Johann Gottlieb Fichte wurde lange als Kantnachfolger gehandelt, bevor er seine Wissenschaftslehren veröffentlichte, die mit dem Dualismus der Kantischen Vernunftkritik radikal aufräumten. Gerade in den Wissenschaftslehren, von ihren Anfängen bis in die späten Berliner Jahre hinein, zeigt sich deutlich seine Arbeit am Denken, seine Genealogie des Wissens. Philosophie als Genesis – dafür steht Fichte. Das Produkt dieses Denkens sind seine Wissenschaftslehren in ihren unterschiedlichen Ausführungen. Insbesondere in den Spätschriften geht es ihm immer wieder um die Wahrheitsfrage, um eine analytische und synthetische Begründung des Wissens, um ein Denken des Undenkbaren, um das Begreifen des Unbegreiflichen – all dies sollte mittels des begrifflichen Denkens aufgearbeitet und abgeleitet werden
Gerade aber diese späten Werke sind und bleiben dunkel, wie Jürgen Stolzenberg herausstellt, sie zu entschlüsseln eine Aufgabe, zu der die bei Frommann-Holzboog erschienenen Studientexte zur Spätphilosophie Fichtes wertvolle Hinweise liefern. Die Schwierigkeit Fichtes Denkweg nachzuzeichnen, d.h. sein Werk als einheitliches zu interpretieren, oder, wie oft versucht, einen Paradigmawechsel in seinem Denken herauszustellen, wo nicht mehr das Ich als Prinzip aller Philosophie im Zentrum steht, sondern das Absolute als reines Sein, teilt die Fichteforschung in zwei Lager. Bis heute ist umstritten, ob Fichte tatsächlich seine Theorie des Selbstbewußtseins aufgegeben hat, um nach dem Atheismusstreit, der ihm seine Jenaer Professur kostete, den Weg des absoluten Theismus einzuschlagen. Während Jürgen Stolzenberg und Christoph Asmuth (Ch. Asmuth, Das Begreifen des Unbegreiflichen, Philosophie und Religion bei Johann Gottlieb Fichte 1800-1806, Frommann-Holzboog 1999, in: Spekulation und Erfahrung, Texte und Untersuchungen zum Deutschen Idealismus, Abteilung II: Untersuchungen, Band 41 erschienen) daran festhalten, daß sich Fichte im Spätwerk nur einer anderen Terminologie bedient und den transzendentalen Ansatz seiner Frühphilosophie nicht aufgibt, entwickelt beispielsweise Wolfgang Janke eine Bildtheorie, die das Ich als Bild des Absoluten vorstellt, also in ein Ableitungsverhältnis zum Sein setzt, das nunmehr das Ich begründet.
Der größte Teil der Fichteforscher in Deutschland wendete sich bislang Fichtes mittlerer und späterer Schaffensperiode zu. Und dies aus guten Grund: Aus Fichtes frühen Studienjahren ist wenig bekannt, Auskunft über das traditionelle Bild des jungen Fichte liefern immer noch die von seinem Sohn, Immanuel Herrmann Fichte, publizierten Werke „Johann Gottlieb Fichte`s Leben und litterarischer Briefwechsel, Erster Theil, die Lebensbeschreibung enthaltend“ (Sulzbach 1830) und „Beyträge zur Charakteristik der neueren Philosophie oder kritische Geschichte derselben von DesCartes und Locke bis auf Hegel“ (Sulzbach 1841), die auch für die Fichtebiographen Xavier Léon und Fritz Medicus wegweisend waren.
Im Unterschied zu Hegel, über dessen Jugendzeit – durch seinen Biographen Karl Rosenkranz – die Forschung gut informiert ist, wurde die Auseinandersetzung mit Fichtes frühen Studienjahren bislang von der Sekundärliteratur nur gestreift. Mit einer neuen Studie, die 2007 erschienen ist, und die dazu zugleich die einschlägigen Texte und Dokumente aus dieser Zeit liefert, läßt sich nunmehr ein „genaues, historisch fundiertes Gesamtbild entwerfen, das in vielen Punkten Neues gegenüber der communis opinio der Fichteliteratur und früherer historisch-biographischer Studien bietet“. Während sich die Fichteforschung in den letzten zehn Jahren überwiegend mit Fichtes Spätphilosophie auseinandersetzte, wird nun ein Blick in die frühe Phase seines Denkens freigegeben. So erfreut eine neue Publikation aus dem Frommann-Holzboog-Verlag. Stefano Bacin sucht nach Spuren fichteschen Denkens in der Jugendzeit, widmet sich intensiv dessen Studium und Studien im sächsischen Schulpforta, einem Elitegymnasium, das schon Klopstock und später Nietzsche besuchten. Bacin gibt darüber hinaus tiefe Einblicke in die Schulstruktur, analysiert den Zeit- und Gelehrtengeist, umreißt die schulreformatorische Bewegung und stellt diejenigen Denker in den Mittelpunkt, die das geistig-pädagogische Klima der Schule prägten. So dokumentiert er den Werdegang des späteren Theologieprofessors in Leipzig, Johann August Ernesti, der sich für die Schulordnung in der Zeit von Fichtes Aufenthalt (1774-1780) verantwortlich zeichnete. Daß Fichte in Schulpforta nicht glücklich war, ist eine Tatsache, auf die bereits sein Sohn hingewiesen hat.
Anhand einer Vielzahl von bisher nicht veröffentlichen Quellen belegt Bacin, daß das Bildungsprofil in Schulpforta besser war als oftmals vermittelt wurde. Gleichwohl räumt er aber ein, daß sein Forschungsbeitrag keinen unmittelbaren Einfluß auf die Interpretation von Fichtes theoretischer Philosophie habe – dies ist schade, sucht doch der Interessierte gerade in den frühen Schriften nach Denkstrukturen, die für Fichtes weiteren Werdegang ausschlaggebend waren.
Zusammenfassend: Der Band glänzt durch einen ausführlich dokumentierten Wissenschaftsapparat. Hier ist ein Wissenschaftler am Werk, dem es um historische Grundlagenforschung geht. Daher verwundert es auch nicht, daß die Hälfte des Buches mit Quellentexten versehen ist, wozu nicht nur der Brief Fichtes an seinen Vater von 1775, sondern auch seine berühmte „Valediktionsrede“, seine erste öffentliche Rede, angeführt werden, die Bacin mit einem ausführlichen Fußnotenapparat versieht, der brilliert.
Obwohl die Studie von Bacin über eine bisher weitgehend unbeachtete Geistesentwicklung Fichtes informiert, und damit ihren festen Platz in der Geschichte der Philosophie bereits jetzt hat, bleibt sie aus der Sicht des kritischen Lesers zu philologisch. Dieser hätte sich eine dezidiertere Auseinandersetzung mit dem frühen Denkansatz Fichtes erhofft und gewünscht, als nur über die unterschiedlichen Schulreformen in Schulpforta informiert zu werden. Daß Fichtes frühes Denken immer wieder aus dem akademischen Diskurs ausgeblendet wurde, für die mittlere und späte Philosophie also doch nicht zentral genug war, dies bescheinigt letztendlich auch Bacin. Für weitere Forschungen zu Fichte sind jedoch Bacins Anmerkungen zur „Valediktionsrede“ wichtig und sehr dienlich. Hieran könnten sich künftige Forscher anschließen, wenn es beispielsweise darum geht, den Einfluß Rousseaus und Lessings auf den jungen Fichte zu untersuchen.
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