Interessen, Werte und der Ukraine-Krieg

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Das Entsetzen war gewaltig. Präsident Macron hat es gewagt, in Peking über europäische Interessen zu sprechen. Zweifelt Macron etwa daran, dass Europa ohne den amerikanischen Atom-Schutzschirm hilflos der russischen Aggression ausgesetzt wäre?  Das erinnert fast an die antiamerikanische Politik seines Vorgängers Charles de Gaulle, der Amerikaner und Briten, die „Angelsachsen“, gleich beide aus Europa heraushalten wollte. Das erleichtete zwar die deutsch-französische Versöhnung, hielt aber seinen deutschen Partner Konrad Adenauer nicht davon ab, die Bundesrepublik mit Wiederbewaffnung und dem NATO-Beitritt 1955 eng an die USA zu binden. Diese „Westbindung“ ist seitdem eine zentrale Konstante der deutschen Politik geblieben und wird seit Februar 2022 auch von der Ampel-Koalition immer wieder beschworen. Obwohl seit dem Ende des Kalten Krieges kaum jemand eine Bedrohung  durch Russland wahrnehmen oder gar militärisch definieren konnte, gilt Deutschland in der politischen Rhetorik und in den Medien als wichtigster Verbündeter der USA. Allerdings müsste dabei noch hinterfragt werden, wie weit diese Sichtweise Eigenwahrnehmung ist. Denn es mehren sich Analysen, dass die Vereinigten Staaten inzwischen immer mehr auf Polen als Hauptverbündeten in Europa setzen. Von den einst über 200 militärischen Einrichtungen der USA in Deutschland sind heute noch 40 übriggeblieben. Diese sind allerdings für die amerikanische Armee außerordentlich wichtig und hilfreich. Die Ramstein Air Base in der Pfalz taucht selten, aber immerhin gelegentlich in den deutschen Medien auf, in den sozialen Medien auch einmal etwas kritischer als amerikanische Enklave ohne Zutritt für Deutsche. Als sichere Zwischenbasis für Flüge in den Mittleren Osten und nun in Richtung Ukraine ist sie weiterhin unabdingbar. Die Militärkrankenhäuser in Ramstein und Landstuhl, die in den Medien noch seltener erwähnt werden, sind möglicherweise noch weit wichtiger, weil verwundete Soldaten aus Einsätzen östlich und südlich von Deutschland dort erstversorgt werden, bis sie ausreichend transportfähig sind und in die Heimat zurückgebracht werden können.

Deutsche Interessen?

Auch wenn sie bisher nicht gestellt wurde, dürfte die Frage berechtigt sein, wie weit die  vierzig verbliebenen Stützpunkte auch deutschen Interessen dienen. Der Verweis auf den amerikanischen Atomschirm hat die Frage bisher mehr überdeckt als legitimiert, gerade auch weil Deutschland bis zum 24. Februar vorigen Jahres Russland weit mehr als Partner und Energielieferanten wahrgenommen hat und nicht als Bedrohung. Schon die russischen Sprachkenntnisse von Kanzlerin Merkel und Präsident Putins Deutsch schienen zu beweisen, dass das Deutsch-Russische Verhältnis  problemlos und geradezu freundschaftlich war. Öl und Gas wurden zu vorteilhaften Preisen importiert, selbst einige Ladas verirrten sich ins Autoland, und die deutschen Exporte rollten auch erfreulich in Richtung Osten. Die Vernachlässigung der Bundeswehr, wie sie heute beklagt wird, war eine logische Folge dieser russlandfreundlichen Grundüberzeugung. Auch gegenüber den amerikanischen Forderungen, die Verteidigungsausgaben auf zwei Prozent der Wirtschaftsleistung zu steigern, blieben die Bundesregierungen unter Angela Merkel weitestgehend resistent. Interne Kritik daran gab es kaum, Aufrüstung und Verteidigungsbereitschaft hatten keine politisch erkennbare Lobby, obwohl Rüstungsexporte durchaus ins deutsche Geschäftsmodell passten und häufig genehmigt wurden.

Im Gegensatz zu den USA, die bei ihren weltweiten Aktionen gern und oft das „Nationale Interesse“ bemühen und sich mindestens seit der Krim-Annexion 2014 intensiver in Kiew engagiert hatten, blieb eine entsprechende deutsche Debatte überschaubar. Von einem „Nationalen Interesse“ an der Ukraine war konkret nie die Rede. Einmal, weil der Begriff ohnehin nicht gern benutzt wurde, zum anderen, weil das Transitland die Gasimporte mit Durchleitungsgebühren in Milliardenhöhe verteuerte und für die deutsche Exportindustrie keine besondere Priorität hatte. Weizen und Futtermittel wurden importiert, aber Getreide wird schließlich ausreichend in der EU produziert und die eigene Agrarwirtschaft kostet ohnehin erhebliche Subventionen. Die ukrainische Innenpolitik wurde weitgehend als chaotisch und korrupt wahrgenommen, die Orange-Revolution erschien rätselhaft und vielleicht am ehesten mit den dunklen Seiten der slawischen Seele zu erklären. Mit den beiden Minsker Abkommen schien die europäische Mitwirkungspflicht als Friedensstifter erfüllt. Wenn man den nachträglichen Kommentaren von Merkel und Hollande folgt, sogar übererfüllt, nämlich als Hilfe zur Selbstverteidigung der Ukraine. Dieser Aspekt blieb allerdings der Allgemeinheit und den Medien lange verborgen, bis zum Outing der Ex-Kanzlerin und des französischen Ex-Präsidenten. Damit fing bereits eine Zeitenwende der besonderen Art an, und mit dem Überfall Russlands am 24. Februar 2022 entdeckte Deutschland erstaunlich plötzlich sein nationales Interesse an der Ukraine. Dass es dabei weniger um materielle wirtschaftliche Interessen ging, liegt auf der Hand. Mit 5,4 Mrd. Euro 2021 lag die Ukraine auf Rang 41 der deutschen Handelspartner.

Die Ampelkoalition und die neue Wertedebatte

Während der deutschen Teilung wurden im Westen Freiheit und Demokratie als die entscheidenden Werte hervorgehoben, im Osten die egalitären Errungenschaften des Sozialismus. Mit der Wiedervereinigung war die ideologische Debatte beendet, das nationale Interesse lag im materiellen Bereich, bei der Infrastruktur und Angleichung der Lebensverhältnisse. Im Koalitionsvertrag vom 24.11.2021 hat die Ampelkoalition sich programmatisch zum Ziel gesetzt, dass die Bundesregierung sich für die „Bewahrung unserer freiheitlichen Lebensweise in Europa und den Schutz von Frieden und Menschenrechten weltweit einsetzen“ wird. Zusätzlich heißt es: „Dabei leiten uns unsere Werte und Interessen.” Wenn nicht die neue Außenministerin immer wieder betont hätte, dass sie für eine werteorientierte und feministische Außenpolitik eintreten wolle, wäre diese Zielableitung aus dem Koalitionsvertrag vielleicht nicht weiter in die öffentliche Diskussion gelangt. Dann wären auch die möglichen Konflikte zwischen Interessen und Werten nicht besonders augenfällig geworden. Aber die Ukraine-Invasion, kaum war die Ampelkoalition in der Regierungsverantwortung angekommen, veränderte die Situation fundamental und verschob jede Priorität von den Interessen zu den Werten. Selbstverständlich verstieß Russland gegen das Gewaltverbot der Vereinten Nationen und genau so selbstverständlich hat die Ukraine das Recht, sich zu verteidigen. Deutschland schloss sich den amerikanischen und europäischen Sanktionen gegen den Aggressor an und nahm dafür wirtschaftliche Einbußen bewusst in Kauf, nicht gerade wenige mit dem Verzicht auf russisches Öl und Gas. Der gesamte komplexe Vorgang wurde zum Start für eine zur „Zeitenwende“ erklärten Anpassung der Sicherheitspolitik, deren Umsetzung sich allerdings hinzieht. Aber er setzte auch eine Welle der Empörung gegen Russland in Gang, die in den Medien und besonders in den sozialen Medien eine bisher nicht gekannte Intensität erreichte. Diese Empörung erscheint insofern als werteorientiert, als alle nicht konformen Debattenbeiträge mit inquisitorischem Furor zurechtgewiesen werden.

Friedenswerte?

In diesem Debattenklima, das offenbar eine große Mehrheit der teilnehmenden Öffentlichkeit mit der Politik und den Medien vereint, war es wahrscheinlich nicht zu vermeiden, dass das Manifest der Feministin Alice Schwarzer und der Linken-Politikerin Sarah Wagenknecht trotz der mehr als 600.000 eingesammelten Unterschriften niedergemacht wurde. Friedensverhandlungen seien sinnlos, da Russland nur die Sprache der Gewalt verstehe. Ähnlich haben sich auch die Ansichten zu China und der Taiwan-Frage entwickelt, und das während die wirtschaftliche Verflechtung mit beiden Ländern für Deutschland um mehrere Dimensionen wichtiger ist als mit der Ukraine und mit Russland zusammen. Die Pentagon-Leaks haben an diesem Meinungsklima nichts verändert, wenigstens bei diesem Thema bleibt Deutschland der wichtigste Verbündete der USA in Europa und der französische Präsident Macron muss völlig daneben liegen.
Bei dieser Bestandsaufnahme bleibt die Frage, ob es politisch und ethisch verantwortbar ist, allein auf die Bestrafung und eine militärische Niederlage des Aggressors Russland zu setzen, die selbst von amerikanischen Militärs wie dem Generalstabschef Mark Milley in Zweifel gezogen wird. Verhandlungen als sinnlos auszuschließen kann nur mit einer Verengung der wertebasierten Politik erklärt werden, die laut Koalitionsvertrag auch dem „Schutz von Frieden und Menschenrechten weltweit“ verpflichtet sein sollte. In Anbetracht von Hunderttausenden von Kriegsopfern auf beiden Seiten und der materiellen Zerstörungen in der Ukraine, einschließlich der Umweltschäden, wäre vielmehr eine Auslotung aller denkbaren Ansätze für Kompromisslösungen notwendig, die dem Sterben und Zerstören zu einem Ende bringen könnten. Im Hinblick auf die deutschen Medien, ihre Leserbriefseiten und die sozialen Medien fällt auf, dass kaum über die auf beiden Seiten propagandistisch geschönten oder übertriebenen Verluste an Menschenleben diskutiert wird. Emotional sind offenbar Klimaziele, Tierschutz oder Minderheitenrechte wichtigere Ziele als ein Ende des Mordens in der Ukraine. Zu den Menschenrechten gehört an erster Stelle das Recht auf Leben, aber offenbar haben wir uns durch die ständigen blutigen Konflikte weltweit so an das Sterben anderer Menschen gewöhnt, dass die wertebasierte Politik auf Friedensinitiativen verzichten und die Bestrafung des Aggressors zur obersten Priorität erklären kann. Die Mehrheit der Deutschen ist damit offenbar einverstanden.

Sterben lassen?

Der amerikanische Militärpsychologe Dave Grossman hat in seinem zuerst 1996 erschienen Buch „On Killing“ die Mechanismen beschrieben, wie man Soldaten dazu bringt, die natürliche Tötungshemmung zu überwinden und welche psychischen Belastungen daraus entstehen. Er beschreibt aber auch die Gewöhnung der gesamten Gesellschaft an alltägliche Gewalt, nicht zuletzt durch Filme und Computerspiele, denen bereits Kinder ausgesetzt werden. Das Resultat nennt er „acquired violence immune deficiency“, also eine erworbene Abstumpfung gegenüber dem Töten von Mitmenschen. Wie weit auch Deutschland davon betroffen ist, wäre eine Debatte wert.