Die Flucht des Jesuskindes – mitten durchs königliche Böhmen

Buchrezension von Sebastian Sigler

Otfried Preußler, Die Flucht nach Ägypten – Königlich böhmischer Teil, 2. Auflage 2023, gebunden, 448 Seiten, ISBN 978-3-8436-1489-4, 24 Euro.

Die Flucht nach Ägypten, in der das Jesuskind, kaum geboren, zu einem Flüchtlingskind wird, paßt in die Zeit. Einerseits, weil der islamische Terror die Zahlen der Rettungssuchenden weltweit emporschnellen läßt, andererseits, weil diese biblische Geschichte zur mit Weihnachten angebrochenen Zeit des Kirchenjahres gehört.

Was Otfried Preußler, dieser wundervolle Erzähler, bekannt durch „Krabat“, den Räuber Hotzenplotz und die Kleine Hexe, aus der biblischen Meistererzählung der Flucht der Heiligen Familie nach Ägyptenland macht, ist große Literatur. Das dazugehörige Buch ist derart ist köstlich und unterhaltsam, daß es in diesen Wochen – mitten in der liturgischen Weihnachtszeit – lebhaft angepriesen sei. Die nun vorliegende, aktuell herausgekommene Ausgabe dieses Buches ist eine Wiederauflage. Bereits in den 1970er Jahren erfreute das Werk große und kleine Kinderherzen, war dann aber jahrelang vergriffen. Dem Patmos-Verlag, bei dem es nun unverändert wiederaufgelegt wurde, gebührt großes Lob.

Wunderbar altertümlich sind die Kapitelüberschriften ausformuliert, und natürlich ist das ein Stilmittel. Wie nebenbei erfährt der Leser aber auch sehr konkret, daß diese acht- bis zehnzeiligen Inhaltsangaben in Stichpunktform, aus Druckerzeugnissen des 19. Jahrhunderts und früher bekannt, enorm praktisch sind. Wenn übrigens der Rezensent hier die klassische Rechtschreibung verwendet, mit einem „ß“ im „daß“, ganz wie auch Preußler einen solchen Buchstaben im Nachnamen trägt, dann liegt das daran, daß auch dieses Buch, obschon neu herausgebracht, in klassischer Rechtschreibung daherkommt – derselben Schreibweise also, die auch der Autor nutzte, um den Urtext zu verfassen.

„Poetische Intelligenz“ bescheinigt ein Rezensent diesem Buch – ja, eine gute Schlagzeile! Denn bereits die Rahmenhandlung, die die Flucht der Heiligen Familie vor einem mordbereiten Regionalfürsten ins königliche Böhmen, in die Habsburgermonarchie also, verlegt, ist mit freundlichem Hintersinn und einer großen Zahl liebevoll-satirischer Charakterbilder nur so gespickt. Im nördlichen Böhmen, bei Schluckenau, betritt die Heilige Familie nach Preußler böhmischen Boden, sie zieht am Iser- und Riesengebirge vorbei und bei Schatzlar hnaus ins Schlesische, „wo es dann nach Ägypten hinüber nicht allzu weit mehr gewesen ist“. Herrlich, diese Vorstellung!

Lebensecht und punktgenau gezeichnet schildert Preußler die ausgeprägten, urkomischen, von unfreiwilliger Weisheit getragenen Charaktere Böhmens. Sind es Erlebnisse aus seiner Kindheit und Jugend im sudentendeutschen Reichenberg, wo er – damals noch deutschsprachig, wohlgemerkt – mit seinem ursprünglichen, tschechischen Nachnamen Syrowatka aufwuchs? Der Untertitel des Buches lautet „wahrhaftige und genaue Beschreibung sämtlicher Vorfälle, Zufälle und Ereignisse wie auch mehrerer Wunder, welche sich damals bei Durchzug der bethlehemitischen Wandersleute im Königreich Böhmen begeben haben“. Und Preußler verspricht nicht zuviel!

Nehmen wir „Kapitel Numero 3“, wo auf zehn Seiten die königlich-böhmische Statthalterei auf dem Hradschin in Prag großartig persifliert wird, wobei auch Luzifer eine nicht ganz kleine Rolle hat. Ein Schelm, wer Böses denkt! Die Nachricht vom Eintreffen der Heiligen Familie auf der Burg ist jedenfalls einziger Inhalt dieses Abschnitts, der am Ende, nach fünfmaligem Umblättern, in zwei lakonischen Satz des Herrn Dr. von Wottruba-Treuenfels, des einzigen anwesenden Amtsträgers, der zuständig sein könnte, mündet. Gerichtet sind sie an den Kammerdiener mit dem wunderbaren Namen Papouschek: „Es ist schon ein Kreuz, daß man ausgerechnet durchs Königreich Böhmen muß, wenn man von Bethlehem nach Ägypten will! Was meinen S’, wieviel uns erspart bleiben möcht’, wenn das anders wär’.“

Dieser Satz ist gewissermaßen die Exposition des Buches. Der Teufel steckt von nun an hinter so manchem Mißgeschick, und der Erzengel höchstpersönlich sieht sich veranlasst, sich in die Rolle des Esels zu begeben, verläßt diese Rolle aber beizeiten, um das Heilsgeschehen nicht zu behindern. Derweil unterlaufen dem Teufel schwere Fehler, die es ermöglichen, daß die biblische Geschichte überhaupt zum vorgesehenen Ende kommt. – Werte Leser, Sie ahnen schon, wieviel Lesevergnügen sie erwartet! Sollte Ihnen dieses köstliche Buch über den Weg laufen, zögern Sie nicht – gönnen Sie sich dieses Vergnügen! Im Gegensatz zur Heiligen Familie, die fliehen mußte,  stehen Sie nicht unter Zeitdruck: Die Weihnachtszeit dauert in diesem Jahr bis zum 28. Januar, dem letzten Sonntag nach Epiphanias. Abgesehen davon ist für die Freude an Preußlers unerreichter Fabulierkunst jederzeit eine gute Zeit!

Otfried Preußler, Die Flucht nach Ägypten – Königlich böhmischer Teil, 2. Auflage 2023, gebunden, 448 Seiten, ISBN 978-3-8436-1489-4, 24 Euro.

Über Sebastian Sigler 104 Artikel
Der Journalist Dr. Sebastian Sigler studierte Geschichte, Literaturwissenschaft und Kunstgeschichte in Bielefeld, München und Köln. Seit seiner Zeit als Student arbeitet er journalistisch; einige wichtige Stationen sind das ZDF, „Report aus München“ (ARD) sowie Sat.1, ARD aktuell und „Die Welt“. Für „Cicero“, „Focus“ und „Focus Money“ war er als Autor tätig. Er hat mehrere Bücher zu historischen Themen vorgelegt, zuletzt eine Reihe von Studien zum Widerstand im Dritten Reich.