„Gemeinsame Lebenslügen sind komplizierte Gebilde,
aber das zugrundeliegende Prinzip ist simpel:
Der eine will nicht hören, was der andere sich nicht zu sagen traut.“
(Stephan Thome, Gegenspiel 2015)
Stephan Thome ist etwas gelungen, was bislang noch kein Schriftsteller vermocht hat: Er hat einen Doppelroman über ein modernes Ehedrama geschrieben, wobei der erste Roman das Erleben und die Sichtweise des Mannes schildert, der andere jenes der Frau. In beiden Romanen geht es um dieselben Personen und um dieselbe Beziehungsgeschichte. Dieser geniale Trick mit dem Perspektivenwechsel ermöglicht Einsichten und Gefühlsbotschaften, die sonst nicht möglich wären. Es werden dieselben Ereignisse geschildert und manche Dialoge sind fast identisch. Zwei Romane, zwei Perspektiven, zwei Wahrheiten. Keine Synthese. Beide Romane zusammengenommen umfassen fast 1000 Seiten. Der Leser wird also massiv beansprucht. Es ist jedoch ein einmaliger Gewinn, beide zu lesen. Der Leser kann sich streckenweise fühlen wie ein Paartherapeut, bei dem ein Mann und eine Frau ausführlich ihre Liebesbeziehung schildern, jeder in seiner subjektiven Version, jeder mit seiner einmaligen Perspektive. Schon das Zuhören fällt Paaren in dieser Situation oft schwer. Sehr groß wird plötzlich die Versuchung des Zuhörenden, die Schilderung des Partners zu unterbrechen, ihn zu korrigieren, zu kommentieren oder etwas richtig zu stellen: „Es war nicht so, wie du gerade gesagt hast, es war ganz anders, nämlich …“ oder „Nein, das stimmt nicht! Ich erinnere mich noch ganz genau, dass es so und so war …“ Nun kommen ja zum einen Paartherapeuten vorwiegend Männer und Frauen, deren Liebesbeziehung in eine Krise geraten ist, oder die wie in einer Pattsituation in einer qualvollen Phase des Scheiterns stecken. Paargespräche sind dann oft ein letzter Rettungsversuch für eine Reanimation der Liebe.
In eine ähnliche Situation bringt Stephan Thome jene Leser, die von einem Roman derart begeistert sind, dass sie auch den zweiten lesen wollen, bei dem es ja um die gleichen Personen und die gleiche Geschichte geht. Es wird dabei klar: Der weibliche Blick ist radikal anders als der männliche. Alle sprechen über dasselbe und doch erscheint beides grundverschieden in der männlichen und der weiblichen Perspektive. Weibliche Augen sehen etwas anderes als die männlichen. Das von Stephan Thome gewählte Thema ist hochaktuell angesichts der postmodernen Diffusion der Geschlechtsverhältnisse. Lassen Sie uns mit dem gerade im Januar 2015 erschienenen Roman „Gegenspiel“ beginnen. Er bietet die weibliche Version. Geschildert wird die Beziehung der beiden Protagonisten Maria und Hartmut. Sie sind gerade 20 Jahre miteinander verheiratet. Hartmut ist fast 60 Jahre alt und Professor für Sprachphilosophie an der Universität Bonn. Maria und Hartmut haben sich in Berlin kennengelernt. Sie studierte dort in den achtziger Jahren Theaterwissenschaften und war zuerst liiert mit Falk Merlinger, einem Theaterregisseur, der sein Vorbild Heiner Müller wie einen Gott verehrte. Maria Antonia Pereira ist von der Herkunft Portugiesin und hat ihr Land nach der sogenannten Nelkenrevolution verlassen, um in Berlin zu studieren. Portugal spielt immer wieder eine große Rolle in beiden Romanen, weil dort die kranken Eltern Marias lebten, weil Hartmut bei einer Europareise zu seiner Selbstfindung wieder einmal in Portugal landete. Schließlich wohnt auch der Autor beider Romane, Stephan Thome, derzeit in Lissabon. Nach dem Bruch der Beziehung mit dem Theaterfanatiker Falk lernte Maria den Philosophiestudenten Hartmut Heinbach kennen. Ihr neuer Lebenspartner konzentrierte sich stark auf seine akademische Laufbahn, erhielt schließlich eine Professur an der Universität Bonn. Die beiden zogen in ein Reihenhaus, heirateten und bekamen eine Tochter, der sie den Namen Philippa gaben. Sie studiert Ernährungswissenschaften in Hamburg und befindet sich in der Roman-Gegenwart gerade in Santiago de Compostela, um ihre Spanisch-Kenntnisse zu verbessern.
Der Roman „Gegenspiel“ beginnt mit dem lapidaren Satz: „Schatz, was ist los?“. Maria ist während einer Autofahrt mit Hartmut in Tränen ausgebrochen. Beide sind auf der Fahrt zu einer Hochzeit von Freunden und Hartmut traktierte sie mit lästigen Fragen, die sie als inquisitorisch erlebte. Seit fast zwei Jahren führen sie eine Wochenendehe, weil Maria ihr bisheriges Leben zu eng und unbefriedigend vorkam. Frustration und Sehnsucht trieben sie aus dem Haus. Das sind die schon im vorher erschienenen Roman „Fliehkräfte“ beschriebenen zentrifugalen Kräfte, die einen Partner mit großer Fliehkraft aus dem Zentrum der bisherigen Ehe hinausschleudern. Diese Fliehkräfte führen zu Fluchtversuchen und Suchbewegungen. Maria katapultierten diese Fliehkräfte wieder zurück nach Berlin, wo sie ja schon Jahrzehnte zuvor ihr rebellisches Studentenleben hatte. Sie wurde jetzt Assistentin, wiederum des Theaterregisseurs Falk Merlinger, der sich mittlerweile zu einem unerträglichen Misanthrop entwickelt hat. Ihr Ehemann Hartmut fühlt wachsendes Unbehagen an dieser Wochenendbeziehung. Keinesfalls würde er offen latente Verlustängste ansprechen. Während der Autofahrt gelingt es Maria, das Schwierige und die Missverständnisse ihrer Kommunikation anzusprechen:
„Sobald ich von Schwierigkeiten spreche, machst du dir Hoffnungen. Wenn ich von Problemen berichte, ernte ich kein Verständnis, sondern bestätige deine Meinung, den falschen Schritt getan zu haben… Permanent zwingst du mich in die Rolle derjenigen, die unsere Ehe gefährdet, indem sie ihre eigenen egoistischen Pläne verfolgt.“
Hartmut kontert: „Ich wusste nicht, dass unsere Ehe in Gefahr ist.“
Ihr Dialog misslingt und Maria leidet sehr darunter:
„Was geschieht mit uns? Warum können wir nicht mehr reden?“ – „Wir reden schon eine ganze Weile.“ – „aneinander vorbei.“
Über acht Seiten des Romans geht dieser qualvolle Austausch des Missverstehens, eines kommunikativen Scheiterns. Als schließlich Hartmut auch noch das Wort „ficken“ verwendet, schlägt Maria impulsiv nach ihm. Hartmut macht eine Ausweichbewegung und rast auf die Gegenfahrbahn mit hoher Geschwindigkeit. Maria ist schockiert: Zum ersten Mal hat sie ihren Mann geschlagen. Das Auto kommt noch ohne Unfall zum Stehen und Maria sagt fassungslos: „Was mache ich in diesem Irrenhaus von einer Ehe?“ Die beiden kriegen nicht nur mit dem Auto, sondern auch im Umgang miteinander wieder die Kurve. Sie kommen bald zu dem Hotel, in dem die Hochzeit stattfindet. Nach diesem furiosen Auftakt folgen immer wieder Rückblicke in das Leben Marias: ihre Kindheit in Portugal, der Wechsel nach Berlin, ihre wilde Studentenzeit, die Heirat, die Geburt ihrer einzigen Tochter, das bittere Leben an der Seite eines deutschen Professors der Philosophie. Während Maria in Berlin nicht so recht ihren Platz findet und sich nicht wohl fühlt, macht Hartmuteinen Selbstfindungstrip durch Europa. Er besucht alte Freunde, trifft seine Tochter Philippa und landet schließlich in Portugal, wo sich die Wege von Hartmut und Maria wieder kreuzen.
Sowohl „Fliehkräfte“ als auch „Gegenspiel“ enden in Portugal. Der Vorhang fällt – und alle Fragen offen. Marias Emanzipationsversuch wird beschrieben als „Freiheitsdrang einer Orientierungslosen“. Es ist mehr eine orientierungslose Flucht als ein zielgerichteter Ausbruch mit Zukunftsperspektiven. Sie hat einfach das Weite gesucht und ist aus ihrem dumpfen Unbehagen nicht herausgekommen. Was letztlich Hartmut auf seiner langen Odyssee durch Europa über sich selbst und seine Beziehung zu Maria gelernt hat, bleibt in den beiden Romanen ebenfalls offen. Bei all den Irrungen und Wirrungen ist ihm durchaus bewusst geworden, wie frustriert und unzufrieden seine Frau Maria ist. In vielfacher Hinsicht ist die „Mauer des Schweigens“ gebrochen, es wurden viele heikle Themen angesprochen, aber es sieht auch bei Romanende nicht nach einem konstruktiven Dialog oder einer gelingenden Beziehung aus. Die Lösung, die Synthese ist ausgeblieben. Was bleibt, sind Resignation und Fremdheitsgefühle. Für den großen Aufbruch fehlt beiden die Kraft. Sie können nicht voneinander lassen, aber sie können sich auch nicht mit frischer Kraft und neuem Mut wiederfinden. Es ist fast wie das tragische Ende im Film „Jules und Jim“, der mit den Worten endet: „Weder mit dir noch ohne dich.“
Literatur:
Thome, Stephan, Fliehkräfte, Suhrkamp Berlin 2012
Thome, Stephan, Gegenspiel, Suhrkamp Berlin 2015
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