Gottesferne, zur Staatskrise geronnen: Reflexionen zur Coronakrise

Buch: Menschenwürde im Intensivstaat? Theologische Reflexionen zur Coronakrise von Oleg Dik, Jan Dochhorn, Axel Bernd Kunze

Oleg Dik / Jan Dochhorn / Axel Bernd Kunze, Menschenwürde im Intensivstaat? Theologische Reflexionen zur Coronakrise, Regensburg 2023, broschiert, 260 Seiten, ISBN 978-3-89783-998-4, 32 Euro.

Könnte es sein, daß die Eingriffe in die Persönlichkeitsrechte während der Coronakrise eine Vertrauenskrise in diesem Land heraufbeschworen haben? Natürlich ist das so. Oleg Dik, Jan Dochhorn und Axel Bernd Kunze decken diese politische Krise, deren Folgen wir drastisch spüren, punktgenau auf. Zu ihr konnte es, so sagen die Autoren, überhaupt erst kommen, weil ohnehin schon lange eine Glaubenskrise schwelt.

Das jüngst im Roderer-Verlag, Regensburg, erschienene Buch „Menschenwürde im Intensivstaat? Theologische Reflexionen zur Coronakrise“ ist geeignet, die anstehende, aber bislang erfolgreich verdrängte Aufarbeitung des landauf, landab zu beobachtenden, staatlichen Corona-Unrechts ordentlich anzuschieben. Denn die staatlicherseits auferlegten Beschränkungen durch die Corona-Krise sind längst als überzogen und übergriffig enttarnt. Diese Erkenntnis wird vielerorts verlegen bemäntelt, wobei Verantwortlichen auch zugutegehalten werden, dass es keine Handlungsschemata gab, nach denen sie hätten entscheiden können.

Unaufgeregt wird im Vorwort die Problemlage dargestellt. Der Staat hat die Unversehrtheit des Körpers durch Impfpflicht und Nachteile für Menschen, die zweifelten, missachtet. Die Amtskirchen haben munter mitgemacht, ja, vielfach die staatlichen Regeln für sich und im eigenen Hause noch verschärft. Der im Grundgesetz nach wie vor verankerte Bezug auf den christlichen und damit zugleich jüdischen Gott wurde auf diese Weise stark deformiert. Oder wurde hier dem Staatswesen gar ein noch nicht zur Gänze erkennbarer, aber unheilbarer Bruch zugefügt?

„Der Einzelne hätte keinen Arbeitsplatz mehr“. So kommentierte Ende 2021 der Justizminister von Nordrhein-Westfalen, Peter Biesenbach (CDU), den von ihm gemachten und auch ernstgemeinten Vorschlag, „2G“ am Arbeitsplatz einzuführen, gemeint war: „geimpft oder genesen“. Die drei Autoren dieses Bandes interessieren sich für diesen Einzelnen und erörtern aus theologischer Perspektive, wie es dazu kommen konnte, dass man in der Coronakrise allen Ernstes erwog, die Individualrechte weithin auszusetzen und den Einzelnen einem Willen, der als „alternativlos“ apostrophiert wurde, zu unterwerfen. „Krisen legen Fehlentwicklungen schmerzhaft offen“, kommentiert Axel Bernd Kunze trocken in seinem Eingangsaufsatz, den er als eine „sozial- und bildungsethischen Ursachensuche im Angesicht der Coronakrise“ ansieht und den er treffend mit „Gesprächsstörungen“ überschrieben hat.

Oleg Dik identifiziert eine unbewusste Dynamik in der Gesellschaft. Der Druck des Unbekannten – in diesem Fall: des Virus – setzt eine Kaskade des Ekels gegen das Abweichende in Gang, der sich nur mehr eine kleine Minderheit zu entziehen vermag. Es gibt, so Dik, einen Gegenentwurf, nämlich die gemeinschaftsbildende Kraft der Eucharistie. Doch bereits der Kontext dieses bemerkenswerten Bandes und viel mehr noch die schnöde Wirklichkeit lassen erkennen, dass die Glaubenskrise bereits weit fortgeschritten ist. Die Kirchen hatten nicht mehr die Kraft, sich der gesellschaftlichen Sezession entgegenzustellen. Und, so setzt ein desillusionierter und durch dieses Buch sehr zu neuem Denken angeregter Rezensent hinzu, sie möchten sie wohl auch gar nicht mehr haben.

Jan Dochhorn identifiziert eine Tragik des Gesellschaftlichen: Wider ihren Willen und ohne Verstehen realisiert Gesellschaft immer wieder das Gegenteil ihrer Ideale, die eine Mehrheit doch eigentlich befürwortet. Er findet eine Entsprechung bei Paulus, der über den der Sünde anheimgefallenen Menschen schreibt – die Gemeinschaft aller, die Gesellschaft also, ist demnach nicht als der Ort von Emanzipation zu sehen, sondern ist für sich genommen zu einem Götzen geworden. Die Gesellschaft unterwirft sich sehenden Auges einer divinisierten Bezugsgröße von Erlösungs- und Bedrohungsphantasien, die durch der Spiegel der Regierung auf sie geworfen wird. Und weil eine faktisch Vergöttlichung von Irdischem eintrat, darf auch nicht mehr hinterfragt werden. Starker Tobak!

Axel Bernd Kunze behandelt das Paradoxon, dass nach Zeiten der Staatsvergessenheit mit der Coronakrise unversehens, quasi übergangslos, ein Intensivstaat das Regiment übernahm. Er sieht desweiteren eine Zeitenwende, denn zunehmend wird genau dieser Intensivstaat nun ausgebaut. Eigentlich war genau das eines der Alptraumszenarien der liberal-freiheitlichen und auch der durch den Glauben befreiten, christlichen Bevölkerungsteile, und diese bildeten einst die Mehrheit in diesem Land. Doch das ist eine Weile her, gesellschaftlicher Konsens und gegenseitiges Verstehen sind zerbrochen, ein Weg zurück ist nicht in Sicht, eine christliche Mehrheit im übrigen auch gar nicht mehr vorhanden. Und so macht Kunze den so wichtigen wie gleichwohl ungewissen Versuch, die Bedingungen für eine gesellschaftliche Versöhnung zu finden.

Für ein Fachbuch diese Qualität ist der Band preiswert, und angesichts der Relevanz des Themas sollte der Preis ohnehin kein Thema sein. Zumal die Autoren zahlreiche Literaturhinweise geben, weswegen sich „Menschenwürde im Intensivstaat“ auch als Einstiegslektüre für diejenigen eignet, die gerade erst erkennen, welcher Schaden ihnen möglicherweise durch den Umgang mit der Corona-Krise entstand. Die Herstellung ist solide, das Buch ist eher schmucklos gestaltet, sieht man von einem raffinierten Bild ab, das einer der Autoren zum Titel beisteuerte, aber es ist eine zweckmäßige Broschur, im Digitaldruckverfahren hergestellt, die ihren Zweck erfüllt.

Was bleibt als Fazit? Zum Unrechtsstaat ist Deutschland ja trotz aller Schäden, die das Rechtsgefüge nahm, die im gestörten Vertrauen vieler Menschen manifestiert sind, bislang nicht geworden. Und wer denn etwa hoffte, bei Kunze, Dochhorn und Dik mit fundamentalistischen Alternativen bedient zu werden, wird enttäuscht. Doch die Sache ist, folgt man den drei Autoren, schlimm genug, denn der „Intensivstaat“, der sie als längst bestimmenden Faktor in unserer aktuellen „Ampel“-Gesellschaft betrachten, ist zwar durch die Gottesferne in einer weitverbreiteten Glaubenskrise vorbereitet, aber erst durch die Ungerechtigkeiten der Corona-Krise heraufbeschworen worden.

Oleg Dik / Jan Dochhorn / Axel Bernd Kunze, Menschenwürde im Intensivstaat? Theologische Reflexionen zur Coronakrise, Regensburg 2023, broschiert, 260 Seiten, ISBN 978-3-89783-998-4, 32 Euro.

Über Sebastian Sigler 106 Artikel
Der Journalist Dr. Sebastian Sigler studierte Geschichte, Literaturwissenschaft und Kunstgeschichte in Bielefeld, München und Köln. Seit seiner Zeit als Student arbeitet er journalistisch; einige wichtige Stationen sind das ZDF, „Report aus München“ (ARD) sowie Sat.1, ARD aktuell und „Die Welt“. Für „Cicero“, „Focus“ und „Focus Money“ war er als Autor tätig. Er hat mehrere Bücher zu historischen Themen vorgelegt, zuletzt eine Reihe von Studien zum Widerstand im Dritten Reich.