„Wann der Mensch verschwinden wird und (genau) wie, Davon schweigt bis jetzt die Anthropologie.“ (Kurnig)
Ein Atheist empfiehlt uns den fortpflanzungsskeptischen unheiligen Geist des frühen Christentums und legt seine Motivation folgendermaßen dar: „Ich betrachte das Leben des Menschen als etwas in seiner Gesamtheit Unschönes, als ein Unglück. Kein Ungeborener würde es verlangen. Zu einer passiven Rolle, zum bloßen Ansehen des entsetzlichen Elends habe ich mich nicht entschließen können.“ Es handelt sich um einen längst vergessenen Autor, der seinen Neo-Nihilismus unter dem Namen „Kurnig“ formulierte und propagierte – ein Pseudonym, das er gewählt haben mochte, weil er als Arzt seinen Lebensunterhalt verdienen musste. Zwar sei das Christentum zweideutig, da es über „die Verwerflichkeit der Kinderzeugung sich nicht durchweg deutlich genug ausspricht…“ Doch gelte: „Nach Christus würde die Menschheit bald aufhören zu existieren.“ Dann aber trat eine Abkehr vom Geist des ursprünglichen Christentums ein: „Der jüdische optimistische Geist und der Wunsch: Kinder in die Welt zu setzen, dominierten…“ Daher kann Kurnig seinen christlichen Zeitgenossen einen zentralen Befund von David Friedrich Strauß (1808–1874) vorhalten, der in den Jahren 1835-36 sein aufsehenerregendes Werk „Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet“ veröffentlicht hatte und der in „Der alte und der neue Glaube“ schrieb: „So müssen wir bekennen: wir sind keine Christen mehr.“ Weil das vor dem Horizont eines baldigen Weltendes pessimistische und fortpflanzungsskeptische Christentum durch das unterschwellige Fortwirken jüdischer Glaubensgehalte längst optimistisch eingefärbt worden sei, gebe es eigentlich keine echten Christen mehr, die gemäß Lukas (20,34f) zu unterschreiben hätten: „Die Kinder dieser Welt freien und lassen sich freien; welche aber gewürdigt werden, jene Welt zu erlangen und die Auferstehung von den Toten, die werden weder freien noch sich freien lassen.“ Auch Paulus weiß: „Die Zeit ist kurz“ und schreibt an die Korinther: „Es ist dem Menschen gut, dass er kein Weib berühre.“ (1. Brief 7,1) Vom fortpflanzungsskeptischen Geist des ursprünglichen Christentums ist in der zutreffenden Diagnose Kurnigs nicht viel übrig. Rief Jesus dazu auf ihm zu folgen und die Familie zurückzulassen oder gar geringzuschätzen, so gilt die Familie längst als christlicher Kernwert. Zwar sei es ganz unmöglich, zu lokalisieren, wo innerhalb der monotheistischen Religionsgeschichte das Judentum aufhört und das Christentum anfängt. Gewiss aber sei, dass das Christentum längst entpessimiert und „zurückjudaisiert“ ist.
Neben dem ursprünglichen Christentum ist der ältere Buddhismus eine Säule des Kurnigschen Neo-Nihilismus, der Folgendes leisten soll: „Der Neo-Nihilismus ist dazu bestimmt, …das Gebiet zu werden der Versöhnung zwischen den nihilistischen Elementen in den Lehren des Buddhaismus und des Christentums einerseits – und dem optimistischen Geiste der Kultur… andererseits.“ Mit seiner Spielart des Pessimismus hätte sich Kurnig in gewisser Hinsicht auch als Optimist ausgeben können. Gegen alles Reden, das Leben sei nun einmal so wie es ist, formuliert er mit größtem Recht: „Der Pessimist gibt es nicht zu, dass die Tragödie des Menschenlebens auf Erden etwas unvermeidliches sei…“
Bei alledem ist die Bezeichnung „Neo-Nihilismus“ etwas unglücklich gewählt, insofern Kurnig selbst über die Nihilisten (und Anarchisten) ausführt, sie seien verglichen mit seiner Lehre geradezu konservativ zu nennen, da sie sich mit Palliativen gesellschaftlicher Veränderungen begnügen. Tatsächlich ließe sich für Kurnig der Satz prägen: Die Kritiker wollten die Gesellschaft immer nur verändern – es kommt aber darauf an, sie aufzuheben. Kurnig denkt die Aufhebung der Gesellschaft als aufklärungsinitiierte und pädagogisch zu begleitende restlose Entvölkerung. Seine Schrift betrachtet er diesbezüglich zugleich als moraltheoretische Fundierung sowie als Propaganda, die sich gegen die „Prokreation“ richtet. Hätte er seine Position unter Rückgriff auf das von ihm bevorzugte Wort „Prokreation“ nicht „Neo-Nihilismus“ genannt, sondern „Antiprokreationismus“, so stünde uns heute in Gestalt dieses Terminus ein Begriff zur Verfügung, der das Gemeinte eindeutiger bezeichnet als der etablierte Ausdruck „Antinatalismus“, der in der Bevölkerungspolitik eine Rolle spielte, bevor er eine Moraltheorie bezeichnete.
Im von Kurnig gebrauchten Wort „Entvölkerung“ schwingen unweigerlich Konnotationen von Krieg oder Krankheit mit. Kurnig ist jedoch Antimilitarist, dem der Krieg als ein fast immer ungesühntes Verbrechen gilt, auf das die Menschen durch eine falsche Erziehung vorbereitet werden: „Der Boden, auf welchem der Völkerkrieg wurzelt und wuchert, ist die Erziehung des Kindes.“ Verwerflicherweise ziehe „man es vor, es von vornherein zum Kriegsmann, zum Verbrecher zu stempeln und für die Kriege, die es, groß geworden, zu führen haben wird, von Anfang an vorzubereiten.“ Das Erziehungswesen sei einerseits im Geiste des Antimilitarismus zu „verweichlichen“, andererseits zur Vorbereitung der Nachkommenlosigkeit zu reformieren.
Erziehung
Vornehmstes Ziel des Kurnigschen Neo-Nihilismus ist unser Exodus aus dem Sein, das Aussterben der Menschheit. Damit es dazu kommt, sei pädagogisch früh anzusetzen: „Eine Ordnung der Dinge auf baldiges Erlöschen berechnet erheischt selbstverständlich andere Gesetze, andere Erziehung.“ Kurnigs pädagogische Grundsätze sind geeignet, mit einem verbreiteten Missverständnis aufzuräumen, nämlich mit der Vorstellung, dass, wer sich gegen die Hervorbringung neuer Menschen ausspricht, etwas gegen Kinder haben müsse. Gegenteilig lesen wir bei Kurnig: „Behandle Kinder sehr rücksichtsvoll, halte die Unmündigkeit in Ehren. Erziehe die Kinder im Geiste der Brüderlichkeit, der friedlichen internationalen Annäherung, der Eintracht: Pflege bei ihnen den Geschmack für das Studium abstrakter Wissenschaften und namentlich der schönen Künste – einzige Mittel, um sie vielleicht…diese erbärmliche Welt, in die der Irrtum oder die Missetat ihrer Erzeuger sie gesetzt hat, etwas vergessen zu lassen.“ Wir können Kurnigs pädagogischen Grundsatz vielleicht so resümieren: Richtig ist es, allen existierenden Kindern eine antimilitaristische und antiprokreationistische Erziehung angedeihen zu lassen. Falsch ist es, den Existenzbeginn von Kindern zu bewirken, um sich sodann daran zu ergötzen, wie sie unter den Erziehungsmaßnahmen gedeihen. Er paraphrasiert: „Ich zeuge dich (sagt so ein Erzieher), um das Vergnügen zu haben, zu sehen, was in dir steckt, und was nicht. Ich bürde dir dadurch allerdings viel Leiden auf, schließlich eine garstige Todeskatastrophe…“
Die Todeskatastrophe
Philosophischerseits wird die Geschichte der Menschheit mitunter als kosmisches Abenteuer vorgestellt, das Dasein des Einzelnen in der Literatur als abenteuerliche Reise. Für Kurnig indes ist „der Tod eines Menschen ein so entsetzlich hässliches Abenteuer…, dass nichts imstande ist, es schön oder weniger hässlich zu machen.“ Und er sagt: „…die Schrecken dieser einen Stunde wären schon hinreichend, dir den Stab über das ganze Leben brechen zu lassen.“ Leider bleibt uns Kurnig nähere Ausführungen dazu schuldig, warum nicht die eine jede Existenz beendende „hässliche Todeskatastrophe“ durch ein erfülltes Leben kompensiert werden kann. – Um dies zu parieren, wäre etwa darauf zu verweisen, dass sterbende Personen derart von den Imperativen ihres versagenden Organismus überwältigt oder in Anspruch genommen sind, dass ihnen kaum psychische oder physische Kräfte bleiben, um in Reminiszenzen zu schwelgen.
Was Kurnig explizit abwehrt, ist ein argumentativer Schachzug, der aus dem „Wunsch, die schlimme Schlusskatastrophe so spät als möglich zu erdulden“, den Schluss zieht, dass das Leben doch schön sein muss. Nein, vielmehr gelte, dass der Schlussakkord als so dissonant antizipiert wird, dass wir für uns selbst nichts davon vernehmen wollen und ihn deshalb immer wieder von uns weisen und hinausschieben wollen. Auch in Todesnähe ums Weiterleben ringende Menschen sind kein Beleg für vorherrschende Lebensbejahung: „In diesem Augenblick bist du vor Schmerzen und Todesangst fast betäubt, die Sinne schwinden dir beinahe – du bist bereit zu gestehen, dass du immer unrecht hattest, wenn du nur leben, leben bleibst…“ Das Weiterlebenwollen um jeden Preis setzt ein, wo die Vernunft der Todesangst weicht, wo das, was den Menschen ausmacht, von den biologischen Radikalen des Körpers überwältigt wird. Derartige Weiterlebenswünsche sind bionom erpresst – nicht autonom, sondern inhuman.
Suizid-Zynismus
Denen, die einem Antiprokreationisten Kurnigscher Prägung entgegenschleudern: Wenn es dir hier bei uns im Sein nicht gefällt, so gehe doch nach Drüben, ins Jenseits!, weiß Kurnig zu entgegnen: „Einmal im Leben willst du die finstere Todeskatastrophe so lange wie möglich verschoben sehen, aber niemals-geboren-werden… wäre dir tausendmal lieber gewesen.“ Von einer Person, die sich den Fortexistenz-Ansprüchen ihres Organismus ausgeliefert im Dasein vorfindet, zu verlangen, sie solle doch den Freitod suchen, wenn sie die Fortexistenz unangenehm findet, ist ein kaum zu überbietender Zynismus. Außerdem gibt es laut Kurnig Wichtiges zu tun, bis der ohnedies unvermeidliche Tod eintritt: die Verbreitung gegen die Prokreation gerichteter Propaganda.
Niegewesensein
Nun übertreibt Kurnig, wenn er sagt, das Niedagewesensein sei jedem von uns 1000 Mal lieber gewesen. Machte er je eine Umfrage unter 1000 Menschen? Und sicherlich weiß er, wie schwierig es ist, über den Schatten der eigenen Existenz zu springen, das heißt: sich selbst als niemals gewesen zu denken, ohne im gleichen zu denken, dass einem selbst dabei etwas entgangen wäre. Kurnig nennt dies die „Hauptsache“: „…das Erwägen eines Niegeborenseins, und dann auch noch seines eigenen Niegeborenseins! Das Fehlen seiner selbsteigenen, hochwichtigen Person auf der Weltbühne, der Stuhl, worauf er sitzt, das Bett, worin er schläft, leer…“ Was dies anbelangt, ähnele der „Durchschnittsmensch“ dem griechisch-römischen, optimistischen Philosophen. – Wobei Kurnig entgeht, dass uns zumal durch die Werke der griechischen Tragiker, und ihr Fortwirken, in Gestalt des „O wär‘ ich nie geboren!“ klassische Niedagewesenseinswünsche überliefert sind und Jakob Burckhardt den alten Griechen sogar pauschal ein pessimistisches Daseinsgefühl attestierte.
Wer uns in Lebensgefahr und Todesgefahr brachte: Das Eltern-Tabu
Mit dem Elterntabu spricht Kurnig einen mächtigen psychologischen Hemmschuh an, der seiner Entvölkerungsmoral entgegensteht: „dass die Liebe, die Ehrfurcht für unsere Eltern uns gebiete, dass wir unser Leben, das wir von Ihnen zum Geschenk erhielten… nicht kritisieren, geschweige denn als ein hässliches Geschenk abzuschütteln suchen…“ Wie argumentiert Kurnig in Anbetracht des mächtigen Eltern-Tabus? Er hält an der einmal eingesehenen antiprokreationistischen Wahrheit fest und verbucht die mit dem Bruch des Eltern-Tabus zu erwartenden Konflikte zwischen Kindern – die das Geschenk des Lebens als Bürde ansehen – und ihren Erzeugern „als ein Hauptteil der uns zugefallenen Leiden“. Eltern empfiehlt er, sich gegen den von ihm (Kurnig) ausgehenden natalistischen Aufruhr zu wappnen: „‘Wer sich in Gefahr begibt, kommt darin um‘, sagt das Sprichwort. Und da sollte einer, der ein Kind zeugt und es dadurch unter anderem auch in Lebensgefahr – besser in Todesgefahr – bringt, lustig und guter Dinge sein?“
Vedischer Widerspruch – Asien als Vorbote restloser Entvölkerung?
Ein Vorbild für seine Moraltheorie findet Kurnig wie gesagt nicht allein im ursprünglichen Christentum, sondern auch in asiatischer Religiosität. In diesem Zusammenhang wähnt er sogar, in den Buddhisten und Hindus die Vorboten einer künftigen Entvölkerung der Erde begrüßen zu dürfen. In seiner Replik auf eine Rezension im „Pionier“ vom 22. September 1897 schreibt er: „… die großen Mehrheiten der Erdbewohner huldigen dem Pessimismus der sanften Entvölkerung unseres Erdballs.“ Hier begeht Kurnig den Kardinalfehler, nicht zwischen zölibatär lebenden hinduistischen Priestern oder buddhistischen Mönchen einerseits und ihren Laienanhängern andererseits zu unterscheiden, die selten darauf bedacht sind, auf Nachkommen zu verzichten. Überdies registriert Kurnig an anderer Stelle, was wir den Vedischen Widerspruch nennen können. Fern davon, einem Verebben der Menschheit zu huldigen, folgen Buddhisten und Anhänger hinduistischer Religionen der von Kurnig als problematisch herausgestellten Maxime: „Zeuge ein Kind, damit es von diesem Sein erlöst sein möge, – mit anderen Worten, man soll etwas tun, – um es ungetan zu machen.“ In der Tat hätte ein Buddhist, der an keine einheitliche Seelensubstanz glaubt, Schwierigkeiten, gegen Kurnigs Ironie etwas vorzubringen. Ein seelengläubiger Hindu könnte etwa antworten: Zwar sind die sich fortzeugenden Eltern dafür verantwortlich, dass ein Mensch dem Tode verfällt, aber ohne menschlichen Leib kann seine Seele nicht das Heil finden.
Gegenargumente
Gegen unseren Exodus aus dem Sein legt sich Kurnig eine beachtliche Serie von Einwänden vor:
1. Man könnte überlegen: Niemand hat hinter den Vorhang geschaut, der das Wesen der Entwicklung des Weltganzen verbirgt. Demnach wäre die Entvölkerung bis auf Weiteres zu verschieben, weil wir das Weltganze erst noch besser verstehen müssten. Nun habe die Wissenschaft aber den Vorhang bereits gelüftet und nichts Perpetuierungswürdiges gefunden.
2. Man dürfe dem Herrgott nicht ins Handwerk pfuschen – was aber einen Glauben voraussetzt, in dem Kurnig nicht steht. Anders als Hans Jonas, der als philosophischer Theologe formulieren sollte, wir dürften Gott nicht im Stich lassen.
3. Einen Aspekt der später so genannten „Tiefenökologie“ nimmt folgende Hypothese vorweg: „die Natur brauchte als integrierenden Teil ihres Wesens die Menschen…“ Kurnig nennt die Perpetuierung des Leidens um eines imaginären Natur-Systems willen, als dessen integraler Bestandteil der Mensch zu fungieren hätte, unmoralisch- sündhaft.
4. In einer von Kurnigs zahlreichen Repliken auf Rezensionen lesen wir: „Ref. meint, dass ich zum Beweise des Satzes, dass im Leben das Leiden den Genuss überwiegt, nichts anführe. Er übersieht, dass ich die Erfahrung persönlich gemacht habe (und mache) – genügt ihm das nicht?“ Kurnig übersieht, dass er vom eigenen Daseinsgefühl nicht auf dasjenige anderer schließen kann und man niemanden – um es plakativ zu sagen – zur Einsicht ins eigene objektive Unglück zwingen kann. Heute bestätigt uns die Kognitionspsychologie, dass oftmals kognitive Verzerrungen die Eltern unserer Überzeugungen sind. Ein Beispiel für eine derartige kognitive Verzerrung ist eine systematische Fehlbewertung, die Eduard von Hartmann seinerzeit „Erinnerungsbrille“ taufte: Hierbei handelt es sich um einen psychischen Mechanismus, der bewirkt, dass die resümierende Erinnerung negative Ereignisse der Vergangenheit in ein besseres Licht stellt. Das Gegebensein der von der Kognitionspsychologie bestätigten Hartmannschen Erinnerungsbrille ist geeignet, den grassierenden Optimismus als eine – unwillkürliche – Selbsttäuschung durch unsere psychische Konstitution zu entlarven. – Was für die Bewertung von Kurnigs Antiprokreationsmus von höchster Bedeutung ist. Sagt er doch: „Die eigentliche Triebfeder, die überall das Menschenleben im Gange hält, ist der Optimismus.“
Kurnigs Stellung
Ein Autor, so Kurnig über sich selbst, der die christlichen und buddhistischen Grundlehren weiter ausbaut, wird „nach Kräften totgeschwiegen werden.“ Diese Prophezeiung hat sich erfüllt. Nicht zuletzt dadurch, dass es sich bei „Kurnig“ offenbar um ein Pseudonym handelt. Während seine Schriften seinerzeit in zahlreichen Rezensionen besprochen wurden, ist er heute bis vielleicht auf eine Erwähnung in Jean-Claude Wolfs Buch „Eduard von Hartmann. Ein Philosoph der Gründerzeit“ aus der kulturellen Überlieferung getilgt. Er verdient Besseres: Denn wir können in ihm den Ahnvater eines säkularen Antinatalismus erblicken, der, anders als der tendenzielle Antinatalismus Schopenhauers, ohne Willensmetaphysik auskommt. Eine Anlehnung an Schopenhauers Willenslehre findet sich bei Kurnig nur mehr dem Wortlaut nach, indem bei ihm der „blinde Wille“ nur noch dem Fortpflanzungstrieb, dem Weiterlebenswunsch sowie dem mechanisch-bewusstlosen Entstehungsgrund des Weltganzen entspricht. Auf diese Weise antizipiert Kurnig einen modern zu nennenden Antinatalismus, dessen Achsenzeit in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts liegt: Im französischen Sprachraum repräsentiert durch Texte zumal von Philippe Annaba (der vor dem Aufkommen des moraltheoretischen Antinatalismus von Antiprocréationnisme spricht) und Théophile de Giraud; auf Englisch in Gestalt von Arbeiten der Autoren Herrmann Vetter, David Benatar, Jim Crawford, Thomas Ligotti oder Sarah Perry; in den Einzugsgebieten des Spanischen und Portugiesischen durch Autoren wie Julio Cabrera und Rafael Tages Melo; in deutscher Sprache durch Texte von Günter Bleibohm oder Nicole Huber.
In Kurnig gilt es einen Denker zu würdigen, der geraume Zeit vor den oben genannten die Willensmetaphysik Schopenhauers hinter sich ließ – in deren Bann stehend der zwar anthropofugale Eduard v. Hartmann den Antinatalismus explizit verwarf!, da der Urgrund, das fortbestehende Unbewusste auf dem Wege der Evolution doch wieder einen menschlichen Typus hervorbringen würde. Anders Kurnig, dem der Durchburch zu einem wegweisenden säkularen Antinatalismus gelang: „Der einzig mögliche Fortschritt des Ganzen liegt auf dem Wege der Einstellung der Kinderzeugung – wie gesagt, der sanften Entvölkerung unseres Erdballs. Alles, was einer sanften möglichst raschen und definitiven Entvölkerung zu Gute kommt, muss befürwortet werden. Das wird die Moral der Zukunft sein.“
Kurnigs Textsammlung „Der Neo-Nihilismus. Anti-Militarismus – Sexualleben (Ende der Menschheit)“ erschien 1903 in zweiter vermehrter Auflage (inklusive Repliken auf zahlreiche Rezensionen) im Verlag von Max Sängewald (Leipzig).
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