Interview mit dem ehemaligen BR-Chef Professor Sigmund Gottlieb: „Deutschland redet sich die Lage schön“

Interview mit Professor Sigmund Gottlieb, Foto: Dr. Dr. Stefan Groß-Lobkowicz

Herr Gottlieb, Sie haben in Ihrem Buch „So Nicht! Klartext zur Lage der Nation“ ein Buch gegen den Zeitgeist geschrieben. Sie beginnen mit einem Zitat von George Orwell: „Freiheit ist das Recht, anderen zu sagen, was sie nicht hören wollen.“ Hat sich was man Begriff der Freiheit geändert?

Es hat sich sehr viel geändert. Wir haben die Freiheit, die wir schon seit vielen Jahrzehnten genießen, als etwas Selbstverständliches genommen und haben sie als etwas Besonderes vergessen. Peter Schneider, der große Schriftsteller, hat mal gesagt, wenn wir im Besitz der Freiheit sind, ist die Gefahr sehr groß, dass wir nicht mehr an sie denken. Es entspricht unserer besonders typisch deutschen Befindlichkeit, dass wir die Sicherheit als wichtiger empfinden als die Freiheit.

Sie beschreiben in Ihren Buch Zerfallserscheinungen. Was läuft falsch im „Schlendrianland“ Deutschland? Warum befindet sich die Bundesrepublik in einer Abwärtsspirale?

Ich bin überzeugt davon, dass es uns seit vielen Jahren an Sorgfalt fehlt, in allen Bereichen, im Bereich der Eliten, aber auch in allen Berufskategorien und bis weit hinein in die Bevölkerung. Wir haben ein Sorgfalts-Defizit. Wir lassen die Dinge schleifen. Passt schon, geht schon, reicht schon. Damit kamen wir in den letzten Jahren und Jahrzehnten sehr, sehr gut über die Runden und konnten bis zum heutigen Tag damit auch unseren Wohlstand erhalten. Das ist aber vorbei! Wir müssen wieder mit mehr Leidenschaft, mit mehr Sorgfalt und vor allem mit mehr Leistungswillen an das tägliche Leben herangehen. Ich beobachte das vor allem im Bereich der Kundendienste, in Berufen, wo eine Nachlässigkeit eingetreten ist, die uns noch schwer zu schaffen machen wird.

Sie kritisieren im aktuellen Politikbetrieb, dass es nur um Machterhalt geht. War das nicht immer so, oder was hat sich verändert?

Dies war in Abstufungen sicher immer so, aber es gibt einen wesentlichen Unterschied. In der heutigen Generation ist die Politik zu einem Berufsfeld ohne Fundament eines erlernten oder praktizierten Berufes geworden. Es ist also Broterwerb und damit schafft es auch Abhängigkeiten. In früheren Zeiten war das noch anders. Da ist Politik aus existenziellen Grenzerfahrungen der Kriegs- und Nachkriegszeit heraus entstanden und von den Vertretern aller Parteien mit einem Ziel ausgeübt worden: Nie wieder Krieg! Die Maxime war, dass es uns besser als in den letzten Jahrzehnten gehen soll. Und das ist der existenzielle Unterschied dieser beiden Politikergeneration.

Sie unterscheiden in Bezugnahme auf Max Webers Rede „Politik als Beruf“ zwischen Gesinnungs- und Verantwortungsethik. Was ist der Fehler der heutigen Gesinnungsethiker? Und warum unterwirft sich die mediale Landschaft diesem Diktum?

Der Gesinnungsethiker hat einen großen Spielraum und Freiraum das Wünschbare zu formulieren. Es ist daher gar nicht so schlecht, Gesinnungsethiker als Teil der Gesellschaft zu haben. Nur der Gesinnungsethiker hat niemals die Bindung an die Verantwortung, die der Verantwortungsethiker haben muss. Bedenke das Ende deines Tuns, was kommt also aus diesen Gesinnungsüberlegungen heraus? Der Verantwortungsethiker muss das Wünschbare dann mit dem Machbaren in Verbindung bringen. Unternehmer beispielsweise, die sehr stark Verantwortungsethiker von Beruf sind, haben in der Politik einen schweren Stand, weil sie ständig nur von Gesinnungsethikern umgeben sind.

Und die Medien? Welche Rolle spielt da die Gesinnung?

Die Medienleute sehen das vermutlich nicht sehr viel anders, denn sie sind nicht in einer politischen oder unternehmerischen Verantwortung. Sie sollten zwar in der Verantwortung vor der Wahrheit sein, aber sie haben sich im Grunde mit den Gesinnungsethikern in der Gesellschaft an einen Tisch gesetzt und mit denen verbündet. Also Journalismus ist zu einem großen Teil und in wachsendem Maße zum Gesinnungsjournalismus geworden. Nur wer den Mainstream der Gesinnung folgt, ist sozusagen ein guter Journalist. Die anderen, die Minderheiten, die andere Meinungen formulieren, haben es immer schwerer.

Inwiefern wird Deutschland von Moralisten und Ideologen regiert – das passt doch mit den demokratischen Prinzipien einer liberalen Werteordnung nicht zusammen?

Moralisten und Ideologen beherrschen schon einen wesentlichen Teil der politischen Diskussion. Und wenn man sich, das muss man so offen sagen, die gegenwärtige Bundesregierung anschaut, dann sind zwei Koalitionäre dieser Regierung schon sehr stark im Bereich des Moralischen und des Ideologischen angesiedelt. Das sind die Grünen und das ist die SPD. Mit politischer Mitte und dem Wunsch vieler Bürger, eben ein breiteres Meinungsspektrum abzudecken, hat das nichts mehr zu tun.

Sie kritisieren den Euphemismus in der Politik. „Ein Euphemismus oder eine Beschönigung, auch Glimpfwort, Hehlwort, Hüllwort und Verbrämung, ist ein sprachlicher Ausdruck, der eine Person, eine Personengruppe, einen Gegenstand oder einen Sachverhalt beschönigend, mildernd oder in verschleiernder Absicht benennt“, so die Definition. Was ist unter der Schweigespirale der Euphemisten zu verstehen?

Euphemismus ist eine im sehr starken Maße ausgeprägte deutsche Krankheit. Man redet die Dinge schön, man deckt Fehler zu, man sagt, das Glas ist halb voll, selbst wenn man sieht, dass das Glas schon halb leer oder ganz leer ist. Es werden handwerkliche Fehler in der Regierungsarbeit kaschiert. Dies ist nicht nur eine Beobachtung in der letzten Bundesregierung, sondern findet sich bei allen Bundesregierungen. Und ja, das führt natürlich, wenn die Dinge nicht offen angesprochen werden und die Probleme nicht auf den Tisch gelegt werden, zu einer wachsenden Unzufriedenheit bei den Menschen. Diese stellen wir im Augenblick sehr deutlich fest.

Woran krankt der Berufspolitiker?

Politik ist für viele ein Beruf zum Zweck des Geldverdienens, der Existenzsicherung, und das führt natürlich zu Abhängigkeiten im politischen Betrieb. Wenn ich nicht die Freiheit habe, in meinen über längere Zeit hinaus ausgeübten Beruf zurückzukehren, um dann wieder als Abgeordneter arbeiten zu können, werde ich schnell abhängig von einer Fraktion bzw. von den Mehrheiten in der Fraktion. Ich folge also den Interessen und Meinungsbildern der Fraktion, obwohl diese vielleicht nicht mehr meiner eigenen Ansicht entsprechen. Das halte ich für eine gefährliche Entwicklung, denn sie schränkt die Unabhängigkeit vor allem jüngerer Abgeordneter ein.

Wie steht es mit der Meinungsfreiheit in Deutschland und wie haben die gesellschaftspolitisch-veränderten Rahmenbedingungen die Objektivität der Vierten Gewalt, den Journalismus, verändert?

Die Meinungsfreiheit ist aus meiner Beobachtung heraus eingeschränkt. Wir haben es gesagt: Journalismus ist eben zum Gesinnungsjournalismus geworden. Ein großer Teil der Journalisten sind links von der Mitte angesiedelt, je nach Umfrage. Zwischen zwei Drittel und drei Viertel bekennen sich zu Grünen oder zu sozialistischen oder zu linken Meinungen. Das tut natürlich dem Journalismus nicht gut. Vor allem fühlen sich die Leute nicht in ihrer Gänze vertreten, denn es ist nicht so, dass das Wählerbild mehrheitlich links von der Mitte wäre, sondern da gibt es andere Mehrheitsverhältnisse – und diese müssen auch in der journalistischen Arbeit berücksichtigt werden.

Sie sprechen vom „polit-medialen Gleichklang“, von den Verklebungen zwischen Politik und Medien. Was heißt das? Vielleicht können Sie das an Ihrem Bild vom „schweigenden Stammtisch“ erklären?

Dieser Gleichklang der Meinungen zwischen einem großen Teil in der Politik und einem großen Teil in den Medien führt zum Verdruss bei einem beträchtlichen Teil der Bevölkerung, die das Gefühl hat, es gibt eben nur mehr eine Betrachtungsweise der Probleme. Und wenn, wie schon angesprochen, sie eine andere Meinung haben, etwa zum Thema Heimat, zum Thema Flüchtlinge, zum Thema Islam, dann können sie diese Meinung nicht mehr offen artikulieren, sondern darüber nur in den eigenen vier Wänden sprechen. Das erzeugt ein schlechtes Gefühl – und diese Unruhe führt dann zur Resignation. Wenn man also das Gefühl hat, ich komme mit meiner Stimme nicht mehr zu Wort, dann fühlt man sich auch mundtot gemacht, und das ist das, was ich dann als schweigenden Stammtisch bezeichne. Ein Stammtisch streitet normalerweise. Wenn der Stammtisch schweigt, ist es gefährlich geworden.

Was kann man gegen das Toleranzdefizit tun?

Der Altbundespräsident Joachim Gauck hat etwas sehr Richtiges gesagt. „Die Geschichte der Demokratie belegt: Es ist möglich, sich Wahrheiten anzunähern, Kompromisse zu finden und erkennbare Fortschritte zu erlangen – dank Toleranz. Jeder bewusste Demokrat, der diesen Raum der Möglichkeiten schützen will, muss aber sein überzeugtes Ja zur Toleranz ergänzen durch ein entschlossenes Ja zur Intoleranz, nämlich dann, wenn Freiheit und Toleranz bedroht sind und ausgelöscht werden sollen. Tolerieren und verteidigen gehören zusammen.“

Also, wir streiten nicht mehr in ausreichender Weise über die wichtigen Themen, und das macht unser Bewusstsein natürlich auch schwammig. Darüber hinaus fehlen uns die großen Themen. Altbundeskanzler Helmut Kohl (CDU) wurde später dafür belacht, als er Anfang der 80er-Jahre das große Thema von der geistig moralischen Wende in den Raum stellte. Dies war ein großes gesellschaftspolitisches, ethisches, wenn man so will, auch Wertethema. Das fehlt seit vielen, vielen Jahren. Ein gutes Beispiel für ein anderes Wertebild ist, dass viele Politiker dieser Regierung einen Amtseid auf Gott abzulegen nicht mehr gewillt sind. Da frage ich mich natürlich, wem sind diese Damen und Herren eigentlich gegenüber verantwortlich? Also dem lieben Gott jedenfalls nicht. Das haben sie zum Ausdruck gebracht. Also irgendeinem höheren Wesen vielleicht, das weiß ich nicht, vermutlich aber nur sich selbst gegenüber. Sie sind das Maß der Dinge – und entsprechend machen sie Politik, Das halte ich schon für eine bedenkliche Entwicklung.

Woher kommt der Werteverlust in der Politik?

Der Werteverlust kommt daher, dass man sich eben nur dem pragmatischen Tagesgeschäft widmet, dass man von einer Krise in die nächste hinein schwankt und schlittert. Was fehlt, ist, dass man sich keine Gedanken mehr über die Fundamente der Politik macht. Ich mache das jetzt den Politikerinnen und Politikern gar nicht zum Vorwurf. Diese sind terminlich enorm getrieben und sind froh, wenn sie ihr Tagesgeschäft unter der Woche in Berlin bewältigen und wenn sie dann am Wochenende im Wahlkreis halbwegs die Stimmung in der Bevölkerung auffangen können, um zu wissen, wie sie Politik zu machen haben. Ich glaube, dass es in vielen Medienhäusern ganz genauso zugeht. Man ist nicht mehr in der Lage, über den Tag hinaus auch das Fundament seiner eigenen Arbeit zu überdenken und damit zu kontrollieren. Dies aber wäre in beiden Berufssparten dringend notwendig.

Sie kritisieren die „moralische Klimaerwärmung“ – Was meinen Sie damit?

Die moralische Klimaerwärmung ist in den letzten Jahren gestiegen. Moralische Klimaerwärmung heißt, dass immer mehr nach dem Kriterium der Moral beurteilt wird, nach dem Kriterium des vermeintlichen oder tatsächlichen Gewissens und weniger nach dem Kriterium des Wissens, was man über einen Sachverhalt hat. Das ist natürlich eine Entwicklung, die man besonders in der Klimapolitik beobachten kann.

Was ist die Taktik der Grünen beim politischen Moralismus?

Die Grünen sind zu dem Ergebnis gekommen, dass es gar nicht so wichtig ist, dass jetzt jeder Veränderungsgedanke, jedes Gesetz handwerklich sauber und unanfechtbar sein muss. Das macht man einfach mal so ins Ungefähre hinein. Die Grünen verlassen sich darauf, dass es in der Gesellschaft einen Grundkonsens für die Umwelt und gegen die Klimaverschmutzung gibt. Das ist ja auch unbestritten. Das ist nicht nur ein Privileg der Grünen, aber sie leben besonders gut von dieser Annahme. Und weil es diesen Grundkonsens gibt, so glaube ich, gehen sie davon aus, dass es schon reicht, wenn man etwa in diese Richtung etwas vorgibt und dann bis zur nächsten Wahl damit ganz gut über die Runden kommt. Wenn es einmal tatsächlich an das Konkrete geht, wie beim Heizungsgesetz, dann sieht man welches Desaster entsteht, weil man die Materie in der Umsetzung nicht beherrscht.

Worin besteht für Sie der Strukturwandel der Öffentlichkeit?

Die Struktur der Öffentlichkeit hat sich enorm verändert. Der erste Punkt ist, dass wir eben eine Vielzahl, fast eine Unzahl von Teilöffentlichkeiten haben, von Individualisierungen im Netz. Der zweite Strukturwandel ist die enorme Beschleunigung, die uns alle überfordert, in der Politik wie auch die Medienleute. Das dritte ist, das leitet sich daraus ab, dass wir im Grunde eine Landschaft voller Bäume sehen, die den Blick auf den Wald versperren. Das Große und Ganze wird nicht mehr gesehen. Und schließlich haben wir neue Techniken bei denen wir erst am Anfang stehen und die vermutlich die Wahrheit und die Wirklichkeit in einer Art und Weise manipulieren, dass wir es gar nicht mehr überprüfen und kontrollieren können, wenigstens bis zum heutigen Tag nicht.

Wie müsste eine neue Aufklärung aussehen?

Das ist eine große Frage, ein weites Feld würde Theodor Fontane sagen. Eine neue Aufklärung kann nur durch eine, wie ich finde, große Offensive der Erklärung stattfinden. Also ich bleibe beim Begriff Aufklärung durch Erklärung. Diese Aufklärungs- und Erklärungsarbeit muss von den Politikern genauso geleistet werden wie von den Journalisten. Beide haben in dieser Frage ein gewaltiges Defizit. Da passt auch sehr gut der Satz vom Albert Einstein dazu, der gesagt hat: „Mache die Dinge so einfach wie möglich. Aber nicht einfacher!“ Aufklärung bedeutet eben auch eine andere Diskussionsart, eine andere Diskussionskultur, keine Häme mehr oder möglichst wenig Häme in der Diskussion. Und eine neue Aufklärung muss sich auf die Qualitäten unserer abendländischen Kultur zurückbesinnen. Bei diesem Thema gewinnt man doch den Eindruck, dass hier das Abendland inzwischen auch bei uns im Schatten anderer Kulturen steht.

Professor Gottlieb, Herzlichen Dank!

Interview: Stefan Groß-Lobkowicz 

Über Stefan Groß-Lobkowicz 2157 Artikel
Dr. Dr. Stefan Groß-Lobkowicz, Magister und DEA-Master (* 5. Februar 1972 in Jena) ist ein deutscher Philosoph, Journalist, Publizist und Herausgeber. Er war von 2017 bis 2022 Chefredakteur des Debattenmagazins The European. Davor war er stellvertretender Chefredakteur und bis 2022 Chefredakteur des Kulturmagazins „Die Gazette“. Davor arbeitete er als Chef vom Dienst für die WEIMER MEDIA GROUP. Groß studierte Philosophie, Theologie und Kunstgeschichte in Jena und München. Seit 1992 ist er Chefredakteur, Herausgeber und Publizist der von ihm mitbegründeten TABVLA RASA, Jenenser Zeitschrift für kritisches Denken. An der Friedrich-Schiller-Universität Jena arbeitete und dozierte er ab 1993 zunächst in Praktischer und ab 2002 in Antiker Philosophie. Dort promovierte er 2002 mit einer Arbeit zu Karl Christian Friedrich Krause (erschienen 2002 und 2007), in der Groß das Verhältnis von Metaphysik und Transzendentalphilosophie kritisch konstruiert. Eine zweite Promotion folgte an der "Universidad Pontificia Comillas" in Madrid. Groß ist Stiftungsrat und Pressesprecher der Joseph Ratzinger Papst Benedikt XVI.-Stiftung. Er ist Mitglied der Europäischen Bewegung Deutschland Bayerns, Geschäftsführer und Pressesprecher. Er war Pressesprecher des Zentrums für Arbeitnehmerfragen in Bayern (EZAB Bayern). Seit November 2021 ist er Mitglied der Päpstlichen Stiftung Centesimus Annus Pro Pontifice. Ein Teil seiner Aufsätze beschäftigt sich mit kunstästhetischen Reflexionen und einer epistemologischen Bezugnahme auf Wolfgang Cramers rationalistische Metaphysik. Von August 2005 bis September 2006 war er Ressortleiter für Cicero. Groß-Lobkowicz ist Autor mehrerer Bücher und schreibt u.a. für den "Focus", die "Tagespost".