahren des kulturellen Höhenflugs verhelfen sollte?

Weimar hatte in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts einen kulturellen wie wirtschaftlichen Niedergang mitgemacht. Bach, der hier einen Großteil seines Orgelwerkes komponierte, hatte 1717 entsetzt den Dienst quittiert, war daraufhin vom Herzog festgenommen worden, ließ sich aber vom Abgang nach Köthen nicht abhalten – symptomatisch diese Begebenheit, Hesse erwähnt sie. Änderungen taten jedenfalls not. Die junge Regentin begann unverzüglich, Politik und Kultur auf neue Weise in Einklang zu bringen. Der junge Goethe, Anwalt und aufstrebender Dichter in Frankfurt am Main, fand das attraktiv. Schiller, der Brausekopf aus Württemberg, bewarb sich in der zu Sachsen-Weimar gehörigen Universität Jena. Christoph Martin Wieland, der Prinzenerzieher, und Johann Gottfried Herder, das „Wunderkind“, kamen an den Weimarer Hof.

Der Aufschwung, den Weimar nahm, kann beispiellos genannt werden, und Helge Hesse ist sein würdiger Chronist. Wir erfahren, wie Goethe sorgte auf positive Weise für Aufsehen sorgte, weil er hier seine Bühne gefunden hatte. Und so kamen bald neue Künstler, Architekten und weitere Schriftsteller nach Weimar. Hesse weiß um die Feinheiten, die Interaktion zwischen den Akteuren. Seine Erläuterungen zum herzoglichen Haus ebenso wie zur politischen Gesamtlage erschließen dem Leser ein tieferes Verständnis Weimars ab dem 18. Jahrhundert. Dabei unterlässt es Hesse, in einen trockenen oder gar in einen dozentenhaften Ton zu verfallen, was ja so leicht wäre. So haben die Leser, die über ein Mindestmaß an historischer Vorbildung verfügen, sehr schnell ihre Freude an diesem Buch.

Ausführlich und in federleichtem Stil schreibt Hesse über die napoleonischen Wirren, die Freiheitskriege. Johann Wolfgang von Goethe begegnet uns auch hier immer wieder. Für Studentenhistoriker ist dabei eine Verbindungslinie von großem Interesse, denn sowohl die Universitätsstadt Jena als auch die Wartburg lagen auf dem Gebiet dieses Herzogtums. Geheimrat v. Goethe war für diese Themen zuständig – die studentische Verfasstheit in Jena fiel ebenso wie die Erinnerungsfeiern an das Reformationsjubiläum, die sich auf der Wartburg ankündigten, in sein Ressort. Es gab eine direkte Verbindungslinie zwischen der Ausrufung der Urburschenschaft in Jena im Juni 1815 und dem Wartburgfest im Oktober 1817. Diese beiden Ereignisse waren möglich durch die Pressefreiheit, die unter Herzog Carl-August in Sachsen-Weimar-Eisenach herrschte und durch Goethe vertreten wurde – anders als im benachbarten Preußen, anders als in den übrigen Rheinbund-Staaten, in denen der Einfluss Metternichs stark war. Der Geist, der 1819 zu den Karlsbader Beschlüssen führen sollte, war bereits allerorten spürbar – aber nicht in Sachsen-Weimar-Eisenach.

Immer wieder und immer neu lesen wir bei Hesse, wer in Weimar wann mit wem in Kontakt kam. Das ist wichtig, um die entscheidenden Voraussetzungen für die kulturelle Blüte von 1756 bis in die 1920er Jahre zu verstehen. Arthur Schopenhauer trat auf den Plan; Franz Liszt gab der Musik unerhörte Impulse, Harry Graf Kessler und Henry van de Velde standen – und  stehen – für die Vertreter der modernen Kunst und Architektur. Zuvörderst wegen der Bedeutung der Stadt für die Kultur wurde dort 1919 die Verfassung der ersten deutschen Republik beschlossen. Walter Gropius gründete in Weimar mit dem „Bauhaus“ eine Schule des Sehens und der Gestaltung, die bis heute alle Gebiete des Designs und der Gestaltung beeinflusst. Gekonnt holt Hesse den Leser ab, der vor allem an Goethes Gartenhaus denkt, wenn ihm Weimar in den Sinn kommt, indem er immer wieder mal Bezüge zum bedeutenden Dichterfürsten herstellt. In einer Zeit, in der von der Kulturellen Identität bis zum Geschlecht des Menschen alles auf den kulturellen Prüfstand gestellt und im Zweifel als angebliche „Aneignung“ verworfen wird, ist das ein Zeichen wohltuender Orientierung.

Mit dem Schlusspunkt seiner Betrachtungen hat der Autor eine weitere implizite, aber nicht unwichtige Aussage getroffen: Die klassische Zeit als Kulturmetropole ging für Weimar bereits 1926 zu Ende, als die NSDAP ausgerechnet hier ihren ersten Reichsparteitag abhielt. Weimar war fortan eine Hochburg des Nationalsozialismus mit überdurchschnittlich guten Wahlergebnissen für Hitler. Was kam – davon kündet das vor den Toren Weimars gelegene Konzentrationslager Buchenwald. Doch der Autor hat den Schlusspunkt seiner Betrachtungen vor diese historische Zäsur gelegt, und zwar mit Recht. Die Zeit ab 1756 bis kurz vor den Bruch von 1933 bildet tatsächlich eine erkennbare Epoche.

Hesse gelingt es insgesamt, aus einem prinzipiell nostalgischen Kulturverständnis heraus ein Versprechen für die Zukunft abzuleiten – und zwar über den Bruch aller Menschlichkeit hinaus, der 1933 verschuldet wurde. Hesses eleganter Salonstil signalisiert, dass kein wissenschaftliches Werk vorgelegt werden sollte, sondern ein elegantes „coffetable“-Buch, das durch kluge Anmerkungen allgemeingeschichtlicher Art zur Beschäftigung mit der Materie im speziellen anregt. So ist denn vielleicht auch das Wort „Versprechen“ im Titel zu verstehen – jeder ist aufgerufen, das kulturelle Erbe Weimars für sich zu entdecken, denn 1933 wurde es von einer deutschen Gesellschaft, die sich mehrheitlich dem Nationalsozialismus ergeben hatte, rundweg ausgeschlagen.

Der Reclam-Verlag, für sorgfältige Editionen und bibliophile Ausgaben bekannt, hat ein schönes, handliches Buch produziert, ein Lesefaden und der ansprechend gestaltete Schutzumschlag können erfreuen. Mit Bedauern muss der Leser aber auf ein Register verzichten; lediglich sehr knappe, allgemeine Literaturangaben sind beigegeben. Das soll den Eindruck nicht trüben – bereichert legen wird ein Buch zur Seite, dessen Autor zumindest sein Versprechen, uns zu unterhalten und zur mit Wissensmehrung beizutragen, einlöst. Die Lektüre kann sehr empfohlen werden.

Helge Hesse, Ein deutsches Versprechen. Weimar 1756 – 1933. Die Bedeutung Weimars für die weltweite Kunst und Kultur, Stuttgart 2023, ISBN 978-3-15-011436-0, gebunden mit Schutzumschlag, Lesefaden, 283 Seiten, 28 Euro.

Bild: Goethes Gartenhaus in Weimar mit dem 1777 errichteten Altan. Aquarell von Georg Melchior Kraus (Ausschnitt) / vordere Umschlagseite des besprochenen Werkes

Über Sebastian Sigler 105 Artikel
Der Journalist Dr. Sebastian Sigler studierte Geschichte, Literaturwissenschaft und Kunstgeschichte in Bielefeld, München und Köln. Seit seiner Zeit als Student arbeitet er journalistisch; einige wichtige Stationen sind das ZDF, „Report aus München“ (ARD) sowie Sat.1, ARD aktuell und „Die Welt“. Für „Cicero“, „Focus“ und „Focus Money“ war er als Autor tätig. Er hat mehrere Bücher zu historischen Themen vorgelegt, zuletzt eine Reihe von Studien zum Widerstand im Dritten Reich.