Burschenschaft und Kolonialismus – ein wissenschaftlicher Versuch

Eine neue Promotionsschrift bringt zwei Phänomene in eine Synopse. Das ist spannend, denn mit „Burschenschaft“ wirdeine Unterform des mitteleuropäischen Verbindungswesens bei Studenten bezeichnet, der Kolonialismus ist ein weltweites Phänomen der neuzeitlichen Geschichte. Ob hier eine relevante Schnittmenge zu finden ist? Und wenn der Autor zwei Themen verbindet, die hierzulande derzeit schwer in Mode sind, „Burschenschaft“ und „Kolonialismus“ also, geht es dann darum, den Zeitgeist in der heutigen Bundesrepublik zu erhaschen? Mit Interesse nehmen wir das Buch zur Hand.

Am Beginn steht ein großes Lob. Ausdrücklich wird zwischen den diversen kulturellen Ausprägungen der Studentenverbindung unterschieden – sie sind bekanntermaßen in sich so vielfältig und weitgespannt ist wie die religiöse Ausrichtungen, wie sexuelle Orientierungen, wie die Entscheidungen an der Wahlurne. Dem trägt der Autor asudrücklich Rechnung. Da er offenkundig durch den viel zu früh verstorbenen Harald Lönnecker auf so manche richtige Spur gesetzt wurde, wie das Buch an allen Ecken und Enden beweist, ist dies aber auch kein Wunder.

Auch an der Faktenfülle gibt es nichts auszusetzen, der Autor hat eine Fleißarbeit abgeliefert. Diese Fakten sind jedem Leser nützlich. Sowohl denjenigen, die sich ihrem festgelegten Weltbild bestätigt sehen möchten, aber genauso auch denen, die sich zur „offenen Gesellschaft“ nach Karl Popper zählen – und die allermeisten Korporierten sehen sich, soweit es der Rezensent überblickt, genau in dieser weltoffenen und toleranten Denkschule. 470 Seiten gewichtige Informationen gibt es zu studieren, wofür allerdings ein Namens- und Ortsregister erforderlich gewesen wäre.

Jedoch – Fragen bleiben. Der Verlag schreibt: „Die Hoch-Zeit des studentischen Korporationswesens und das Bestehen des deutschen Kolonialreichs von 1884 bis 1919 fielen zeitlich zusammen.“ Das ist ein klarer Irrtum. Die hohe Zeit – das war grammatikalisch wohl gemeint – des Korporationswesens ist ideengeschichtlich vom Deutschen Idealismus bis in den Vormärz zu verorten. Im Kaiserreich dagegen fielen die Verbindungen von den selbstgewählten Idealen nach und nach ab, was sie zugegebenermaßen auf unterschiedliche Weise bis heute angreifbar macht. Die Vorstellung von Verlag und Doktorand, Verbindungen hätten im Wilhelminischen Reich ihre beste Zeit gehabt, offenbart einen grundsätzlichen Irrtum, den der Autor bis zum Schluss offenbar nicht korrigierte. Der Verlag selbst gibt dann sogar zu, dass Burschenschafter „ohne expliziten kolonialen Auftrag“ handelten.

Ja, so einige Fragen bleiben. Wo zum Beispiel der „Rausch“ sein soll, der im Buchtitel angekündigt wurde, erschließt sich nicht. Soll es ein Wortspiel sein mit dem Hintergrund, dass auf studentischen Kneipen gerne mal viel Bier getrunken wird? Steigt hier ein Doktorand nicht etwas im Niveau herab? Wurde wochenlang an einer „schlagenden“ Überschriftgetüftelt? Ach, geschenkt. Mit dem Inhalt des Buches hat die anekdotisch gewählte Titelzeile schon deswegen eher weniggemein, weil doch erfreulich viele Fakten ganz nüchtern geliefert werden. Wobei – eine kleine Einschränkung: Ein gewisses Weltbild schlägt immer wieder in der Wortwahl durch. Da wird dann ein eher inhalts- und harmloses burschenschaftliches Arbeitspapier flugs zum „Pamphlet“ – das geschlossene Weltbild vom „bösen Burschi“, es will halt bedient sein.

Vielleicht ist dann auch diesem Weltbild, so schön bequem festgefügt, geschuldet, dass der Autor es sich zutraut, die immerhin schon gut 100 Jahre vergangene Kolonialgeschichte auf die heutige Gesellschaft zu extrapolieren – kann man ja mal probieren. Gelingt aber nicht so richtig, ebenso wie die leicht gouvernantenenhaften Empfehlungen an die Herren Burschenschafter, was sie wann und wie aufzuarbeiten hätten. Fast entsteht ein wenig der Eindruck, als sei diese Promotionsschrift nur um dieser beiden letzten Kapitel willen geschrieben worden.

Ob sich der Autor die Frage gestellt hat, was er mit seinen Schlusskapiteln bewirkt? Es ist nun mal eine Tatsache, dassdas gesamte Verbindungswesen – bereits im späten 18. Jahrhundert begann das ja – wesentlich aus dem Wunsch junger, keinesfalls über zu wenig Testosteron verfügender Männer nach Distinktion und Konflikt rührte. Appelle wie hier wirken angesichts dessen nur bestärkend. Aus Sicht des Rezensenten wird dieses Buch den Burschenschaften tendentiell eher nützen, denn es wird eine erkleckliche Anzahl junger Männer erst darauf hinweisen, wie gefährlich, wie bedrohlich, wie gar schrecklich sie wirken könnten – wenn sie sich nur ein gefärbtes Stoffband von der rechten Schuler zur linken Hüfte umlegten und einen Filzdeckel mit Kunstlederschirm auf ihren Schädel stülpten. War das der Zweck der Übung?

Und so ein paar Burschenschafter mit Bändchen und Schaffermütze hätten wir ja gerne auf dem Titelbild gesehen, doch da ist nur eine Holzvertäfelung zu sehen. Sie ist braun – ein Schelm, wer Böses denkt. Soll hier das „Brett vor dem Kopf“ visualisiert werden? Das wäre wirklich bemerkenswert, denn allzu oft verraten Titelbilder mehr über den Autor als über den- oder diejenigen, die beschrieben werden – eine alte Weisheit aus Verlegerkreisen. Ob sie hier zutrifft, möchte der Rezensent ausdrücklich nicht entscheiden; das sei den werten Lesen vorbehalten. Wer diese Promotionsschrift zur Hand nimmt und schon zuvor über ein festgefügtes Weltbild verfügte, nach dem alle Burschenschafter automatisch in die Schublade „revanchistisch, rassistisch, reaktionär“ einzuordnen sind, der wird auf 472 Seiten viel Freude haben, wird sich jedenfalls in seiner wissenschaftlichen Wohlfühlzone genüsslich gruseln.

Bleiben wir lieber beim berechtigten Lob für Quellendichte und Faktenfülle – gelungen ist dies Werk aus wissenschaftlicher Sicht durchaus, und zwar genau dort, wo es wirklich ums Thema geht. Auch bleibt’s nach vollständiger Lektüre beim Lob für den Fleiß. Lönnecker hat gut vorgelegt, in der Bibliographie sind allein 21 Titel von ihm, und alles ist ordentlich belegt und eingearbeitet. Die Ergebnisse bleiben jedoch, weil nicht viel zu holen war, im Versuchsstadium stecken. Für eine Promotionsschrift ist das legitim. Aber vielleicht erhoffte sich Lönneckers Schüler eher, zum Autor einer funkelnagelneuen Maobibel des Antiburschius zu avencieren, als er seine Schlusskapitel verfasste? Wer weiß.

Andreas Bohne, Studenten und Alte Herren im kolonialen Rausch Burschenschaften und Kolonialismus vom Vormärz bis zur Gegenwart, Bielefeld 2024, 472 Seiten, broschiert, ISBN 978-3-8376-6882-7, 59 Euro.

 

 

Über Sebastian Sigler 105 Artikel
Der Journalist Dr. Sebastian Sigler studierte Geschichte, Literaturwissenschaft und Kunstgeschichte in Bielefeld, München und Köln. Seit seiner Zeit als Student arbeitet er journalistisch; einige wichtige Stationen sind das ZDF, „Report aus München“ (ARD) sowie Sat.1, ARD aktuell und „Die Welt“. Für „Cicero“, „Focus“ und „Focus Money“ war er als Autor tätig. Er hat mehrere Bücher zu historischen Themen vorgelegt, zuletzt eine Reihe von Studien zum Widerstand im Dritten Reich.