Seehofer und die Obergrenze – Ein philosophischer Blick auf den Begriff der „Entgrenzung“

Während auf der einen Seite die CSU an einer Obergrenze festhält und diese von Bundeskanzlerin Merkel erwartet, ja fast schon gebetsmühlenhaft einklagt, ist die Kanzlerin der Herzen, der internationalen Herzlichkeit, nicht bereit, diesen Terminus, auch auf dem CSU-Parteitag am 20. November 2015 nicht, in ihr politisches Vokabular aufzunehmen. Höchst interessant und fast ein Bühnenauftritt mit Symbolkraft war Seehofers erneutes Plädoyer für eine Obergrenze. Die Kanzlerin, danebenstehend, wirkte wie eine Primanerin, die vor versammelter Mannschaft die Leviten zu lesen bekam. Deutlich der Hinweis des Partei-Chefs, dass in diesem Punkt die CSU weiter an ihrem Kurs festhalten wird, strikt, absolut und rigoros. Merkels Gestik hingegen, die Raute war kleiner, gedrungener als sonst, musste bei der Belehrung hart mit sich ringen, um die Contenance zu wahren; nur dann und wann, spürte man doch einen merklichen Unmut der Weltpolitikern, eine gewissen Demütigung, die einer Autoritäts- und „Majestätsbeleidigung“ gleichkam. Die von der CSU erhoffte Stunde der Angela Merkel blieb in München aus. Das Resümee: Merkel blieb hart: „Es gibt keine Obergrenze“ und Seehofer konterte: „Wir sprechen uns noch.“
Auch in der Beliebtheitsskala rutscht die Kanzlerin mittlerweile, aber dafür kontinuierlich, lawinenartig in den Keller – dies nicht nur in Bayern. Der Abtritt von der Bühne in München war dann auch mehr als eilig, fast übereilig. Merkel wirkte gekränkt, ihre stoische Gelassenheit – zumindest in ihrer Mimik – dahin! Merkel und die Obergrenze wollen nicht zusammenkommen – vielleicht, weil die Kanzlerin als ehemalige ostdeutsche Bürgerin mit Grenzen einfach etwas anderes assoziiert, oder eben als Weltpolitikern die Grenzen für obsolet erklärt.
Immerhin aber, so ein Minimalkonsens in der Union, konnte man sich in den letzten Tagen darauf einigen, die Außengrenzen Europas intensiver zu sichern. Soweit ein Erfolg – geschuldet mit Sicherheit den Terrorakten von Paris! Das Thema der Stunde, zumindest in München, war aber wieder nicht das konkrete Wie, wie die aktuelle Flüchtlingssituation gelöst werden kann, sondern nur eine in Aussicht gestellte Lösung auf europäischer und internationaler Ebene, die aber Zeit braucht, die derzeit keiner hat.
Für Bismarck muss ein guter Politiker ein gutes Grenzverständnis haben Ein Blick in die Geschichte zeigt, und vielleicht orientiert sich hieran Merkels historisches Verständnis, dass es im 11. Jahrhundert noch gar keine Grenzen im heutigen Sinne gegeben hat. Es gab nur den Begriff der „Marken“, wenn es darum ging, Orte zu bezeichnen, wo sich einzelne Völker begegneten, um im Sinne der christlichen Kultur in friedlicher Gemeinschaft zu leben. Das altslawische Gegenwort dafür war „Granica“. Damit verbunden war keineswegs friedliche Koexistenz, sondern der ausdrückliche Hinweis auf die Be-Wahrung der jeweiligen Volksidentität, Religion, Sprache sowie Ritualen und Gebräuchen. So hatte es auch noch Bismarck gesehen und dafür plädiert, dass ein guter Politiker ein gutes Grenzverständnis haben müsse. Für ihn war klar: Grenzen müssen sein!
So sah es nicht nur Bismarck, so sehen es derzeit viele Bundesbürger, deren Status quo auf der Grenzziehung sowohl im privaten wie im öffentlichen Raum beruht. Grenzen sichern die Freiheit, eben die begrenzte, aber damit rechtlich legitimierte Freiheit. Ohne Grenzen oder Gesetze, gäbe es keine Rechtssicherheit, sondern blanke Willkür. Wer Grenzen überschreitet, Gesetze bricht, wird verklagt, so zumindest der Kern der demokratischen Rechtssprechung.

Die Kluft zwischen Wählervolk und Politik wird größer

In der Flüchtlingskrise offenbart sich, dass die Meinungen zwischen Politkern einerseits und vielen Bürgern andererseits auseinanderdriften, wenn es darum geht, wie weit die Souveränität des Staates noch reicht. Für viele unter ihnen bestimmt die Bundesrepublik derzeit nicht mehr, wer das Land betreten darf und sehen darin (zurecht) einen Kontrollverlust des Rechtsstaates, denn der deutsche Staat toleriert immer noch die massive und massenhafte Missachtung seiner Gesetze. 900.000 Flüchtlinge sind dieses Jahr in der Bundesrepublik angekommen. Mittlerweile fordert auch die Industrie, die zuerst – aufgrund des demografischen Wandels – die Zuwanderung begrüßt hat, weil man auf Fachkräfte hoffe, eine Obergrenze. Demographie hin oder her. Es wird eine mindestens ebenso große Herausforderung sein, die zum Teil schlecht ausgebildeten Arbeitskräfte aus dem Ausland in den deutschen Arbeitsmarkt zu integrieren. Zur Jahrhundertaufgabe, zur größten Herausforderung nach der Wiedervereinigung, wie die Kanzlerin in München hervorhob, tritt diese weitere Mammutaufgabe dazu.
Hinzu kommt, dass die Politik derzeit übersieht, dass sie ein weiteres Versprechen nicht einhalten konnte, das sie aber in Verbindung mit der europäischen Einigung gab – das der sicheren Außengrenzen. Jeder, der jetzt ruft, Europa dürfe nicht zu einer Festung werden, vergisst, dass genau das der Plan von Schengen war: keine Kontrollen mehr an den Grenzen zu Frankreich, Polen oder Österreich, dafür aber eine um so striktere an den Außengrenzen dieser Gemeinschaft. Die wurden mit Schengen nicht abgeschafft, sie Grenzlinien wurden nur verschoben, hier sind wir seit dieser Woche ein Stück weiter.
Was geschieht aber, so könnte man fragen, wenn der Gesetzesbruch seitens der Bundesregierung gebilligt, ja, was zumindest den Schengen-Vertrag betrifft, zu einer bloßen Marginalie verkommt? Dies könnte doch sekundär mit implizieren, dass sich auch Bundesbürger demnächst ihre eigenen Gesetze machen und ganz legitim Recht brechen. Wohin die eigene Rechtssprechung, Gewissenlosigkeit und ein entgrenztes Rechtsverständnis – samt subjektivem Gerechtigkeitsverständnis – führen, belegen linke und rechte Gewalt ja täglich in der gesamten Bundesrepublik: Hetze, Pöbeleien, brennende Asylzentren, aufgestellte Galgen für Politiker, die öffentlich zum Mord aufrufen. Dresden ist da leider keine Ausnahme.

Grenzenlosigkeit eröffnet Freiräume, die mit dem Recht kollidieren

Entgrenzung eröffnet Freiräume, die mit dem gesetzten Recht kollidieren. Denn jeder nimmt sich dann sein Recht, wird Richter aus subjektiven Ermessens- und Gewissensgründen. Damit aber wären wir faktisch im unbefriedeten, rohen Naturzustand, samt dem Recht des Stärkeren, wieder angekommen. Alle Mühen um Rechtsordnung, Legitimation und Legalität von Rechtstheoretikern à la Hobbes bis Kirchhof würden substantiell entkleidet und der demokratische Rechtsstaat letztendlich obsolet. Das Resultat wäre ein „Kontrollverlust“, wie der „Der Spiegel“ titelte, der aber, und dies ist neu, kontrolliert vollzogen wird. Die Überschreitung der Gesetze, der rechtlichen Demarkationslinie, impliziert die Metapher vom Rubikon, den Cäsar einst überschritt und damit dem Römischen Senat den Krieg erklärte.
Grenzen bewahren vor Krieg, halten diesen zumindest zeitweise auf, Terrorakte hingegen machen auch vor Grenzen bekanntlich keinen Halt. Dieser Logik der Begrenzung widerspricht aber die Bundeskanzlerin, wenn sie glaubt, dass offene Grenzen in Europa die Kriegsgefahr vermindern. „Den Rubikon überschreiten“, also die Grenzlinie, steht auch heute noch dafür, sich unwiderruflich auf eine riskante Handlung einzulassen – dem muss sich auch Bundeskanzlerin Merkel bewußt sein, und sie ist sich dessen nach Paris auch ein Stück weit bewußt geworden, selbst wenn sie mit ihrer Entgrenzungsstrategie bei der Flüchtlingspolitik möglicherweise unserer Zeit weit voraus und bereit ist, das Ende des Westens vorwegzunehmen und die Interkulturalität einzuläuten. Wenn dies also ihr „historischer Weitblick ist, der sie antreibt, so „überfordert er nicht nur Europa“, wie Jochen Buchsteiner in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung schrieb, sondern eben auch die Bundesbürger.
Während für die einen die Grenze Substanz bedeutet, die Souveränität, Autonomie und Rechtsstaatlichkeit garantiert, ja zur Existenzfrage und Gretchenfrage eines politischen, ökonomischen und moralischen machtvollen Europas wird, sind Grenzen für die anderen obsolete Relikte vergangener Zeiten. Sie stehen symbolhaft für einen überwundenen Nationalismus, für politische Rückständigkeit und provinzielles Denken. Grenzen zu akzeptieren widerspricht einem emanzipierten Lebensgefühl, dem Weltoffensein und dem Selbstbestimmungsindividualismus. Sie sind und bleiben restriktive Zeichen von Exklusion, und ihre Vertreter setzen die Prämisse auf die radikale Überwindung der Inklusion als Prinzip.

Die postmoderne Entgrenzung

Ein Blick in die Geschichte der letzten hundert Jahre zeigt, wem diese Denkschablonen der Entgrenzung ursächlich mit zu verdanken sind, beziehungsweise, wo diese ihren Ursprung haben, was aber keinerseits bedeuten soll, dass diese – oft philosophischen Denkmuster – ad absurdum zu führen sind. Sie sind ein notwendiger Teil reflexiver Selbstbestimmung und damit freiheits- und rechtskonform.
In diese Richtung gehen Strukturalismus und Postmoderne gleichermaßen. Ferdinand de Saussure und seine Semiologie, Claude Lévi-Strauss mit seinen ethno-soziologischen Studien und mit seiner Unterscheidung in kalte und heiße Gesellschaften und – darüber hinausgehend – die Renaissance der Begriffe Kontiguität, Similarität und Opposition. Sie sind es, die für einen Strukturwandel mit Blick auf die Entgrenzung stehen. Noch deutlicher zeigt sich diese Entwicklung bei den Postmodernisten, den Post-Aufklärern und den Vertretern der Posthistoire. Sie postulieren, dass Grenzen, historische Begrenzungen, aufzuheben sind, sei es in der Kunst, Philosophie, Politik und Geopolitik. Für ihre Protagonisten sind sie nichts anderes als unsägliche Beschränkungen der Meinungsfreiheit. Darüber hinaus inkludieren sie beklemmende Denkmuster, die der offenen Gesellschaft diametral entgegenstehen. Gilles Deleuzes „Differenz und Wiederholung“, Termini wie Heterogenität, Vielheit, nomadische Wissenschaft und der organlose Körper sowie Jacques Derridas différance-Schrift, wo das Subjekt entsubjektiviert und die die Schrift verobjektiviert wird sowie die monochromatische Kunst und die avantgardistischen Montagetechniken des Films – ihnen allen gemein ist die Demarkierung, die Entgrenzung. Mehr noch: die Grenzenlosigkeit ihrerseits wird zum Prinzip erklärt. Die Differenz als Prinzip, dies haben sich die 68er dann zur Maxime gemacht und dabei das Reelle zugunsten des Virtuellen aufgegeben.


Platon und die Idee der Einheit

Der Platonismus samt seiner Begrifflichkeit vom All-Einen, die Totalität von Allem im Einen wurde gekippt. Dabei wußte schon Platon, dass Vielheit ohne Einheit, Grenze, nicht denkbar noch erkenntnistheoretisch bestimmbar war. Einheit und Vielheit bedingen sich, ohne Einheit keine Vielheit, aber eine bloße Vielheit, eine Unbestimmtheit oder Grenzenlosigkeit an sich, läßt sich weder denken noch realpolitisch, im Staatsgebilde, umsetzen. Selbst für den deutschen Idealisten Johann Gottlieb Fichte war die Unbestimmtheit nur Grund zur Bestimmtheit und damit zur Selbstbestimmung sowohl in erkenntnistheoretischer als auch praktischer Hinsicht. Immanuel Kant seinerseits forderte 1794 eine „Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft“, eine philosophische Religionslehre, die auf der Vernunft beruht, die sogenannte Vernunftreligion. Nur zu gut wußte Kant, wohin es führt, wenn die Vernunft von der Religion verführt wird. Kant leitete somit das Recht nicht aus der Natur des Menschen ab, sondern verstand dieses als ein von Menschen konstituiertes Vernunftrecht, das unabhängig von allen historischen, kulturellen, sozialen und religiösen Umständen Gültigkeit besitzt. Gott, Freiheit und Unsterblichkeit bleiben dann eben nur regulative Ideen. Dass er die Religion dabei in die Grenze zwang, dazu war ihm der Terror der Französischen Revolution Grund genug.


Kants Postulat des Sittengesetzes als Grenze

Moralisches Handeln ist für den Königsberger Philosophen nur aus Pflicht möglich, sofern sich der Mensch aus Freiheit für das moralische Gesetz, die Grenze, Selbstbegrenzung, das Sittengesetz, entscheidet. Das Freiheitsrecht bleibt dann das einzige Menschenrecht, von dem sich alle anderen Menschenrechte – einschließlich der allgemeinen Gleichheit aller Menschen in einem Staat und der Selbständigkeit – deduzieren lassen. Und demgemäß sieht Kant die Legitimation und vorrangige Aufgabe des Rechtsstaates genau in dieser Sicherung und Erhal-tung des Freiheitsrechts durch das begrenzte Sittengesetz. Die Wahrung des Freiheitsrechts wird somit für den Philosophen der Aufklärung zur Legitimation des Staates. Verletzt der Staat die Freiheitsrechte, so tastet er damit seine eigene Legitimation an.
Nochmals: Freiheitsrechte haben Gesetzescharakter, sind nicht willkürlich, entgrenzt. Später wird Georg Wilhelm Friedrich Hegel betonen: „Freiheit ist Einsicht in die Notwendigkeit“. Freiheit und Notwendigkeit widersprechen sich bei Hegel nicht.
Karl Lamers, der ehemalige Vizepräsident der Europäischen Volkspartei (EVP), betonte schon vor Jahren mit Blick auf Europa: „Diese Notwendigkeit ist die in Europa extrem dichte transnationale Wirklichkeit, welche ja das Grundprinzip der nationalstaatlichen Organisationsform von Politik aufhebt, nämlich die Grenzen.“ Dies darf aber im Umkehrschluß nicht bedeuten, dass Europa seine Grenzen aufgeben darf – Schengen muss verbindlich bleiben. Nationale Einheit und Notwendigkeit und transnationale Freiheit und Differenz sind nur zusammen denkbar.
Eine unbegrenzte Inklusion bleibt eine naive Illusion, selbst wenn sie eine Hoffnung, eine Utopie wäre. Oder anders formuliert: Entgrenzung kann nicht das Ende einer politischen Kultur sein, selbst um der Humanität, die geboten und wichtig ist, willen. Grenzen sind Schutzwälle, die Identität definieren, sie bewahren uns vor jeglicher Form von Beliebigkeit und Gleichmacherei, sie definieren die Nationalstaaten wie die Europäische Union, wie aber auch jedes andere Land dieser Erde. Kein Land kann seine Grenzen aufgeben, ohne sich selbst zu verlieren. Dies gilt nach den Terroranschlägen von Paris umso mehr, denn hier zeigt sich die Entgrenzung in ihrer barbarischen Fratze, jeglicher Kultur, moralischer Grenze entkleidet.

Über Stefan Groß-Lobkowicz 2159 Artikel
Dr. Dr. Stefan Groß-Lobkowicz, Magister und DEA-Master (* 5. Februar 1972 in Jena) ist ein deutscher Philosoph, Journalist, Publizist und Herausgeber. Er war von 2017 bis 2022 Chefredakteur des Debattenmagazins The European. Davor war er stellvertretender Chefredakteur und bis 2022 Chefredakteur des Kulturmagazins „Die Gazette“. Davor arbeitete er als Chef vom Dienst für die WEIMER MEDIA GROUP. Groß studierte Philosophie, Theologie und Kunstgeschichte in Jena und München. Seit 1992 ist er Chefredakteur, Herausgeber und Publizist der von ihm mitbegründeten TABVLA RASA, Jenenser Zeitschrift für kritisches Denken. An der Friedrich-Schiller-Universität Jena arbeitete und dozierte er ab 1993 zunächst in Praktischer und ab 2002 in Antiker Philosophie. Dort promovierte er 2002 mit einer Arbeit zu Karl Christian Friedrich Krause (erschienen 2002 und 2007), in der Groß das Verhältnis von Metaphysik und Transzendentalphilosophie kritisch konstruiert. Eine zweite Promotion folgte an der "Universidad Pontificia Comillas" in Madrid. Groß ist Stiftungsrat und Pressesprecher der Joseph Ratzinger Papst Benedikt XVI.-Stiftung. Er ist Mitglied der Europäischen Bewegung Deutschland Bayerns, Geschäftsführer und Pressesprecher. Er war Pressesprecher des Zentrums für Arbeitnehmerfragen in Bayern (EZAB Bayern). Seit November 2021 ist er Mitglied der Päpstlichen Stiftung Centesimus Annus Pro Pontifice. Ein Teil seiner Aufsätze beschäftigt sich mit kunstästhetischen Reflexionen und einer epistemologischen Bezugnahme auf Wolfgang Cramers rationalistische Metaphysik. Von August 2005 bis September 2006 war er Ressortleiter für Cicero. Groß-Lobkowicz ist Autor mehrerer Bücher und schreibt u.a. für den "Focus", die "Tagespost".

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