Lieber F.
Nachdem nun auch Du mir den Essay Antje Vollmers (https://www.berliner-zeitung.de/…/ein-jahr-ukraine…) zugemailt hast, komme ich wohl nicht umhin, Dir meinen Eindruck mitzuteilen, obwohl ich dazu ursprünglich nicht schreiben wollte. Wegen der bemerkenswert hohen viralen Verbreitung des Textes erlaube ich mir, Dir auf facebook zu antworten.
Während Du dich von ihrem Essay „sehr berührt“ zeigst, bin ich eher erschrocken. Nicht weil Antje Vollmer wie schon andere vor ihr Schwächen und Versäumnisse deutscher und westlicher Aussenpolitik gegenüber Russland – und Michail Gorbatschow im Besonderen – nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion aufzeichnet. Manche wie Thomas Schmid (https://schmid.welt.de/…/die-legenden-der-gruenen-und…/) haben ihre Überlegungen aufgegriffen. Auch ich teile vieles, nicht alles.
Aber schon hier fällt auf, dass Antje Vollmer über das Versagen der russischen Eliten schweigt, über die Zerstörung deren eigener Gesellschaft, den Ausverkauf Russlands an Oligarchen, die mörderische Überfälle auf Nachbarn und die furchtbare Verfolgung der Russen, die zu widersprechen wagen.
In der Tat haben die westlichen Staaten und die Bundesregierungen unter Gerhard Schröder und Angela Merkel trotz einiger Ansätze nicht alle Möglichkeiten genutzt, das nach-sowjetische Russland für eine neue Friedensordnung in Europa zu gewinnen. Ob es so gelungen wäre, den erstarkenden russischen Revanchismus einzudämmen, ist im Nachhinein nicht zu klären.
Sie mögen damit Russlands Überfall auf die Ukraine erleichtert haben, so wie der Versailler Vertrag mit seinen Deutschland einzwängenden Bestimmungen Hitler in die Hände spielte. Aber die Verantwortung für die Kriege tragen immer diejenigen Staaten und Führer, die ihre Nachbarn überfallen. Es ist eben kein Naturgesetz oder wie bei Antje Vollmer ein „Fluch“:
„Und jedes Mal fielen wie durch einen Fluch die Völker Europas wieder der Versuchung anheim, den Weg der Dominanz und der Konfrontation zu gehen“, mystifiziert Antje Vollmer diese Kriege und Kriegsverbrechen des 20. Jahrhundert. In Wirklichkeit hatte Vollmers „Fluch“ Namen: Mussolini, Hitler, Stalin.
Hätten in den Neunzehnhundertsechzigern und Siebzigern Professoren deutsche Schuld derart zu relativieren versucht, wären unsere Matrizendrucker heiss gelaufen. Zu Recht, denn viele von uns hatten in diesen Jahren bei ihren Reisen in Europa erfahren, wie wichtig es war, dass sich ein grosser Teil unserer Generation zur Schuld der Deutschen bekannte. Noch heute erfasst mich Befangenheit, wenn ich am 8. Mai in Frankreich in eine Gedenkveranstaltung gerate, auch wenn sie aus der Zeit gefallen scheint.
Darum war Willy Brandts Kniefall 1970 in Warschau das Zeichen unser Zeit gewesen. Es war ja keine modische Geste nach Art von „Knien für den Frieden“, sondern das Bekenntnis eines Bundeskanzlers, der gegen die Nazis gekämpft hatte, deutsche Schuld zu tragen. In diesem Kniefall verdichtete sich eine neue Politik, die schliesslich mit dem Zusammenbruch des Eisernen Vorhanges durch Europa abgeschlossen wurde. Sie gelang nur, weil Schuld als Schuld benannt und anerkannt wurde. Denn nur Schuld, die benannt wird, kann vergeben werden.
Dagegen setzt Antje Vollmer nun eine neue „Kunst der Selbstbegrenzung. Was Europa endlich verlernen muss, ist das ständige Verteilen von Ketzerhüten, das Ausmachen von Achsen des Bösen und von immer neuen Schurkenstaaten.“ Vollmer nutzt ihre Kunst vermeintlicher Selbstbegrenzung allerdings dafür, die Opfer als die eigentlichen Täter darzustellen: So geisselt sie die „Gewaltphantasien vieler junger Demokratien, sich nur als Opfer fremder Mächte zu sehen“, und schweigt über die Gewalt, die die Sowjetunion eben in diesen Staaten nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges ausgeübt hat. Oder gar über die täglichen Gewaltfantasien im russischen Fernsehen (https://m.facebook.com/story.php?story_fbid=6285549321456178&id=100000035169308 ). Ähnlich hatte bereits Sarah Wagenknecht der Ukraine vorgeworfen, „Russland auf ganzer Linie besiegen zu wollen“.
Nach dem gleichen Muster bezichtigt Vollmer Menschen, die sich gegen die Verhältnisse der DDR engagiert haben, der „Hochstapelei“ und „Slawenphobie“, während sie ihre westdeutschen Grünen für naturgegebene, oder wie sie es nennt, „pe se Dissidenten“ hält: „Alle kundigen Zeitzeugen wissen genau, dass der Widerstand und der Heldenmut von Joachim Gauck, Marianne Birthler, Katrin Göring-Eckardt durchaus maßvoll war und den Grad überlebenstüchtiger Anpassung nicht wesentlich überschritt. Manche Selbstbeschreibungen lesen sich allerdings heute wie Hochstapelei.
Das mag menschlich, allzu menschlich sein und also nicht weiter erwähnenswert. Fatal allerdings ist, dass dieser Teil der Bürgerrechtler heute zu den eifrigsten Kronzeugen eines billigen antirussischen Ressentiments zählt. Dies knüpft dabei bruchlos an jene Ideologie des Kalten Krieges an, die vom berechtigten Antistalinismus über den verständlichen Antikommunismus bis hin zur irrationalen Slawenphobie viele Varianten von westlichen Feindbildern bis heute prägt.“
Ihre Verleumdungen belegt Antje Vollmer nicht mit einem einzigen Wort. Gaucks höchst lesenswerte Erinnerungen enthalten nicht einen Hauch von „Hochstapelei“, und auch sein jüngstes Interview in der „Zeit“ zeichnet sich durch Zurückhaltung aus und hat nichts von „irrationaler Slawenphobie“(https://epaper.zeit.de/…/0fc1f0ac41817f2b3840dfdf792be6…). Ähnlich liesse sich das bei den anderen beiden durchbuchstabieren. Es sind für mich die schlimmsten Passagen ihres Textes.
Es kann nicht verwundern, dass Russlands Überfall auch das geistige Klima hier zu Lande verändert. Viele auch gemeinsame Einsichten unseres Lebens, wie die zum Kniefall Willy Brandts, werden nun in einer neuen historischen Situation hinterfragt. Ich glaube, diese zumindest werden bestehen.
Herzliche Grüße
Franz