„Ich fühl es wohl: Nichts kann uns Ruhe schenken / Inmitten aller Traurigkeit der Welt, / Nichts, nichts … vielleicht nur einzig das Gewissen.“ Alexander Puschkin, 1825, VI. Szene seiner „Komödie vom Zaren Boris und von Grigorij Otrepjew“, Textgrundlage für Modest Mussorgskijs Oper, 1868. Der Katalane Calixto Bieito, Regisseur von „Boris Godunow“ 2013 an der Bayerischen Staatsoper: „Das schlechte Gewissen ist für mich das zentrale Thema der Boris-Figur, das ihn bis in die tiefsten Abgründe seines Denkens verfolgt.“ Bieito fragte, ob wir … „nach all den Grausamkeiten, die Politiker, Militärs und generell die Mächtigen begangen haben, noch glauben“ können, „dass irgendjemand ein schlechtes Gewissen hat wegen seiner negativen Taten“.
Die Bayerische Staatsoper nahm Bieitos unter die Haut gehende „Boris“- Deutung vor zehn Jahren mit Recht ins Opernfestival-Programm. Welches Glück, den bereits 2013 in der Titelpartie bejubelten Welt-Bass Alexander Tsymbalyuk (als Einspringer) zu erleben! Zwei klasse Bühnenkünstlern war damals schon der seit langem überzeugendste Staatsopernabend zu danken: dem alle Thrillerregister ziehenden, Gewalt und Machtrausch anprangernden, dabei einprägsame Charaktere modulierenden, jedoch auf Schockwirkung … verzichtenden Bieito, dazu dem sowohl darstellerisch als auch mit lyrisch samtigem Bassbariton brillierenden Tsymbalyuk, dem das Kunststück gelang, seinen Boris gleichermaßen bedauerns- wie verachtenswert zu finden.
So sei wiederholt, was ohne Abstriche noch für die 10 Jahre „alte“ Bieito-Inszenierung gilt: Die Bühne dominiert Finsternis und Grauen. Wahn und Wucht spuckt der 14 Tonnen schwere Riesentanker von Rebecca Ringst als kerkerartiger Kreml aus. Er beherrscht die Bühne mit dem aufgepumpten Pöbel. Der um den Kindsmord des Zaren wissende Chronist Pimen (würdiger Nachfolger von Altmeister Anatoli Kotscherga: Vitalij Kowaljow) darf stehend in der Bühnenmitte erzählen, allerdings mehr wehklagen als wetternd wie sein Vorgänger. Kowaljows Dialog mit Dmytro Popow (Grigorij) wurde zu einem vieler Höhepunkte des illusionslos realistischen, vom religiös zerfurchten 17. ins säkulare 21. Krisen-Jahrhundert geholten Geschehens.
Viel Beifall (nicht zuletzt für den erregten Gottesnarren des nimmermüden Kevin Conners und den herrlich abgefuckten Waalam Ryan Speedo Greens), aber noch zu wenig, vor allem für den endlich von der Themse an die Isar geholten großartigen Dirigenten Vasily (richtig gelesen!) Petrenko. Für einen der altgedienten Bässe im Riesenchor der BSO zählt Bietos, ursprünglich von Kent Nagano einstudierter „Boris“ zu den fünf Top-Inszenierungen am Haus. Dem ist aus vollstem Herzen beizupflichten.