Teil 4 – Die philosophische Reihe – Marx und Engels: Geist als Widerspiegelung der Materie

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Hegel hatte ein System geschaffen, das alle Bereiche der Philosophie umfasste, von  der  Naturbetrachtung  über die Menschheitsgeschichte bis hin zu rechtlichen Fragen. Er betrachtete seine Lehre als Endpunkt der Philosophiegeschichte. Doch mit Hegels Tod war die Geschichte der Philosophie nicht zu Ende. Die Linkshegelianer Ludwig Feuerbach (1804–1872) und Karl Marx (1818–1883) knüpften zwar an Hegel an, gelangten jedoch zu anderen Schlussfolgerungen.

Ludwig Feuerbach veröffentlichte 1841 sein Werk ‚Vom Wesen des Christentums‘. Darin findet sich die berühmte These, dass die Heiden den Himmel auf die Erde und die Christen die Erde in den Himmel bringen wollten (Paulus, 2004, S. 8). Der revolutionäre Gehalt von Feuerbachs Werk zeigt sich schließlich in der Feststellung: Gibt es kein Jenseits, in dem wir auf Erlösung hoffen können, komme alles auf das Diesseits an (Paulus, 2004, S. 8).

Diese Thesen beeinflussten Karl Marx, der an der Universität Jena, ohne jemals in die Stadt kommen zu müssen23, im Jahre 1841 (10 Jahre nach Hegels Tod) mit einer Arbeit zur ‚Differenz der demokritischen und epikureischen Naturphilosophie‘ zum Doktor der Philosophie promoviert wurde.

Marx wurde am 5.5.1818 in Trier geboren. Er schlug nie eine akademische Laufbahn ein, was auch mit seinem Streben nach praktischer Wirksamkeit zu erklären ist. Dennoch überwiegt die theoretische Bedeutung seines Werkes. Sein Vater machte den jungen Marx mit der französischen und deutschen Aufklärung vertraut. Dem Wunsch des Vaters folgend, ging Marx zum Jurastudium nach Bonn. In den Jahren 1842/43 war Marx Mitarbeiter und später Chefredakteur der liberalen ‚Rheinischen Zeitung‘.

Im Spätsommer 1844 trafen sich Marx und Engels erstmals in Paris. Danach begann eine enge und freundschaftliche Zusammenarbeit. Sie dauerte bis zum Tod von Marx. Im Sommer 1849 ging Marx ins Exil nach London, das er, von gelegentlichen Reisen abgesehen, nicht mehr verließ (MLP, S. 465 ff.).

Eine klare Definition des Begriffs Materie hat Marx nicht gegeben. Der Materiebegriff des Marx’schen (historischen und dialektischen) Materialismus ist kein ontologischer, der nach etwas Seiendem fragt. ‚Materie‘ im Sinne des historischen und dialektischen Materialismus kann weder mit einer metaphysischen Substanz im Sinne der Rationalisten (Descartes, Spinoza, Leibniz) noch mit einem konkreten Stoff oder irgendeinem physikalischen Objekt (z.B. Atom) identifiziert werden. Was versteht der historische und dialektische Materialismus unter ‚Materie‘?

Für Marx wurzeln Rechtsverhältnisse und Staatsformen letztlich in den materiellen Lebensverhältnissen (MEW, Bd. 13, S. 8). Diese materiellen Lebensverhältnisse bilden für Marx die reale Basis, auf der sich ein rechtlicher und politischer Überbau erhebt (MEW, Bd. 13, S. 8). Das ist mit der These gemeint, dass die materiellen Lebensverhältnisse das Bewusstsein bestimmen (MEW, Bd. 3, S. 27). Das Individuum war für Marx wesentlich durch die gesellschaftlichen Verhältnisse bestimmt. Es wurde als „ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse“ (MEW, Bd. 3, S. 6) gedacht. Die gesellschaftlichen Verhältnisse seien das Materielle, aus dem der Mensch hervorgeht.

Als Grundverhältnis der Geschichte bestimmte Marx das Verhältnis von Produktivkräften (der Mensch als Hauptproduktivkraft sowie die Produktivkräfte Wissenschaft und Technik) und gesellschaftlichen Verhältnissen (bzw. Verkehrsformen, später Produktionsverhältnisse; also die Verhältnisse, die die Menschen im Produktionsprozess eingehen) (PhW, Bd. 2, S. 977). Für Marx war das gesellschaftliche Leben in allen Bereichen ökonomisch bedingt, da es immer vom Entwicklungsstand der Produktivkräfte und den gesellschaftlichen Verhältnissen abhänge.

Die Nähe von Marx und Hegel blieb aber insofern bestehen, als beide im Geschichtsprozess letztlich das Wirken einer objektiven Vernunft sahen, die sich nicht geradlinig, sondern dialektisch, d.h. durch positive Entwicklungen und negative Momente wie Katastrophen, Not, Entbehrungen und Unglücke verwirklicht (vgl. Fleischer, 1970/1974, S. 161). Diese Entwicklung mündet nach Marx im Kommunismus, den er nicht als utopisches Ideal, sondern als wirkliche Bewegung verstand (MEW, Bd. 3, S. 35).

Freiheit könne der Mensch nur erlangen, wenn er alle Verhältnisse umwerfe, in denen er „ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist“ (MEW, Bd. 1, S. 385). Dieser sozialemanzipatorische Ansatz ist der eigentliche Kern der Marx’schen Lehre. Er besteht in der Aufforderung, gesellschaftliche Alternativen zu wagen und Kritik an den Lebensverhältnissen zu üben.

Der marxsche Materialismus ist praktisch. Dies kommt besonders deutlich in der 11 These über Feuerbach zum Ausdruck:

Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert, es kömmt drauf an, sie zu verändern. (MEW, Bd. 3, S. 7)

Mit den Naturwissenschaften hat sich Marx weniger beschäftigt. Die Auseinandersetzung mit den Ergebnissen der Naturwissenschaften geht vor allem auf Friedrich Engels (1820–1895) zurück. Dieser entwickelte den sogenannten dialektischen Materialismus.

Friedrich Engels wurde am 28.11.1820 in Barmen geboren. Sein Leben und seine Bedeutung wurden durch die Freundschaft bestimmt, die er 1844 in Paris mit Karl Marx schloss. Engels hörte 1841 Schellings gegen Hegel gerichtete Vorlesung und schloss sich dem junghegelianischen Kampf gegen Schelling an.

Im November 1842 kam Engels nach Manchester, wo er in der Firma ‚Ermen und Engels‘, deren Mitinhaber sein Vater war, eine Lehre absolvierte. Engels studierte die Chartisten- und Arbeiterbewegung, die englische sozialkritische Literatur (Shelley, Disraeli, Carlyle), nationalökonomische Schriften, sozialistische Theoretiker und sammelte Material für eine Sozialgeschichte Englands. Diese Studien führten zunächst zu brieflichen Kontakten mit Marx. Im September 1844 kam es zum entscheidenden Treffen in Paris. Am 1.7.1869 schied Engels aus der väterlichen Firma aus. Er siedelte im Herbst 1870 nach London über, wo er nur wenige Minuten von Marx entfernt wohnte.

Mit seinen späteren Schriften trug Engels zur Verbreitung der Marx’schen Lehre bei. Darüber hinaus beschäftigte er sich intensiv mit naturwissenschaftlichen Fragen. 1876/78 schrieb er die Schrift ‚Anti-Dühring‘, die 1878 als Buch unter dem Titel ‚Herrn Eugen Dührings Umwälzung der Wissenschaft‘ erschien. Es folgten 1873/76 erste Vorarbeiten zur ‚Dialektik der Natur‘, die Engels 1881/82 fortsetzte. 1888 erschien Engels’ wohl bekannteste und wirkungsmächtigste Schrift ‚Ludwig Feuerbach und der Ausgang der klassischen deutschen Philosophie‘. Im November 1894 beendete er die Arbeit am 3. Band von ‚Das Kapital‘. Nach kurzer Krankheit starb er 1895 in London (Bollnow, 1959, S. 521–527).

Friedrich Engels charakterisierte die Situation der philosophischen Deutung der Naturwissenschaften zu Beginn des 19. Jahrhunderts anhand zweier unter- schiedlicher philosophischer Richtungen: einer metaphysischen und einer dialektischen. Zur metaphysischen Richtung zählte er den französischen mechanischen Materialismus, der in der Tradition von Descartes stand, aber auch Demokrit und Epikur verpflichtet blieb (Engels, 1979, S. 51ff.). Die andere Richtung war für Engels die auf Aristoteles und Hegel zurückgehende dialektische Richtung (Engels, 1979, S. 51ff.). Beide Richtungen hielt Engels für unzureichend. Die metaphysische Richtung gehe von starren Gegensätzen aus: Grund und Folge bzw. Ursache und Wirkung. Nach Hegel dagegen entwickle sich die Welt zwar nicht in starren Gegensätzen, doch bleibe bei ihm alles mystisch (Engels, 1979, S. 53).

Die Naturwissenschaften des 19. Jahrhunderts brachten neue Ideen hervor wie z.B. die Vorstellung einer Höherentwicklung der Natur. Ein metaphysisches Naturbild, in dem die Welt nur durch eine lineare Kette von Ursache und Wirkung geordnet sei, werde den modernen Naturwissenschaften nicht gerecht.

Engels nannte drei naturwissenschaftliche Entdeckungen, die zugleich neue philosophische Ansätze implizierten. Die erste war die Entdeckung des Energieerhaltungssatzes, nach dem Energie weder erzeugt noch vernichtet werden kann. Allerdings können die einzelnen Energieformen – Bewegungsenergie, Wärmeenergie, Strahlungsenergie, elektrische Energie, magnetische Energie und chemische Energie – ineinander umgewandelt werden. Die Entdeckung der Zelle als Grundeinheit der Organismen, aus deren Vermehrung und Differenzierung sich Pflanzen und Tiere entwickeln, war die zweite Neuerung. Sie zeigte, wie sich Organismen verändern und entwickeln können. Darwin begründete die dritte Entdeckung, die Evolutionstheorie. Mit ihr konnte nachgewiesen werden, dass alle Organismen – und damit auch der Mensch – das Ergebnis eines langen Entwicklungsprozesses sind, in dem aus einzelligen Lebewesen allmählich komplexere Lebensformen entstanden sind (Engels, 1979, S. 41f.).

Diese Erkenntnisse sprachen in der Interpretation von Engels weniger für einen Materialismus der alten Form als vielmehr für die Hegel’sche Dialektik. Die neuen Erkenntnisse hatten gezeigt, dass in der Natur eine Entwicklung stattfindet und dass niemals absolute Gegensätze anzutreffen sind. So ist der Unterschied zwischen Elektrizität und Magnetismus nur ein relativer, da elektrische Phänomene mit Magnetismus verbunden sein können und umgekehrt. Aber auch der Unterschied zwischen Mensch und Tier ist nur ein relativer, da evolutionsgeschichtlich eine direkte Entwicklung vom Tierreich zum Menschen nachgewiesen werden konnte.

Marx und Engels kehrten die Hegel’sche Dialektik um. Dialektik beschrei-be die Bewegung der realen Welt. Sie führe zu der Einsicht, dass die Welt kein Komplex fertiger Dinge ist, sondern ein Komplex von Prozessen. Daher könne auch unser Wissen über die Welt nie zu einem Abschluss kommen. Die von Friedrich Engels entwickelte Dialektik der Natur war als Methode gedacht, den universellen Zusammenhang der Naturerscheinungen aufzudecken (Engels, 1979, S. 63). Allerdings scheint Engels die dialektischen Gesetze letztlich auch als reale Naturzusammenhänge verstanden zu haben. So bezeichnete er „die dialektischen Gesetze [KH: als] wirkliche Entwicklungsgesetze der Natur“ (Engels, 1979, S. 66). Später, vor allem in der sowjetischen Fassung des dialektischen Materialismus, wurde die Dialektik als eine Natur und Gesellschaft beherrschende Dynamik umgedeutet.

Engels sprach von drei sogenannten dialektischen Grundgesetzen.

Gesetz vom Umschlagen von Quantität in Qualität und umgekehrt

Gesetz von der Durchdringung der Gegensätze

Gesetz von der Negation der Negation

Gesetz des Umschlagens von Quantität in Qualität und umgekehrt

Führt man Wasser (oder einer anderen Flüssigkeit) Wärme zu, so erhöht sich seine Temperatur. Wenn der Siedepunkt erreicht ist, geht die quantitative Änderung (Temperaturerhöhung) in eine qualitative Änderung über: Das Wasser wird zu Gas (Wasserdampf), wobei während dieser Umwandlungsphase die Temperatur nicht weiter ansteigt. Sinkt dagegen die Temperatur, so geht am Gefrierpunkt die quantitative Änderung (Temperaturabnahme) in eine neue Qualität über: Dabei ändert das Wasser seinen Aggregatzustand von flüssig zu fest. Schmelzpunkt oder Siedepunkt sind Punkte, an denen quantitative Änderungen in qualitative umschlagen (Engels, 1979, S. 68).

Gesetz von der Durchdringung der Gegensätze

Nichts kann ohne sein Gegenteil existieren: kein Berg ohne Tal, kein Licht ohne Schatten und keine Freude ohne Leid. Dieses Prinzip kannte schon Jakob Böh- me (1575–1624): Der Widerspruch sei ein notwendiger Bestandteil aller Erscheinungen. Hegel und später Marx griffen dieses Prinzip auf. Engels formulierte die These: Die Entwicklung in Natur und Gesellschaft vollzieht sich in Gegensätzen, die durch ihren Streit und ihr Aufgehen ineinander Höheres und Neues hervorbringen (Engels, 1979, S. 71). Ein solcher Gegensatz ist z.B. der Arbeitskampf zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern. Um auf dem Markt bestehen zu können, müssen Arbeitgeber ihre Gewinne maximieren. Dem stehen die Lohnforderungen der Arbeitnehmer entgegen. Dieser Gegensatz führt zum Arbeitskampf.

Ein anderes Gegensatzpaar ist der Gegensatz zwischen Nord- und Südpol eines Magneten. Die Pole sind einander entgegengesetzt, aber der eine kann nicht ohne den anderen existieren. Wenn wir einen Magneten zerbrechen, haben wir nicht in dem einen Bruchstück den Südpol und in dem anderen den Nordpol. Jedes dieser Bruchstücke bildet wieder einen eigenen Magneten mit einem Nord- und einem Südpol. Auch Leben und Tod schließen einander aus, und doch gehören sie zusammen. In jedem Lebewesen finden Zerfallsprozesse statt, die für den Tod typisch sind. Andererseits ist der Tod die Voraussetzung für neues Leben. So bilden abgestorbene Organismen die Nahrungsgrundlage für andere Organismen, die dadurch überleben und neues Leben hervorbringen. Der Gegensatz zwischen Leben und Tod ist auch insofern nicht absolut, als es nicht immer möglich ist, eine scharfe Grenze zwischen Leben und Tod zu ziehen. Dies zeigt sich beispielsweise bei der Frage, ob Viren Lebewesen sind oder nicht. Nach der klassischen Definition von Leben sind sie es nicht, da sie keinen eigenen Stoffwechsel betreiben und sich nicht selbstständig vermehren. Zumindest befinden sie sich genau im Zwischenbereich zwischen Leben und Tod.

Gesetz von der Negation der Negation

Die Entwicklungsstadien von Bienen, Käfern, Fliegen und Motten: Ei, Larve (auch Raupe), Puppe und ausgewachsenes Tier. Jedes Stadium ist die Negation des anderen: die Raupe als Negation des Eies, die Puppe als Negation der Raupe und z.B. ein farbenprächtiger Schmetterling als Negation der Puppe. Mit dem Schmetterling beginnt diese Entwicklung auf einer höheren Stufe von Neuem, sobald er Eier gelegt hat. Ein solcher Entwicklungsgedanke kommt im dritten dialektischen Grundgesetz zum Ausdruck. Es ist das Gesetz von der Negation der Negation. Alles Gewordene ist das Ergebnis einer früheren Entwicklungsstufe: Das Neue ist die Negation einer früheren Stufe.

Engels zitierte Hegels Beispiel einer Blüte (Engels, 1979, S. 76): Die Blüte als Negation der Knospe, die Frucht als Negation der Blüte bzw. als Negation der Negation der Knospe. Ein anderes Beispiel ist ein Getreidekorn. Wenn wir das Getreidekorn in die Erde legen, entwickelt sich daraus der Keimling. Vom Korn ist nach einiger Zeit nichts mehr zu sehen. Der Keimling ist also die Negation des Getreidekorns. Aus dem Keimling entwickelt sich eine Pflanze, die in ihrer Ähre wieder eine Vielzahl von Getreidekörnern enthält. Die Pflanze mit ihrer Ähre ist die Negation der Negation des Getreidekorns. Auf einer höheren Stufe finden wir das Getreidekorn wieder.

Das Gesetz von der Negation der Negation demonstrierte Engels auch an einem Beispiel aus der Mathematik: a sei eine Zahl größer Null. Wir negieren die Zahl a durch Umkehren ihres Vorzeichens -a. Aus der positiven Zahl wird eine negative. Diese Negation negieren wir, indem wir die negative Zahl mit sich selbst multiplizieren: (-a)⸱(-a). Das Produkt von zwei negativen Zahlen ist eine positive Zahl: +a². Die Zahl +a² ist das Ergebnis der Negation der Negation von a. Man erhält eine positive Zahl auf einer höheren Stufe, nämlich in der Form der zweiten Potenz von a (oder a zum Quadrat) (Engels, 1979, S. 77). Als Beispiel für eine Negation der Negation führt Engels auch die Entwicklung der Philosophie an. So sei die antike (vorsokratische) Philosophie ein ursprünglicher und naturwüchsiger Materialismus gewesen. Zur Negation des antiken Materialismus habe seine Unfähigkeit geführt, das Geistige zu erfassen. Aus dieser Negation sei der Idealismus entstanden. Schließlich sei der Idealismus unhaltbar geworden, und aus seiner Negation sei der moderne (und hier meint Engels die von ihm und Marx entwickelte Form) Materialismus entstanden. Der moderne Materialismus sei also die Negation der Negation des antiken Materialismus (Engels, 1979, S. 79).

Auch in der Weltgeschichte sah Engels die Gültigkeit des Gesetzes von der Negation der Negation bestätigt. So endete mit dem Aufstieg Konstantinopels und dem Fall Roms die klassische Antike (Zeit der Griechen und Römer). Es begann das Mittelalter, das als Negation der Antike interpretiert werden kann. Das Ende des Mittelalters ist untrennbar mit dem Fall Konstantinopels verbunden. Mit der Wiederentdeckung der griechischen Antike begann im Humanismus und in der Renaissance die Neuzeit. Damit vollzog sich mit der Neuzeit die Negation der Negation der Antike (Engels, 1979, S. 79).

Es geht beim Gesetz von der Negation der Negation um Aufhebung, Weiterentwicklung und Rückkehr auf einer höheren Stufe. Bildlich könnte man sich die Negation der Negation als Spiralbewegung entlang der Zeitachse vorstellen.

Eine Nachbetrachtung

Insbesondere Marx hat eine große praktische Wirkung entfaltet. Marx machte deutlich, wie stark die Ökonomie die Lebensverhältnisse, die institutionellen Strukturen und die Handlungen und Motive der Menschen beeinflusst. Ein aktuelles Beispiel ist etwa der für das kapitalistische System so grundlegende Wachstumsgedanke: Wachstum als Motor des Fortschritts und gleichzeitig als Ursache einer nie dagewesenen Umweltzerstörung. Wirtschaftsunternehmen sind aufsteigende Gewinne und Wachstum ausgerichtet. Dieser Gedanke bestimmt das Denken und Handeln der Menschen in der modernen Industriegesellschaft: Wir kaufen immer modernere technische Geräte, wir erwarten steigende Löhne und Gehälter, wir unternehmen Reisen in immer entferntere Regionen der Erde, wir steigern unsere Ansprüche an das Leben, wir sind ständig auf der Suche nach dem ultimativen Kick, wir optimieren unseren Körper immer weiter, wir steigern unsere durchschnittliche Lebenserwartung, wir kommunizieren immer schneller und mit immer größeren Datenmengen, unsere Computer und Datennetze werden immer schneller und wir erwarten ein immer größeres Angebot an Nahrungsmitteln und anderen Konsumgütern.

Marx und Engels ist es gelungen, einen Materialismus zu entwickeln, der sich vom Stoffdenken des mechanischen Materialismus gelöst hat. An die Stelle einer konkreten materiellen Grundlage (z.B. Atome oder Moleküle) trat die Vorstellung einer objektiven Realität.

Der Materialismus von Marx und Engels knüpfte an die Dialektik Hegels an, aber im Gegensatz zu Hegel suchten Marx und Engels den engen Schulterschluss mit den Wissenschaften ihrer Zeit. Marx und Engels wollten ihr philosophisches Gebäude nicht aus einem festen Begriffssystem entwickeln, sondern ihre Begriffe aus Natur und Gesellschaft ableiten.

Engels arbeitete heraus, dass ein kausales Denken in linearen Ursache-Wirkungsketten nicht ausreicht, um den modernen Wissenschaften gerecht zu werden. Die heutigen Wissenschaften haben diese Erkenntnis bestätigt: Insbesondere in der Chemie, der Biologie und den Sozialwissenschaften sind Vernetzungen und zyklische Zusammenhänge typisch.

Dennoch ist die ökonomische Lehre von Marx in der Praxis gescheitert. Denn es ist nicht gelungen, aus der ökonomischen Theorie von Marx eine überprüfbare Vorhersage abzuleiten. Dazu bedürfte es strenger Gesetze. Ein solches Gesetz hat Marx nur an einer Stelle angegeben. Es ist das sogenannte Gesetz vom tendenziellen Fall der Profitrate, das sich in folgender Form niederschreiben lässt.

Mit p = Profitrate; s = Mehrwert; c = konstantes Kapital; v = variables Kapital Es gilt: c+v (Gesamtkapital); m = s/v (Mehrwertrate bzw. Ausbeutungsrate); g = c/v (organische Zusammensetzung des Kapitals)

Konstantes Kapital: Rohmaterial, Hilfsstoffe und Arbeitsmittel

Variables Kapital: Wert der Arbeitskraft, deren Nutzungsrecht vom Kapitalisten gekauft wird Mehrwert: der Überschuss, den die Arbeitskraft über das zur Reproduktion Nötige hinaus produziert und den sich der Kapitalist aneignet

Marx ging davon aus, dass sich die Mehrwertrate m durch den technischen Fortschritt nicht verändert, während die organische Zusammensetzung des Kapitals g im Laufe der Zeit ständig zunimmt. Die Folge davon müsse ein Sinken der Profitrate sein, was zu einer Zunahme von Ausbeutung und Unterdrückung und schließlich zum Zusammenbruch des kapitalistischen Systems führe. Genau dies ist jedoch nicht eingetreten, was z.B. mit der gestiegenen Effizienz der Produktionsanlagen zusammenhängt, aber auch mit Tarifabschlüssen, die zu tendenziell steigenden Löhnen geführt haben (Herrmann, 2018, S. 51).

Das Gesetz vom tendenziellen Fall der Profitrate ist ein gutes Beispiel für eine selbstzerstörende Prognose. Selbstzerstörende Prognosen treten in sozialen Kontexten auf. So ist es einem Meteoroid gleichgültig, ob man ihm zuruft:

‚Du wirst in einer Minute in der Erdatmosphäre verglühen!‘ Dagegen wird ein schwerkranker Mensch, sobald er von seiner Diagnose erfährt, die Folgen seiner Krankheit verhindern oder zumindest lindern wollen. Ebenso wird der Arbeiter versuchen, der zunehmenden Verelendung entgegenzuwirken. Auf der anderen Seite wollen die Kapitalisten den Zusammenbruch des Kapitalismus verhindern, was in der Summe zu Bedingungen führt, unter denen das Gesetz des tendenziellen Falls der Profitrate nicht mehr gilt.

Die sowjetische Form des dialektischen Materialismus sah in den Gesetzen der Dialektik ‚Naturgesetze‘, die Gesellschaft, Denken und Natur gleicher- maßen bestimmen. Engelsʼ Unterscheidung einer objektiven und einer subjektiven Dialektik begünstigte solche Interpretationen:

Die Dialektik, die sog. objektive, herrscht in der ganzen Natur, und die sog. subjektive Dialektik, das dialektische Denken, ist nur Reflex der in der Natur sich überall geltend machenden Bewegung in Gegensätzen, die durch ihren fortwährenden Widerstreit und ihr schließliches Aufgehen ineinander, resp. in höhere Formen, eben das Leben der Natur bedingen. (Engels, 1979, S. 71).

Das Konzept der ‚objektiven Dialektik‘ stellte die dialektischen Grundgesetze auf eine Stufe mit den Naturgesetzen, was zu fatalen Fehlschlüssen führte. Ein Naturgesetz hat die Eigenschaft, etwas voraussagen zu können. Wenn ich das Fallgesetz kenne, kann ich vorhersagen, dass ein Stein, der aus 10 m Höhe fällt, nach etwa 1,43 s auf dem Boden aufschlägt. Es ist jedoch keine einzige Entdeckung bekannt, die mit Hilfe der dialektischen Grundgesetze vorhergesagt wurde. Die dialektischen Gesetze können als Interpretationsrahmen für Vorgänge in Natur und Gesellschaft angesehen werden. Damit verlieren sie aber den Charakter allgemeiner Gesetze. Vor allem im Marxismus sowjetischer Prägung (Marxismus-Leninismus) wurde unter Berufung auf die dialektischen Gesetzmäßigkeiten eine Entwicklung der Gesellschaftsformen prognostiziert, die letztlich zu einer kommunistischen Gesellschaft führen sollte. Eingetreten ist das Gegenteil: der Zusammenbruch des real existierenden Sozialismus. Ironischerweise richtete sich die sozialemanzipatorische Idee von Marx Ende der 1980er Jahre gegen die sozialistischen Regime, die sich als Vollender der Marx’schen Idee verstanden. Unter dem Motto ‚Wir sind das Volk‘ stürzten die Menschen in der ehemaligen DDR die Lebens- und damit auch die Produktionsverhältnisse, unter denen sie nicht mehr leben wollten. Der Wille des Volkes wurde Ende der 1980er Jahre zur Praxis einer friedlichen Revolution. Der Zusammenbruch des real existierenden Sozialismus lässt sich mit Bezug auf Marx gut verstehen: Eine Gesellschaft geht nicht unter, solange sie ihre Kräfte noch entfalten kann (MEW, Bd. 3, S. 9). Mit der ungeheuren Dynamik der Produktivkräfte der kapitalistischen Gesellschaft konnte die sozialistische Zentralverwaltungswirtschaft nicht Schritt halten.

Im Materialismus von Marx und Engels wird der Begriff der Materie selbst zum Problem: Materie als Gegensatz zum Bewusstsein, als das, was außerhalb und unabhängig vom Bewusstsein existiert. Wie aber kann man sich sinnvoll auf bewusstseinsunabhängige, materielle Verhältnisse in Natur und Gesellschaft beziehen, ohne bereits auf Konstruktionen des Bewusstseins wie Teilchen, Festkörper, Flüssigkeiten, Arbeitskraft, Produktionsverhältnisse oder Staat zurückzugreifen?

In der sowjetischen Version des dialektischen Materialismus war die Formulierung beliebt, das Bewusstsein ‚widerspiegele‘ die Materie. Aber was ist mit Widerspiegelung gemeint? Ist mit Widerspiegelung gemeint, dass materielle Gegenstände wie Bäume, Häuser und Gestirne vom Bewusstsein ‚fotografisch‘ abgebildet werden? Dass Wahrnehmung nicht im Sinne einer fotografischen Abbildung verstanden werden kann, haben schon vor Marx und Engels die Arbeiten von Berkeley, Hume und Kant gezeigt. Aber gerade diese Autoren waren, vor allem in der leninistischen Version des Materialismus, als Idealisten verschrien, und so ist es nicht verwunderlich, dass ihre Argumente keinen Anklang fanden.

Materie bestimmt das Geistige: Ohne ein Konzept von Materie (z.B. Teilchen, Feld, Energie oder Nervenzelle) sind naturwissenschaftliche Theorien (z.B. Mechanik, Quantentheorie oder Neurobiologie) nicht möglich.

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Zum Buch:

Was außerhalb meines Geistes ist und was ich davon wissen kann

Gedanken über Materie, Geist und Realität

von Kay Herrmann

ISBN 978-3-8260-7848-4

Es wurden u.a. Grafiken der Düsseldorfer Künstlerin Aischa Sabbouh-Eggert verwendet: https://sabbouh.de/uber-mich.html

Autor Prof. Dr. phil. Dipl.-Phys. Kay Herrmann über sich:

Mir ist es wichtig, Wissenschaft nicht nur für Fachkreise darzustellen, sondern allen Interessent:innen zugänglich zu machen. Deshalb sollen im Buch philosophische Hauptgedanken auch grafisch illustriert werden.

Als Physiker hat mich immer wieder beeindruckt, dass sich die Grundgesetze der Physik meist in mathematisch schönen und sehr einfachen Formen darstellen lassen. Deshalb spielte die Verbindung von Wissenschaft und Kunst in meinem Leben stets eine besondere Rolle. Von dieser Idee sind auch meine Installationen beseelt, die ich unter dem Projektnamen ‚Kosmografikum‘ zusammengefasst habe. Ziel ist es, physikalische und mathematische Objekte (z.B. ein 17 Meter langes Foucaultsches Pendel oder das Modell eines Hyperwürfels) in einer künstlerisch wertvollen und spannenden Form zu präsentieren (https://www.kayherrmann.de/kosmografikum.html).

Der Autor ist seit Februar 2019 Außerplanmäßiger Professor für Philosophie mit dem Schwerpunkt Wissenschaftstheorie an der Technischen Universität Chemnitz, Institut für Pädagogik.

„Wissenschaft liefert Erklärungen. Aber Erklärungen sagen nicht viel über Wahrheit und Realität. Das Reale wird als Widerstand, als Widerfahrnis, aber auch als Stabiles und Robustes erlebt.“

Sie wollen mehr zum Buch erfahren? Auf den Seiten https://www.kayherrmann.de/vita.html und https://www.kayherrmann.de/ausserhalb-meines-geistes.html sowie https://verlag.koenigshausen-neumann.de/product/9783826078484-was-ausserhalb-meines-geistes-ist-und-was-ich-davon-wissen-kann/ finden Sie weitere Informationen.

Über Kay Herrmann 10 Artikel
Prof. Dr. phil. Dipl.-Phys. Kay Herrmann. Studium der Physik und Forschungsstudium der Philosophie an der Friedrich-Schiller-Universität Jena, Lehramt für die Fächer Physik und Mathematik an Oberschulen beim Sächsischen Landesamt für Schule und Bildung, 2011 Habilitation (Privatdozent, venia legendi) im Fach Philosophie an der Technischen Universität Chemnitz, seit 2019 Außerplanmäßiger Professor für Philosophie an der Technischen Universität Chemnitz und seit 2020 Fachausbildungsleiter für Physik an der Lehrerausbildungsstätte des Landesamtes für Schule und Bildung in Chemnitz.