Boris Cyrulnik – ein Pionier der Resilienzforschung

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Boris Cyrulnik (geb. am 26. Juli 1937 in Bordeaux) ist ein renommierter französischer Neurologe, Psychiater, Psychoanalytiker und Ethologie. Er gilt als einer der bedeutendsten Resilienzforscher. Da er wegen seiner jüdischen Herkunft selbst im Zweiten Weltkrieg verfolgt und traumatisiert wurde, hat er zum Thema der Resilienz eine sehr authentische Position. Mit Resilienz wird die seelische Widerstandskraft beschrieben. Als sich in Paris im November 2015 die schrecklichen Terrorattentate ereigneten, die vielen Menschen das Leben kosteten, war Cyrulnik fast 80 Jahre alt. In seiner Vitalität und aus seiner Berufung heraus hat er frühzeitig mit anderen Forschern Studien zur Traumaverarbeitung der Bataclan-Opfer initiiert, die einzigartig sind. In diesem Jahr erschien von ihm ein neues Buch mit dem Titel „Die mit den Wölfen heulen“.

Kurzes biografisches Porträt

Die Eltern von Boris Cyrulnik stammten aus der Ukraine und aus Polen. Sie emigrierten im Jahr 1936 nach Frankreich. Sein Vater war französischer Soldat und geriet in Kriegsgefangenschaft. Dort wurde seine jüdische Herkunft erkannt und er wurde nach Auschwitz deportiert. Er starb ebenso in einem KZ wie seine Ehefrau. Nun war Boris Cyrulnik bereits mit fünf Jahren Vollwaise. Die Mutter konnte ihn noch vor ihrer Deportation retten und in einer Pflegefamilie unterbringen. Im Januar 1944 wurde er bei einer Razzia erfasst und wurde in einer Synagoge eingesperrt, die als Sammellager für die Deportation ins KZ fungierte. Er konnte erfreulicherweise fliehen. Nur zwei von 1.700 Personen überlebten diese Aktion – er war einer davon. Seine Rettung und sein Leben danach beschrieb er in seiner Autobiographie „Rette ich, das Leben ruft.“ (Cyrulnik 2013). Nach der Rettung pendelte er zwischen einer Tante und einer Pflegefamilie. Er schaffte das Abitur und studierte Medizin. Nach dem Studium qualifizierte er sich als Arzt für Neurologie und Psychiatrie und machte eine Ausbildung als Psychoanalytiker. Er war Studiendirektor der Fakultät Humanwissenschaften an der Universität von Toulon. Zusätzlich war er Inhaber eines Lehrstuhls für Ethologie und leitete eine Forschungsgruppe für Klinische Ethologie am Krankenhaus von Toulon. Seine Haupt-Forschungssgebiete waren jahrzehntelang die Resilienz- und Traumaforschung.

„Die Kraft, die im Unglück liegt. Von unserer Fähigkeit, am Leid zu wachsen“ (2001)

Das erste Buch, das in deutscher Übersetzung erschien, führte bereits zentral in die Thematik der Resilienz. Cyrulnik faszinierte das Paradoxon, dass sich Menschen trotz aller Widrigkeiten und Schicksalsschläge gesund entwickeln und ein erfolgreiches Leben führen können. Er schreibt viel von kindlichen Opfern, von Flüchtlingskindern oder „seelisch verletzten Kindern“. Dabei identifiziert er Faktoren, die günstig oder ungünstig sind für die weitere Lebensentwicklung. Am Leid zu wachsen ist sein Hauptthema. Mit Bezug auf Elias Canetti postuliert er: „Der Überlebende ich ein Held, der sich schuldig gemacht hat, den Tod getötet zu haben.“  Cyrulnik hebt das „Trotzdem“ hervor – trotz aller Belastungen sieht er die Chance für seelisches Wachstum. Die von ihm beschriebene Trotzreaktion erinnert an den Bestseller „Trotzdem Ja zum Leben sagen“ von Viktor Emil Frankl, der dieses Buch als KZ-Überlebender geschrieben hat (Frankl 1946).  Der jüdische Psychiater William Niederland (1980) widmete sich jahrelang der Psychologie des „Überlebenden-Syndroms“. Das Wachsen am Leiden ist ein zentrales Thema der Resilienz- und Traumaforschung. Dieses Phänomen wird „Posttraumatic Growth“ oder Posttraumatisches Wachstum genannt.

„Warum die Liebe Wunden heilt.“ (2006)

Mit diesem Werk breitet Boris Cyrulnik ein breites Spektrum der menschlichen Beziehungen aus. Der rote Faden ist immer noch Trauma und Resilienz, aber das Buch enthält auch das hervorragende Kapitel „Metaphysik der Liebe“. Darin beschreibt der die Dynamik der Liebesbeziehungen vom Zauber der ersten Begegnung bis hin zu den ersten Konflikten und Krisen. Fast poetisch findet er Worte über die Faszination und Anziehungskräfte der Partner und erklärt, welche Menschen Amors Pfeil trifft und welche nicht. Paare, die sich gefunden haben, machen sich auf einen gemeinsamen Weg, der Glück und Zufriedenheit, aber auch Gratwanderung und Hölle werden kann. Cyrulnik entwickelt als Psychoanalytiker ein Verständnis dafür, welche Faktoren über ein Gelingen oder Scheitern der Liebesbeziehungen bedeutsam sind. Er differenziert affektive Stile und Bindungsmuster, die den Verlauf bestimmen. Letztlich betont er die Heilkraft der Liebe, die alte Wunden heilen kann. Sie kann im Falle des Scheiterns aber auch neue Wunden zufügen. Ausführlich kommt er immer wieder auf die Eltern-Kind-Beziehungen zu sprechen. Dabei analysiert er auch die Fehlentwicklungen der modernen „narzisstischen Gesellschaft“. Er charakterisiert verwöhnte Kinder, die wie „verdorbene Früchte“ ihre Eltern tyrannisieren, beschreibt fehlentwickelte „Riesenbabys“ und prangert Kinder an, die ihre Eltern verprügeln. Bezüglich der Traumabewältigung und Resilienz betont er wiederholt die sozialen Faktoren. Die Art, wie in der Umgebung des verletzten Menschen gesprochen wird, verbessert oder verschlimmert deren seelischen Zustand.

„Mit Leib und Seele. Wie wir Krisen bewältigen.“ (2007)

Wer die beiden erstgenannten Bücher bereits gelesen hat, dem werden viele Inhalte dieses Buches bekannt vorkommen. Cyrulnik stellt vieles jetzt in einen neuen Kontext. Wie der Titel bereits suggeriert, geht es um den Zusammenhang von Leib und Seele. Ob diese getrennt sind oder eine Einheit darstellen, das beschäftigt die beteiligten Wissenschaftsgebiete. Der Wissenschaftler zerlegt, isoliert oder differenziert, was vom erlebenden Menschen oft als Ganzes und Zusammenhängendes wahrgenommen wird. Leib und Seele erinnert an Psyche und Soma – und es gibt ja mit der Psychosomatik ein medizinisches Fachgebiet, das sich genau mit diesen Fragen beschäftigt. Cyrulnik versucht zu erklären, wie Neurone und Verhalten oder Gene und Umwelt sich wechselseitig beeinflussen. Sein Buch gliedert er in fünf Kapitel. Diese widmen sich dem Ursprung des Glücks, der Empathie, dem Unbewussten In der Psychoanalyse und in der Kognitionsforschung. Der Autor ist mittlerweile 70 Jahre alt, so dass es nicht verwundert, dass sich ein Kapitel dem Umgang mit dem Altern widmet. Bezüglich der seelischen Widerstandskraft – der Resilienz – betont er immer wieder, dass dies eine Fähigkeit ist, die erst im Umgang mit dem Trauma oder der Krise entsteht. Sie ist erlernbar. Dafür ist jedoch erforderlich, dass der Betroffene dem Unheil oder Unglück nicht ausweicht, sondern sich diesem stellt und es zu überwinden versucht.

„Rette dich, das Leben ruft!“ (2013)

Dieses Buch beginnt wie ein autobiographischer Roman im sechsten Lebensjahr des Autors, in dem sein Leben durch die Nazi-Vernichtungsmaschinerie bedroht war. Er war gefangen und zum Abtransport ins KZ vorgesehen. Die 1.700 Juden, die mit ihm dieses Schicksal teilten, sind fast alle im KZ umgebracht worden. Nur zwei überlebten. Er war einer von ihnen. Cyrulnik beschreibt ausführlich die Dramatik seiner Rettung. Die Kindheit, die Rettung und später der Umgang mit Erinnerungen nehmen den größten Raum ein. Sein Studium, sein Arztberuf, seine selbst gegründete Familie tauchen nur andeutungsweise auf. Das Holocaust-Trauma überragt und überdeckt alles. Man muss sich dabei vergegenwärtigen, dass Cyrulnik bereits 75 Jahre alt war, als der dieses Buch schrieb. Vorher hätte er es gar nicht schreiben können. Warum nicht? Es war eine eiskalte Mauer des Schweigens um ihn herum. Die Worte waren gefroren. Es war eine lange Eiszeit der Worte. Das fünfte und letzte Kapitel des Buches trägt die Überschrift „Gefrorene Worte“. Cyrulnik zitiert in diesem Zusammenhang eine lange Passage des französischen Schriftstellers Rabelais über gefrorene Worte, die wieder auftauen, wenn es wärmer wird. Die Schweige-Mauer hatte mit seinem persönlichen Umfeld in der Nachkriegszeit zu tun. Die Verbrechen und die Kollaboration vieler Franzosen mit Nazis waren tabu. Der Auschwitz-Prozess in Deutschland konnte erst 18 Jahre nach Kriegsende stattfinden. Es gab eine kollektive Verdrängung, die die Aufarbeitung der Nazi-Verbrechen erschwerte. Cyrulnik konnte über die traumatischen Erlebnisse nicht sprechen – und er hatte das richtige Gefühl, dass die meisten es auch nicht hören wollen. Ein Schlüsselerlebnis für ihn war der Prozess gegen den NS-Kollaborateur Maurice Papon im Jahr 1997. Papon hatte in der Nachkriegszeit hohe politische Ämter und kam mehr als 50 Jahre ungeschoren davor, obwohl ja viele wussten, an welchen Verbrechen er wesentlich beteiligt war. Er wurde schließlich zu zehn Jahren Haft verurteilt. Für Cyrulnik war dies eine innere Befreiung. Nun geriet auch die Schweige-Mauer ins Wanken und die gefrorenen Worte tauten auf. Dies war eine entscheidende Voraussetzung dafür, dass Cyrulnik im hohen Alter überhaupt noch dieses Buch schreiben konnte. Ihm ging es ähnlich wie dem Literaturnobelpreisträger Imre Kertesz. Dieser war als Kind in KZ und überlebte dies. Lange konnte er nicht über die traumatischen Erlebnisse im KZ schreiben. Und in seinem Heimatland Ungarn war das Holocaust-Thema weitgehend tabu. Erst als Kertesz nach dem Fall es Eisernen Vorhangs im Jahr 1989 in den Westen zog, konnte er vier Romane darüber schreiben. Diese berühmt gewordene „Tetralogie der Schicksallosigkeit“ begründete seinem schriftstellerischen Ruhm und wurde mit dem Literaturnobelpreis gewürdigt (Kertesz 1996, Csef 2018). Kertesz war da bereits älter als 70 Jahre. Boris Cyrulnik war 75 Jahre, als er sein Rettungs-Buch schrieb.

Beeindruckendes Gesamtwerk

Boris Cyrulnik ist nicht nur ein weltweit bekannter Resilienz- und Traumaforscher. Er ist auch einer der erfolgreichsten französischen Sachbuchautoren der Neuropsychiatrie. Seine Bestseller wurden in viele Sprachen übersetzt. Er hat mehr als 20 Sachbücher verfasst. Fast die Hälfte davon wurden ins Deutsche übersetzt. Mittlerweile wurden mehr als 2,5 Millionen Exemplare seiner Bücher verkauft. Sein neuestes Buch „Die mit den Wölften heulen“ stand in Frankreich wochenlang auf Platz 1 der Bestseller-Liste. Neben den hier beschriebenen Büchern über die Resilienz hat er auch Werke über ganz andere Themen der Psychiatrie, Psychologie und Psychoanalyse geschrieben, z.B. über die Scham, über Kinder-Suizide oder über Glauben und Spiritualität. Mittlerweile ist er 85 Jahre alt und äußert sich weiterhin rege zu aktuellen Themen wie die Bewältigung der Corona-Krise oder den Ukraine-Krieg.  Französische Politiker hören gerne auf seinen Rat. Staatspräsident Macron bezog sich wiederholt auf sein Resilienz-Konzept. Cyrulniks neuestes Buch widmet sich den Gefahren des autoritären Denkens, des Totalitarismus und des Populismus. Ein faschistischer Staat wie das Nazi-Regime hätte ihm fast schon in seiner Kindheit das Leben gekostet. Hitler wollte alle Juden vernichten. Boris Cyrulnik wurde gerettet und hat Hitler lange überlebt. In seinen Worten bedeutet dies: „Der Überlebende ist ein Held, der den Tod getötet hat.“

Literatur

Csef, Herbert, Traumabewältigung als kreativer Prozess. Imre Kertesz – ein Überlebenskünstler. E-Journal Philosophie der Psychologie. März 2018, S. 1-6

Cyrulnik, Boris, Die Kraft, die im Unglück liegt. Von unserer Fähigkeit, am Leid zu wachsen. Goldmann, München 2001

Cyrulnik, Boris, Warum die Liebe Wunden heilt. Beltz, Weinheim/Basel 2006

Cyrulnik, Boris, Mit Leib und Seele. Wie wir Krisen bewältigen. Hoffmann und Campe, Hamburg 2007

Cyrulnik, Boris, Rette dich, das Leben ruft. Ullstein, Berlin 2013

Cyrulnik, Boris, Die mit den Wölfen heulen. Warum Menschen der totalitären Versuchung so schwer widerstehen können. Droemer & Knaur, München 2023

Frankl, Viktor Emil, Trotzdem Ja zum Leben sagen. Deuticke, Wien 1946

Kertesz, Imre, Roman eines Schicksallosen. Rowohlt, Berlin 1996

Niederland, William G., Folgen der Verfolgung. Das Überlebenden-Syndrom, Seelenmord. Suhrkamp, Berlin 1980

 

Korrespondenzadresse:

Professor Dr. med. Herbert Csef, An den Röthen 100, 97080 Würzburg

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Über Herbert Csef 150 Artikel
Prof. Dr. Herbert Csef, geb. 1951, Facharzt für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, Psychoanalytiker. Studium der Psychologie und Humanmedizin an der Universität Würzburg, 1987 Habilitation. Seit 1988 Professor für Psychosomatik an der Universität Würzburg und Leiter des Schwerpunktes Psychosomatische Medizin und Psychotherapie an der Medizinischen Klinik und Poliklinik II des Universitätsklinikums. Seit 2009 zusätzlich Leiter der Interdisziplinären Psychosomatischen Tagesklinik des Universitätsklinikums. Seit 2013 Vorstandsmitglied der Dr.-Gerhardt-Nissen-Stiftung und Vorsitzender im Kuratorium für den Forschungspreis „Psychotherapie in der Medizin“. Viele Texte zur Literatur.