TURNER. THREE HORIZONS
Ab 28. Oktober im Lenbachhaus
Gehen Sie heute schon mit Turner auf Reisen!Joseph Mallord William Turner (1775–1851) fiel bereits als Kind durch seine Landschafts- und Architekturzeichnungen auf, weswegen er schon mit 14 Jahren ein Stipendium an der Royal Academy of Arts in London erhielt. Dort gab es allerdings keinen Lehrstuhl für Landschaftsmalerei; sie galt erst im 19. Jahrhundert als akademische Gattung. So brachte sich der junge Turner die nötigen Fähigkeiten selbst bei, vor allem durch intensives Naturstudium. Nach und nach verließ er London für immer weitere und längere Reisen, zunächst durch England, Schottland und Wales und ab 1802 auch durch Europa, wo er neue Horizonte fand. Seine Touren waren nicht nur Expeditionen auf der Suche nach Motiven, sondern auch Beleg für die eigene künstlerische Freiheit. Sie ist vor allem in seinen späteren Werken immer spürbar.
Ende des 18. Jahrhunderts war Reisen eher beschwerlich als erholsam. Viele wohlhabende Bürger*innen reisten daher eher in ihrer Vorstellung, indem sie Gemälde und Drucke mit Landschafts- oder Stadtmotiven kauften. Noch im 17. Jahrhundert zeigten diese Ansichten oft kontinentaleuropäische Szenerien. Zu Turners Zeiten begann eine anhaltende Faszination für die englische Landschaft und ihre Bauten, den Klöstern, Schlössern und Landsitzen. Das lag auch am Krieg gegen das revolutionäre Frankreich, der den Kontinent für viele britische Reisende schwerer zugänglich machte. Einer der ersten Orte, die Turner als junger Mann bereiste, war Margate im Osten Englands. Hier sah Turner zum ersten Mal das Meer, das ihn zeitlebens als Motiv begleiten sollte.
Um unterwegs arbeiten zu können, trug Turner eine Art Reiseaquarellkasten mit sich. In einer kleinen Ledertasche verwahrte er Aquarelltabletten, die in Wasser aufgelöst wurden. Während frühere Künstler*innen sich ihre Farbpigmente noch selbst mischten, konnte Turner auf fertige Farben zurückgreifen, die er dann in der gewünschten Stärke anrührte. Die Skizzenbücher, die der Maler auf seinen Reisen zu Dutzenden benutzte, sind bis heute erhalten geblieben. Die hier abgebildete Seite stammt aus dem Hereford Court Sketchbook und zeigt den Bergrücken Cader Idris in Wales. Offensichtlich geriet Turner beim Malen in einen Regenschauer, denn die Seiten sind mit Wassertropfen übersät. Der Maler Joseph Farington schrieb in seinem Tagebuch, dass Turner 1798 in Süd- und Nordwales unterwegs gewesen sei: „alone and on horseback – out 7 weeks – much rain but better for effects.“
Im März 1802 beendete der Friede von Amiens den Zweiten Koalitionskrieg, in dem Großbritannien unter anderem gegen Frankreich gekämpft hatte. Nachdem der Ärmelkanal neun Jahre lang für Tourist*innen gesperrt gewesen war, nutzte Turner nun die Gelegenheit, nach Frankreich zu reisen. Er war nicht allein: Im September 1802 befanden sich laut eines Chronisten mindestens 12.000 britische Gäste in Paris. Turner allerdings hatte noch ein anderes Ziel: die Alpen. Auf dem Weg dorthin fertigte er über 100 Zeichnungen an. Aus diesen entstand unter anderem „Grenoble Seen from the River Drac with Mont Blanc in the Distance„. Er berichtete Joseph Farington über seine Eindrücke der mächtigen Bergmassive: „The country on the whole surpasses Wales; and Scotland too.“
Turner malte nicht nur sitzend oder stehend in der Landschaft. Einige seiner Entwürfe sind leicht aufsichtig und lassen vermuten, dass er zeichnete, während er zu Pferd unterwegs war. Andere Skizzen sind offensichtlich auf einem Boot entstanden, mit dem Turner die Themse oder die Loire hinabfuhr.
Bei seinem ersten Frankreich-Aufenthalt nutzte er für den Weg von Calais nach Paris eine Kutsche. Von dieser Strecke sind kaum Zeichnungen vorhanden – möglicherweise, weil französische Kutschen nur zwei kleine, schmale Fenster besaßen. Für die Weiterreise kauften sich Turner und sein Reisebegleiter, der Kunstsammler Newbey Lowson, einen offenen Einspänner, von dem aus die Natur besser einzufangen war.
Im August 1820 reiste Turner erstmals nach Venedig, was seine Malerei für immer verändern sollte. Der Porträtmaler Thomas Lawrence hatte in einem Brief an Joseph Farington erklärt, warum Turner unbedingt nach Venedig kommen sollte – unter anderem, um die „Verschmelzung von Erde und Himmel“ in seinen unnachahmlichen Farbtönen einzufangen: „He has an elegance and often a greatness of invention that wants a scene like this for its free expansion; […] the subtle harmony of this atmosphere […] wraps every thing in its own milky sweetness.“
Turner malte die „milchige Süße“ der Lagunenstadt in einem träumerischen, zeitlosen Ausdruck, der ihn zu einem modernen Maler machte. Dabei erreichte er die malerische Stimmung, die er bei einem seiner Vorbilder, dem Maler Claude Lorrain, so schätzte und blieb doch ganz er selbst, wie auch in diesem später enstandenen Werk.
Turner gab Vorlesungen zur Perspektive an der Royal Academy of Art, wo einer seiner Lehrsätze Schatten als Abwesenheit von Farbe bezeichnete: „Light is therefore colour, and shadow the privation of it.“ Er reduzierte die Natur auf Farbe und Licht, was auch Kritik herausforderte.
Der Künstler übernahm teilweise Techniken seiner Aquarelle und übertrug sie auf die Ölgemälde. So grundierte er seine Leinwände in weißen Tönen anstatt in dunklen, damit die Farben heller strahlten. Er verdünnte Ölfarbe, um sie ähnlich verarbeiten zu können wie Wasserfarbe. Und schließlich nutzte Turner nicht nur seine Pinsel und Palettmesser als Werkzeuge, sondern bearbeitete seine Werke mit den Händen: Er kratzte Farbe mit den Fingernägeln ab, betupfte sie mit einem Schwamm oder auch nur seinem Hemdsärmel und trug sie neu auf. Diese Leichtigkeit in Form und Farbe ist vor allem in seinem Spätwerk sichtbar, so wie in „Sunset From the Top of the Rigi“ (1844), das auf Skizzen von seinen Reisen in die Schweiz beruhte. Im Gegensatz zu früheren Werken der Alpen sieht seine Natur nun fragil und schwebend aus anstatt massiv und überwältigend.
1840 reiste Turner durch Deutschland und skizzierte die entstehende Walhalla. Als das Monument 1842 eröffnet wurde, schuf er mehrere Aquarelle und Ölbilder nach diesen Zeichnungen. Eines davon, „The Opening of the Wallhalla, 1842„, war das erste Gemälde, das Turner von England aus verschickte, um es im Ausland auszustellen. Es wurde auf der Münchner Kunstausstellung 1845 gezeigt, wo das deutsche Publikum – im Gegensatz zum britischen – nicht auf diese Art der Naturdarstellung vorbereitet war. Ein Kritiker bezeichnete das Bild als „unbegreifliches Kuriosum“ und schrieb, dass die angebliche „Allegorie“ auf das Bauwerk „bis zum Unkenntlichen [in ein] phantomistisch verschwimmendes Farbengemengsel getaucht“ sei, so „daß der Kritik nichts übrig bleibt, als ihr Bedauern darüber auszusprechen, daß die britische Landschaftsmalerei auf so seltsame, fast komische Art vertreten wurde.“
Seit seiner Cholera-Erkrankung im Mai 1850 verließ der geschwächte Turner sein Haus in London nur noch selten. Aber noch im Winter 1851 schmiedete er Reisepläne mit einem Bekannten, obwohl vermutlich beide wussten, dass der Maler diese Reise nicht mehr antreten würde.
Joseph Mallord William Turner starb am 19. Dezember 1851. Seine Werke erzählen uns von seiner Liebe zur Natur. Die Freiheit des Reisenden manifestiert sich bis heute in seiner einzigartigen Welt von Farbe und Licht.
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