Hinter uns liegen Jahrzehnte der Antibürgerlichkeit, die zunächst im kollektivistischen Nationalsozialismus und dreissig Jahre später dann in der Studentenbewegung ihre gespenstischen Höhepunkte fanden. Auch wenn heute gerne Vorträge über die «Zivilgesellschaft» gehalten werden, so ist doch sehr zweifelhaft, ob wir unsere Gesellschaft noch als bürgerliche beschreiben können. Aber die Idee der Bürgerlichkeit lebt!
Der deutsche Begriff «Bürger» unterscheidet nicht zwischen Citoyen und Bourgeois – zu Recht. Die falsche Übersetzung von Bourgeois mit «Bürger» geht auf das polemische Bedürfnis der Boheme zurück. Der Bürger wird hier als Spiesser zur anachronistischen Negativfigur stilisiert. Komplementär dazu bildet der Erfolglose das Kultzentrum des antibürgerlichen Affekts – früher in Gestalt des Bohemiens, der den Bürger als Bourgeois denunziert, heute in Gestalt des Arbeitslosen, dessen Unglück von den Medien in eine Dauerklage gegen «die Gesellschaft» verwandelt wird. Bis zum heutigen Tag setzt die Antibürgerlichkeit eine Prämie auf Weltfremdheit.
Doch zum Glück gibt es heute auch wieder Menschen, die ihre Energien nicht im bohemehaften Protest gegen den biedermeierlichen Alltag verbrauchen und sich auch nicht an dem billigen Spott über die bürgerliche Innerlichkeit, diesen Weltinnenraum der Freiheit, beteiligen. Sie glauben an die Transzendenz, sie lieben ihre Familie, sie arbeiten an ihrem Erfolg, sie sind stolz auf ihr Eigentum und bilden sich in nimmermüder Anstrengung. Die Welt, in der sie sich bewähren, ist die Welt des Üblichen, der Routine, der Pensen, der Pflichten und Gewohnheiten, die Welt der nächsten Dinge. Diese Bürgerlichkeit ist nicht mittelmässig, sondern massvoll. Sie ist die moralische Ressource, von der die freie Marktwirtschaft und der soziale Rechtsstaat zehren.
Bürgerlichkeit ist die Lebensform der Freiheit in der modernen Welt. Wer frei ist, lebt nicht einfach, sondern führt ein Leben. Die Würde des Menschen muss also geleistet werden. Diese Leistung, bürgerliche Lebensführung, ist der Kernbestand realer Freiheit. Sie erwächst aus der Sorge um das wirklich Wichtige. Was wirklich wichtig ist, kann heute aber nur der Einzelne entscheiden, denn soziale Systeme funktionieren, aber sie sind nicht auf etwas aus. Wenn heute also der vorsorgende Sozialstaat beansprucht, die Lebensführung der Menschen durch lebenslange Betreuung zu übernehmen, dann heisst das im Klartext: er nimmt den Menschen die Lebensführung ab.
Der freie Bürger führt sein Leben selbstverantwortlich und lässt es sich nicht vom Daseinsfürsorgesystem abnehmen. Bürger ist, wer aufhört, gegen sich bequem zu sein. Seine Freiheit setzt also Selbstdisziplin voraus. Frei ist ein Mensch, dessen Selbstwertgefühl aus Selbstdisziplin erwächst. Persönlichkeit kann man deshalb als das System von Erwartungen definieren, die jemand an sich selbst hat. Sie ist ein Gefühlskonstrukt, mit dessen Hilfe man die Zwänge des Alltags pariert. Dazu gehören Höflichkeit und gute Manieren. Was einmal bürgerliche Tugend war, ist zum geheimen Erkennungszeichen einer neuen Elite geworden.
Finde deinen Platz, begreife und ergreife deine Lage, erfülle die Forderung des Tages, tue deine Pflicht, halte deine Existenz aus. Das ist die Tapferkeit des Bürgers, der sich den bequemen Ausweg der «Gesellschaftskritik» versagt. Denn zu nichts braucht man heute mehr Mut als zur Wahrnehmung des Positiven. Und damit erweist sich der Bürger auch als der letzte Träger der Aufklärung. Kants Mut zum Selbstdenken konkretisiert sich heute politisch als Mut zur Bürgerlichkeit. So hat Odo Marquard den Begriff «Zivilcourage» übersetzt. Es gibt heute eine neue Bürgerlichkeit, auch wenn es keine bürgerliche Gesellschaft mehr geben sollte. Das ist der wahre Nonkonformismus.
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