In den Wochen, bevor wir unseren Urlaub antraten, wurde ich immer wieder gefragt, wohin an der Ostsee wir denn führen. Und ich antwortete immer: „Auf die Halbinsel Zingst in Mecklenburg!“ Dass das nicht stimmt, hätte ich wissen müssen. Rügen und Hiddensee, wo Gerhart Hauptmann (1862-1946) begraben liegt, sind pommersche Inseln. Die Halbinsel Zingst liegt zwischen Rostock/Mecklenburg und Stralsund/Pommern. Die Grenze zwischen Mecklenburg, das bis 1918 aus zwei Herzogtümern (Mecklenburg-Schwerin und Mecklenburg-Strelitz) bestand, und der preußischen Provinz Pommern verläuft an der Recknitz. Die DDR-Behörden haben 1950 die Städte Ribnitz/Mecklenburg und Damgarten/Pommern zur Doppelstadt vereint, um den Unterschied zwischen Mecklenburg und Pommern zu verwischen. Vorgestern, am 8. Oktober, kam ein Film im NDR-Fernsehen über die kleine Insel Öhe an der Rügener Westküste, die seit 700 Jahren in Familienbesitz ist und auch zu DDR-Zeiten nicht enteignet wurde. Der heutige Seniorchef ist mit 18 Jahren, nach dem Abitur, weil er nicht studieren durfte, mit dem Ruderboot über die Ostsee nach Dänemark geflohen und wohnte dann in Laboe bei Kiel. Im Jahr 2006 ist die Familie Schilling auf die 75 Hektor große Insel zurückgekehrt, wo Juniorchef Mathias Schilling heute Rinder, Heidschnucken und Wasserbüffel züchtet. Er hat auch mehrere Restaurants eröffnet, so im Hafen von Schaprode/Rügen, in Vitte/Hiddensee und in Kloster/Hiddensee.
Am 21. September um 7.35 Uhr fuhren wir beschwingt und voller Urlaubsfreude von Coburg über Thüringen Richtung Berlin. Unsere Coburger Freunde, die mit uns ein Haus gemietet hatten, waren mit ihrem Elektro-Auto (in Wirklichkeit war das ein Hybrid) schon vorausgefahren. An der Raststätte Teufelsthal bei Hermsdorf legten wir eine Kaffeepause ein. Wir mussten, obwohl meine Frau das gerne vermieden hätte, über den Berliner Ring und dann Richtung Hamburg/Rostock fahren. Wir kamen an Falkensee vorbei, wo der mir befreundete Schriftsteller Karl Heinz Jakobs (1929-2015), ein geborener Ostpreuße, gewohnt hatte, dessen 1961 erschienenen Roman „Beschreibung eines Sommers“ ich im Zuchthaus Waldheim gelesen hatte. Später las ich den Städtenamen Fehrbellin. In der Schlacht von Fehrbellin hatten die Preußen 1675 die schwedischen Truppen besiegt.
Von Rostock, wo wir die Autobahn verließen, wurden wir auf Landstraßen durch Ribnitz-Damgarten geleitet und erreichten über eine Brücke bei Barth die Halbinsel Zingst. In der Stadt gleichen Namens hatten wir die Hälfte eines Bauernhauses (das zwei Eingänge hatte) gemietet mit zwei Schlafzimmern, zwei Badezimmern, einem Wohnzimmer und einer Küche. Die Halbinsel Zingst ist nur ein Teil einer Halbinsel, die sich von Dierhagen (wo Egon Krenz seinen Lebensabend verbringt) bis Pramort erstreckt. Die beiden anderen Teile heißen Fischland und Darß.
Am Freitag, 22. September, wurden wir von unserer Enkeltochter Mariechen (27) um 8.35 Uhr angerufen und standen dann auf. Unsere Freunde hatten schon Brötchen geholt und die OSTSEEZEITUNG mitgebracht. Wir gingen dann einkaufen. Es gibt in Zingst zwei EDEKA-Supermärkte, die auch sonntags geöffnet sind. Wir wollten Fisch kaufen, weil wir abends nur Fisch essen wollten. Am Hafen, wo es ein Fischrestaurant gibt, stand der FUTTER KUTTER, wo es alle möglichen Fischsorten zu kaufen gab mit Pommes frites oder Bratkartoffeln und Fischbrötchen. Einmal waren nur drei junge Ukrainerinnen im Kutter, die kaum Deutsch sprachen. Sie riefen dann in verkürzter Form die Bestellungen auf, wenn die Mahlzeiten zubereitet waren: „Barsch-Brat“ hieß dann „Rotbarsch mit Bratkartoffeln“. Die deutsche Bedienung erklärte uns dann, sie hätte keine anderen Leute gefunden. Am Hafen sahen wir auch einen Schaufelraddampfer, wie ich ihn, aber wesentlich größer, vom Mississippi kannte. Im April 1974 nahm ich in St. Louis/Missouri an einer Tagung über DDR-Literatur teil, danach fuhren wir auf dem Fluss, begleitet von einem Jazzkonzert. Ich nannte das „Ragtime and Bitterfeld“. Im Supermarkt gab es auch überregionale Zeitungen. Am Hafen stand auch eine Art Denkmal, schwer zu entdecken, mit dem Titel „Die Letzten ihrer Zunft“. Hier waren alle Fischer mit Fotos vertreten, die zwischen Flensburg und Stettin noch den Fischfang im Hauptberuf betreiben. Es waren ausdrucksvolle, von Wind und Wetter gegerbte Gesichter von Männern zu sehen, die noch tags und nachts Fische an Land holen. Auf der Halbinsel Fischland, Darß, Zingst sind es noch 18. Mit denen hätte ich mich gerne einmal unterhalten! Abends gab es ein großes Fischessen zu viert! Nach Mitternacht gratulierte ich meiner Gabriele zum 68. Geburtstag am 23. September (das war auch unser Hochzeitstag 2006).
Am Samstag, 23. September, fuhren wir mit der Fähre vom Hafen Zingst (das ist der Name der Halbinsel und der Stadt dort) drei Stunden zur Ostseeinsel Hiddensee, die langgestreckt westlich von Rügen liegt. Die Morgensonne schien uns ins Gesicht, als wir in der Kombüse ein reichhaltiges Frühstück zu uns nahmen. Mir fiel auf einmal der Roman „Die Hochzeit von Länneken“ (1960) des DDR-Schriftstellers Herbert Nachbar (1930-1980) ein. Er wurde als Sohn eines Fischers in Wieck bei Greifwald geboren und starb an einer schweren Krankheit mit 50 Jahren. Im Roman geht es um den Konkurrenzkampf zweier Fischer auf Hiddensee, der noch aus der Zeit vor 1945 herrührt. Unter den Einheimischen heißt die Insel „dat söte Länneken“ (Das süße Ländchen). Der Roman wurde 1964 von Heiner Carow für die DEFA verfilmt. Ich habe ihn 1962 in Waldheim gelesen und fand darin eine Reihe pommerscher Schimpfwörter wie „Dösbattel“ (Dummkopf), die ich gegen die beiden Mecklenburger in unserem Kollektiv einsetzte.
Auf der Fahrt durch den Bodden sahen wir Kormorane, Schwäne und Kraniche. Sie stehen nachts in kniehohem Wasser zum Schlafen, sind aber dadurch vor Füchsen sicher. Der Kapitän des Schiffes „Svantevit“ der uns das alles erklärte, hatte einen niederländischen Akzent. („Svantevit“ ist eigentlich der Name eines slawischen Kriegsgottes, der auf der Insel Rügen von den Ranen verehrt wurde.) Wir fuhren auch an der Insel Bock, östlich von Zingst gelegen, vorbei. Dieses Eiland darf nur von wenigen Menschen betreten werden, von gewöhnlichen Sterblichen wie uns also nicht. Seit 1960 steht die Insel unter Naturschutz, sie ist Kernzone des Nationalparks „Vorpommersche Boddenlandschaft“, hier rasten von September bis November Tausende von Kranichen auf dem Weg nach Afrika. Die Sperrung der Insel 1960 hatte aber noch einen anderen Grund: Das in der Ostberliner Normannenstraße ansässige „Ministerium für Staatssicherheit“ nutzte die vorgeschobene Insel, um Fluchtversuche von DDR-Bürgern nach Dänemark und Schweden zu vereiteln. Es gab dort für die Wachmannschaft fünf Bungalows, vier Finnhütten mit Wohneinheiten, eine Versorgungshütte. In den Jahren 1989/93 wurde alles abgerissen.
Wir kamen nach drei Stunden in Neuendorf an, das an der südlichen Ostküste Hiddensees liegt. Das war eine richtige Einöde, wo wir vier Stunden auf die Rückfahrt warten mussten. In dem langgestreckten Dorf mit vielen einzelnstehenden Häusern gab es drei Cafés, eins war geschlossen, das zweite beherbergte eine „Geschlossene Gesellschaft“, nur das Museumscafé war geöffnet. Vorher wurden wir auf ein „Einkaufshaus“ verwiesen, das freilich auch geschlossen war. An der Eingangstür stand „Kaffee wieder im Mai 2024. Adventsfeier 9. Dezember 2023“. Bevor wir im Museumscafé ankamen, besetzten zwei Dutzend Damen aus Sachsen-Anhalt fast sämtliche Tische innen und außen. Wir setzten uns zu einem Ehepaar, die sich auf Hiddensee kennen gelernt hatten: sie aus Erfurt, er aus Augsburg. Sie schwärmte von Ute Fritsch, die literarische Lesungen mit Texten Mascha Kalékos (1907-1975) veranstaltet. Wir wären gerne auf Hiddensee in Vitte oder noch lieber in Kloster gelandet. Dort gibt es das „Gerhart- Hauptmann-Museum“ (seit 1956), und auf dem Inselfriedhof von Kloster liegt der schlesische Dichter (1862-1946) begraben. Wir hätten von Neuendorf nach Kloster laufen können, da hätten wir aber bei der Ankunft sofort umkehren müssen, um das Schiff zur Rückfahrt zu erreichen. Bei unserem ersten Urlaub auf Rügen 2008 waren wir aber schon einmal in Kloster. Das Motorschiff „Seestern“ (nicht „Svantevit“) brachte uns zurück nach Zingst, die Landschaft unterwegs während der Rückfahrt war wunderschön, abends gingen wir Fisch essen.
Am Sonntag, 24. September, besichtigten wir ein Haus auf Zingst in der Störtebeckerstraße, wo wir ursprünglich hätten Urlaub machen wollen. Dann fuhren wir nach Barth auf dem Festland, auf dem Weg vom Parkplatz zum Markt sahen wir drei Dönerbuden. Ist Vorpommern von Türken besiedelt? In einer Bäckerei bekam ich noch die OSTSEEZEITUNG vom Samstag, 23. September. Darin stand, dass der Rechtsanwalt Peter Michael Diestel (19852 geboren), dem zu DDR-Zeiten der Titel „Verdienter Melker des Volkes“ verliehen worden war, einen Drogenhändler vor Gericht verteidigt hat, der dennoch zu sechs Jahren verurteilt wurde. Vor einem Café am Marktplatz standen Tische und Stühle. Ich bestellte mir ein Kännchen Kaffee und las Zeitungen, meine Frau und unsere Freunde schlenderten durchs Städtchen, das über einen Flughafen verfügt. Ein junger Mann setzte sich an unseren Tisch und bestellte Kaffee und Kuchen. Er erzählte, er wäre gerade umgezogen, seine Küche wäre noch nicht eingerichtet, deshalb ginge er sonntags immer essen, das hier wäre jetzt sein Nachtisch.
Von dort gingen wir zur Marienkirche, wo eine Ausstellung über das Schicksal der Juden von Barth zu sehen war. Als Motto stand ein Zitat aus dem Propheten Joel da (Joel I,1-3), der zu den kleinen Propheten Israels gehört. Ein Jude Siegmund Boehm wurde nach 1933 enteignet. Das sind ganz schreckliche Schicksale! Ich werde mich noch genauer informieren.
Dann fuhren wir zurück nach Zingst und gingen bei EDEKA einkaufen. Dieser Supermarkt hat wegen der Touristen auch sonntags geöffnet. Es gab Gravensteiner Äpfel, die wir auch in unserem Rodacher Garten hatten, und die Wochenzeitung DIE ZEIT zu kaufen. Anschließend waren wir in einem Café Softeis essen. Dort standen zur Zier Dutzende von Kaffeekannen in den Regalen. Abendessen gab es in unserem Ferienhaus. In der Abenddämmerung gingen wir an den Strand, da mussten wir nur den Deich überqueren, auf dem tagsüber Hunderte von Radfahrern entlangfuhren, in beiden Richtungen. Wir wunderten uns über rote Lampen im Watt, die immer wieder aufleuchteten, und kamen dann dahinter, dass es Windräder sein müssten.
Am Montag, 25. September, fuhren wir nach Prerow, einem Landstädtchen nordwestlich vom Hauptort Zingst an der Küste. Auch das ein wunderschöner, langgestreckter Ort mit einem gewaltigen Kulturangebot für Touristen: Dichterlesungen, Kunstausstellungen, Diskussionsabende, obwohl Mecklenburg-Vorpommern mit seinen 1,6 Millionen Einwohnern recht dünn besiedelt ist. Prerow hat nur 1492 Einwohner, bietet aber Touristen unglaublich viel. Ich setzte mich mit mehreren Zeitungen in die Bäckerei von Karl Heinz Holz, wo nur zwei Tische standen, und erzählte der bedienenden Bäckersfrau vom Zuchthaus Waldheim. Am nächsten Tag, 26. September, fuhr ich mit meiner Frau noch einmal nach Prerow. In einer Galerie gab es Zeichnungen von Günter Grass (1927-2015) und Armin Mueller-Stahl (geboren 1930 in Tilsit/Ostpreußen) zu bewundern. Die Touristen-Information bot eine Fülle von Material über Prerow und die Halbinsel Zingst. Von dort fuhren wir nach Bad Ahrenshoop im Fischland durch den Darßer Urwald. Da wäre ich gerne einmal ausgestiegen. Dort werden umgestürzte Bäume nicht weggeräumt, sie bleiben, wie es in der unberührten Natur üblich ist, liegen und dienen Insekten und Pilzen als Nahrung. An einer Stelle sah ich zwei Bäume, die gefällt worden waren, vermutlich, weil sie drohten, auf die Fahrbahn zu fallen. Auch sie blieben liegen. Gerne wäre ich einige Minuten durch diesen Urwald gelaufen, es war aber nicht möglich. Unsere Freunde waren an diesem Tag in Rostock und erzählten von der 1230 errichteten Nikolaikirche, die 1974, noch zu DDR-Zeiten, als Gemeindekirche aufgegeben wurde. In der DDR sind zahlreiche Protestanten, Katholiken weniger, auf Druck des Staates aus der Evangelischen Kirche ausgetreten, weshalb viele Kirchen überflüssig wurden. Im Turm der Nikolaikirche wurden 1976 Diensträume der Kirchenverwaltung eingebaut und in das neu errichtete Kirchendach drei Wohnetagen (32 Wohnungen).
Am Mittwoch, 27. September, fuhr ich mit meiner Frau Gabriele nach Güstrow, wo ich im Dezember 1989 schon einmal war. Damals, kurz nach dem Mauerfall am 9. November, wurden wir Honorarreferenten des GESAMTDEUTSCHEN INSTITUTS zu einer einwöchigen Reise in die DDR eingeladen. Wir hatten eine mehrtägige Vorbereitung in Lauenburg/Elbe, nicht weit weg von Lüneburg. Ich weiß noch, wie ich Angst hatte in der Nacht vor der Fahrt, weil ich nicht wusste, ob der Haftbefehl gegen mich außer Kraft gesetzt war. Wir besuchten damals Rostock, wo wir im Hotel NEPTUN wohnten, die Universitätsstadt Greifswald, wo ich ein Buch mit Prosatexten Uwe Johnsons (1934-1984) kaufen konnte (eine Sensation!) und in Güstrow wegen des Malers Ernst Barlach und Bildhauers Ernst Barlach (1870-1938), der im „Dritten Reich“ verfolgt wurde. Bei unserem jetzigen Besuch konnten wir aber kein Museum finden. Ein Mann, den wir nach dem Weg fragten, empfahl uns den Besuch des „Norddeutschen Krippenmuseums“, wozu wir aber im Spätsommer keine Lust hatten. Wir tranken Kaffee in der „Mecklenburger Backstube“ und aßen einen „Gefüllten Butterstreuseltaler“. In einer Buchhandlung suchten wir ein Buch „Güstrow, einst und jetzt“, fanden aber nichts. Es war herbstlich warm! Güstrow gehörte bis 1918 zum Großherzogtum Mecklenburg-Schwerin. Das Herzogtum Mecklenburg war 1701 aufgeteilt worden in Mecklenburg-Schwerin und Mecklenburg-Strelitz.
Am 28. September, Donnerstag, fuhren Gabriele und ich nach Ahrenhoop an den Strand, um nur aufs Meer zu schauen. Bevor man in den Ort einfährt, gibt es einen Parkplatz mit Toilette. Wir hatten Klappstühle dabei und Zeitungen, die ich unterwegs in Prerow gekauft hatte. Aber es war unmöglich, Zeitung zu lesen, weil der auflandige Wind die Seiten von selbst umblätterte. Also setzten wir uns weiter oben auf eine Bank, und ich las Gabriele eine Geschichte von Ludwig Thoma vor. Ein Ehepaar mittleren Alters ging an uns vorbei zum Strand, die Frau mit Krücken etwas beschwerlich, später sahen wir den Mann nackt in der kalten Ostsee schwimmen. Nach einer Stunde gingen wir ins Café Hagedorn und aßen Zwiebelkuchen, der anders aussah als der in Coburg, der flach auf Kuchenblechen gebacken wird. Hier in Ahrenshoop sah er aus wie eine Torte, war aber mit Zwiebeln gefüllt. An der Theke traf ich einen Sachsen aus Meißen, dem ich meinen Leipziger Standardwitz erzählte. Beim Aufbrechen ließ ich meine Strandmütze liegen, die mir Gabriele einige Tage zuvor gekauft hatte.
Bad Ahrenshoop mit Althagen und Nienhagen ist mit 680 Einwohnern eigentlich ein Dorf, vermittelt aber großstädtisches Flair. Offiziere aus der Umgebung Hermann Görings (1893-1946) hatten sich dort Sommerhäuser gebaut, die später DDR-Ärzten übergeben wurden, damit sie blieben und nicht in den Westen gingen. Sommergäste waren Hans Anselm Perten (1917-1985), der Intendant des Rostocker „Volkstheaters“, Gerald Götting (1923-2015), der Vorsitzende der DDR-CDU, und Karl-Eduard von Schnitzler (1918-2001),der als „Sudel-Ede“ bekannte Chefkommentator des DDR-Fernsehens („Der schwarze Kanal“).
Abends fand mit dem Schaufelraddampfer „River Star“ die Fahrt zur Beobachtung der zur Nachtruhe einfliegenden Kraniche statt, vorbei an den Inseln Bock und Kirr. Wir fuhren in die untergehende Sonne hinein, sahen Kormorane, Schwäne und einzelne Kraniche, auch Seeadler. Der Kapitän erzählte uns, dass die Kormorane mit ihren scharfen Schnäbeln manche Fische derart verletzen, dass sie sterben, aber nicht gefressen werden. Füchse laufen im Winter auf dem Eis auf die Insel Kirr, bleiben dort und fressen die Eier der dort brütenden Vögel. Es gäbe im Bodden 40 verschiedene Fischarten. Nach der Rückfahrt aßen wir im Hafen beim FUTTER KUTTER Rotbarsch mit Bratkartoffeln.
Am Freitag, 29. September fuhr ich mit Hans-Günther, unserem Coburger Freund, noch einmal nach Ahrenshoop, um meine vergessene Strandmütze zu holen. Danach ging es mir gesundheitlich nicht gut, und wir blieben den ganzen Tag im Haus und ruhten.
Am Samstag, 30. September, fuhren wir nach Stralsund ins OZEANEUM, wo wir während unseres ersten Urlaubs auf Rügen 2008 schon einmal gewesen sind. Ein Teil Vorpommerns mit Stralsund wie auch das Herzogtum Bremen wurden im Westfälischen Frieden 1648 dem Königreich Schweden zugesprochen. Diese Gebiete blieben schwedisch bis zum Wiener Kongress 1815. Deshalb war der deutsche Dichter und Politiker Ernst Moritz Arndt (1769-1860), der in Groß Schoritz auf Rügen geboren wurde, automatisch auch Untertan des Königs von Schweden.
Im OZEANEUM in Stralsund kann man, wie im NATURHISTORISCHEN MUSEUM in Wien, ganze Tage verbringen. Allein, um dieses Museum und seine Schätze zu sehen, sollte man nach Stralsund fahren. Das Museum ist im Juli 2008 eröffnet worden und hatte bis September 2022 acht Millionen Besucher zu verzeichnen. Es ist den Weltmeeren und der Ostsee gewidmet. In der Ostsee gibt es drei Robbenarten: Seehund, Kegelrobbe, Ringelrobbe. Die Ringelrobbe gibt es in vier Unterarten, eine davon in der Ostsee, und die ist vom Aussterben bedroht. Vor allem an den Ostküsten der Ostsee (Finnland, Russland) wurden Tausende dieser Robben regelrecht abgeschlachtet. Heute ist der Bestand vor allem an der russischen Küste gefährdet wegen der Einleitung von Schadstoffen aus Fabriken. Noch gefährlicher freilich ist die Wirkung der Erderwärmung. Die Ringelrobben gebären ihre Jungen in Schneehöhlen, wo sie sich durch die Muttermilch eine Fettschicht antrinken. Wenn es aber durch den Klimawandel keinen Schnee gibt, bleiben sie unterernährt und sterben.
Nach unserem mehrstündigen Besuch gingen wir auf den Alten Markt in Stralsund, um Kaffee zu trinken. Da ein kühler Wind wehte, setzten wir uns in den Innenraum. Ich fragte die Bedienung, wo man hier Zeitungen kaufen könnte, sie deutete auf eine Straße, wo der Supermarkt von EDEKA läge, dort gäbe es Zeitungen. Bevor ich aber EDEKA erreicht hatte, kam ich an einer Buchhandlung vorbei, wo es auch einen Zeitungsstand gab. Sie hatten alle Zeitungen, die ich brauchte, aber nur noch ein Exemplar: OSTSEEZEITUNG, FRANKFURTER ALLGEMEINE, SÜDDEUTSCHE ZEIITUNG, WELT. Mit diesen vier Zeitungen kam ich zurück ins Café und war glücklich, jetzt eine Stunde dort lesen zu können, was in der Welt passiert war.
Am Nachbartisch saßen zwei Damen mittleren Alters, eine sprach mich an, weil das Café plötzlich fast leer war. Sie sprach ein grässliches Sächsisch und stammte aus Mittweida (nu?). Wahrscheinlich hatte sie nach Stralsund geheiratet. Als die Damen gegangen waren, kam ich mit einem Ehepaar am Nachbartisch ins Gespräch: Sie waren verheiratet, hatten aber ihre Nachnamen behalten. Er war Fleischermeister, sie EOS-Lehrerin, vermutlich auch für Gesellschaftswissenschaften, was sie aber verschwieg. Aber beide waren DDR-Verteidiger, der Mauerfall und die 34 Jahre danach waren spurlos an ihnen vorübergegangen. Die Freiheiten, die sie heute genießen, waren nicht der Rede wert. Auch, als ich ihnen von den Zuständen im Zuchthaus Waldheim/Sachsen erzählte, kamen kein Bedauern oder eine kritische Bemerkung. Tendenz unseres Gesprächs: Es war nicht alles schlecht in der DDR!
Am Sonntagmorgen, 1. Oktober, fuhren wir wieder heimwärts, wir hatten neun Stunden Fahrt vor uns. Ich saß am Steuer und erinnerte mich, dass ich im Sommersemester 1959 mit meinem Kirchheimer Klassenkameraden und Berliner Studienfreund Gebhardt von Moltke (1938-2019) einmal mit einem Motorroller auf der Landstraße von Berlin nach Hamburg gefahren bin. Das war die einzige Landstraßenverbindung von Westberlin nach Westdeutschland. Wir fuhren praktisch über die Dörfer Mecklenburgs und waren den Einwohnern ganz nah. Ich erinnere mich noch an die langsame Fahrt durch Kyritz an der Knatter, wo wir durch einen Korridor von Leuten fuhren, die offensichtlich noch nie einen Bundesbürger gesehen hatten.
Gebhardt von Moltke (1938-2019) war Schlesier und der Neffe des hingerichteten Widerstandskämpfers Helmuth James von Moltke (1907-1945).Ich lernte ihn im September 1955 kennen, als ich von Rodach nach Beuren gekommen war und die Oberschule in Kirchheim/Teck besuchte bis zum Abitur im Februar 1958. Sein Vater Hans-Adolf von Moltke (1884-1943) war im diplomatischen Dienst tätig. Der aus Kirchheim stammende Theologe und CDU-Politiker (Bundestagspräsident) Eugen Gerstenmaier (1906-1986) hatte auch, wie Gebhardts Onkel, zum „Kreisauer Kreis“ gehört, einer Widerstandsgruppe in Schlesien, und Gebhardts Eltern und Geschwister 1945 nach Kirchheim geholt. Sie wohnten in einer Villa im Osten Kirchheims, an der ich täglich auf dem Schulweg vorbeifuhr. Gebhardt hat nach dem Studium Karriere gemacht im Auswärtigen Amt.
Während Gabriele neben mir noch einmal eingeschlafen war, fuhr ich über den Berliner Ring Richtung Leipzig. Da fiel mir die Geschichte mit Günter Wallraff (geboren 1942) ein, der im Oktober 1972, wenige Wochen vor meinem Abflug in die Vereinigten Staaten, an der Universität Mainz referiert hatte. Martin Ruppert, Redakteur der ALLGEMEINEN ZEITUNG in Mainz, hatte mich gebeten, über den Vortrag einen Artikel zu schreiben. Aber ich hatte wohl zu positiv über Günter Wallraffs Vortrag geschrieben, denn Martin Ruppert brachte meinen Artikel nicht, schrieb mir auch, warum und versprach mir ein Ausfallhonorar. Ich war verärgert und schickte diesen Brief an Günter Wallraff nach Köln, der ihn in seinem neuen, wenige Wochen danach erscheinenden Buch „Neue Reportagen, Untersuchungen, Lehrbeispiele“ veröffentlichte. Vor meinem Abflug rief ich Martin Ruppert an, der sichtlich erfreut war, dass er in Günter Wallraffs Buch vorkam. Einige Jahre danach erschien das neue Buch beim Ostberliner AUFBAU-Verlag als Taschenbuch.
Irgendwo unterwegs haben wir dann noch Kaffee getrunken und sahen gen 18.00 Uhr die Veste Coburg am Horizont auftauchen. Nun waren wir wieder zu Hause und freuten uns aufs eigene Bett. Meine Frau ging zeitig schlafen. Ich sah in der Nacht bei PHÖNIX noch einen Film über Konrad Naumann (1928-1992), den SED-Politiker und Vorsitzenden der SED-Bezirksverwaltung Ost-Berlin. Er saß 1976/85 auch im SED-Politbüro, dem höchsten Machtzentrum der Einheitspartei. Ale er Erich Honecker stürzen wollte, wurde er am 22. November 1985 selbst gestürzt. Ich erinnerte mich, dass ich von den Fernsehleuten 2022 angerufen und zu Konrad Naumann befragt wurde, weil ich ihn im Spätsommer 1991 in Guayaquil/Ekuador an der Pazifikküste getroffen hatte. Er war mit Carmen, seiner dritten Frau, dort, einer ehemaligen FDJlerin, die rund 30 Jahre jünger war. Ich saß mit ihm, Carmen und Angelika in einem Eiscafé, wo er mir einen Vortrag hielt, dass die DDR 1989 nicht zusammengebrochen wäre, wenn Erich Honecker seine Ratschläge gefolgt hätte. Ein Jahr später, als ich das zweite Mal in Guayaquil war, war er schon gestorben (mit 63 Jahren) und beigesetzt. Seine Witwe Carmen lebt immer noch dort und war sogar Schulrektorin.
Am Mittwoch, 4. Oktober, besuchte ich die Landesbibliothek, um mir Ad den Bestens Aufsatz über DDR-Lyrik (1959) abzuholen und wurde von einem älteren Herrn angesprochen, der meinte, ich wäre doch Lateiner (er hatte mein Interview in der NEUEN PRESSE von 2017 gelesen), und er hätte eine lateinische Grammatik für mich.
Ich fuhr dann mit dem Bus 6 nach Hause, der an der Haltestelle Eckardsberg nicht einfahren konnte, weil eine junge Frau, die offensichtlich mit ihrem Freund telefonierte, mit ihrem Auto ein Drittel der Haltestelle einnahm. Beim Abfahren hielt der Busfahrer neben ihr und hupte. Sie war so erschrocken, dass sie die Arme in die Luft hob.