Buchbesprechung: Fünf Vertriebenen-Schicksale

Titel-Illustration des Buches „Die vertriebenen Kinder“ zur Geschichte der kleinen Annelies Hennig von Frantiska Loubat, fotografiert von Hans Gärtner

Marek Toman / Jan Blazek: „Die vertriebenen Kinder“, aus dem Tschechischen von Raija Hauck, Graphic Novels von Jakub Bachorik u. a., 136 Seiten, Balaena Verlag & Post Bellum 2022, ISBN 978-3-98199-848-1

 Ein Band mit fünf Geschichten, geschrieben (eher für Erwachsene) und gezeichnet (auch und vor allem für Kinder ab 8 Jahren). Fünf Geschichten mehr oder weniger kunstvoll, aber mit großem Engagement. Und wichtig. Denn sie handeln von ganz besonderen, heute kaum mehr „bedachten“ Schicksalen, bestimmt vom aufgezwungenen Verlust der angestammten geliebten Heimat. Deutsche Mädchen und Buben sind in diesem Buch die Leidtragenden, freilich mit ihren Angehörigen, nicht immer beider Eltern, manchmal auch ihrer Großeltern. Ihre Heimat Tschechien, damals, nach dem Zweiten Weltkrieg, noch Tschechoslowakei, mussten sie aus politischen Gründen zurücklassen, wenn sie nicht in für sie eingerichtete Auffanglager kamen, um von dort aus abtransportiert zu werden, viele von ihnen ins benachbarte Deutschland, davon wiederum eine große Anzahl nach Bayern.

Da wird erzählt und in Comics gezeichnet von Franz aus Ostrava/Ostrau, von Rosemarie, die Urgroßnichte des Komponisten Antonin Dvorak, von Kurt aus Postelberg, von Annelies aus Reichenberg/Liberec, von Emil und Friedrich aus dem Böhmerwald. Keine dieser biografischen, hart an der Wirklichkeit stehenden Geschichten ist gleich, alle ähneln sich jedoch darin, dass es sich um Vertreibung handelt.

Die tschechischen Zeichnerinnen und Zeichner arbeiteten in Stil und Design ihrer teils höchst beeindruckenden Graphic Novels unterschiedlich, was den Reiz des DIN-A-4 großen Sammelbandes erhöht. Das Werk geht auf Interviews mit deutschen Zeitzeugen und Zeitzeuginnen des Prager Publizisten Jan Blazek zurück. Sie alle sind Betroffene und Leidtragende der Nachkriegsvertreibung aus dem östlichen Nachbarland. Blazeks Berufskollege und Mitherausgeber Marek Toman schuf das Szenario für die Gestaltung.

Man wünscht den Band in die Hände und ins Bewusstsein von Pädagogen, Kinder- und Jugendgruppenleitern, auch Eltern und Großeltern heutiger Heranwachsender, die ja zu keinem geringen Teil selbst, auch wenn nur durch Berichte und Erzählungen mit der Nachkriegsvertreibung-Geschichte verbunden sind. Ein solcher „Zeitzeuge“ ist der Schreiber dieser Zeilen. Er ist als fälschlich so bezeichneter „Flüchtling“ aus dem Sudetenland gerade an einer der fünf Geschichten hängen geblieben, nämlich der von der kleinen Annelies Hennig aus Reichenberg, das heute Liberec heißt, übrigens der Geburtsstadt des vor 10 Jahren verstorbenen Kinderbuchautors Otfried Preußler, dessen Gattin auch Annelies hieß. Wie beide Annelies ist auch der das Buch Vorstellende nicht aus dem Sudetenland direkt nach Westdeutschland, sondern von Reichenberg aus zunächst in die sowjetisch besetzte Zone, die zuerst „Ostzone“ und später genannte DDR, per Viehwaggon verfrachtet worden, zusammen mit seiner Mutter – der Vater war russischer Kriegsgefangener, der erst 1949 heimkehrte – und zwar dann nach Südostbayern, wo ein Jahr zuvor Mutter und Sohn ihre neue Heimat fanden, die sie beide als Flüchtlinge aus Südbrandenburg im Dezember 1948 erreicht hatten.

In Annelies Hennigs Einleitung zu der von Frantiska Loubat bebilderten Geschichte „Jonglieren ohne Worte“ (Seite 80 bis 104) steht, was sich letztlich mit der eigenen Erfahrung deckt: „Über die Vertreibung wurde in der DDR nicht gesprochen. Das Thema existierte nicht, es wurde totgeschwiegen. Es war einfach verboten … Wir durften nicht sagen, dass wir von woanders stammten. Dabei waren wir nicht die Einzigen! …“ Annelies Hennigs neue Heimatstadt wurde das fränkische Pegnitz. Dorthin ist sie vor 30 Jahren als Erwachsene aus der DDR geflohen. Ihre Lebensgeschichte ist geprägt von „unterdrückten Erinnerungen“ und „erzwungenem Schweigen, ähnlich, wie es vier lange Jahrzehnte bezüglich der Vertreibung in der Tschechoslowakei herrschte. Und auch eine Geschichte des geteilten Deutschlands, die im Jahr 1989 einen guten Abschluss fand – teilweise auch in Prag“ (S. 104).

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Über Hans Gärtner 501 Artikel
Prof. Dr. Hans Gärtner, Heimat I: Böhmen (Reichenberg, 1939), Heimat II: Brandenburg (nach Vertreibung, `45 – `48), Heimat III: Südostbayern (nach Flucht, seit `48), Abi in Freising, Studium I (Lehrer, 5 J. Schuldienst), Wiss. Ass. (PH München), Studium II (Päd., Psych., Theo., German., LMU, Dr. phil. `70), PH-Dozent, Univ.-Prof. (seit `80) für Grundschul-Päd., Lehrstuhl Kath. Univ. Eichstätt (bis `97). Publikationen: Schul- u. Fachbücher (Leseerziehung), Kulturgeschichtliche Monographien, Essays, Kindertexte, Feuilletons.