Türkische Tücher: ein Buch, eine Ausstellung

Schatz aus der Wohnzimmertruhe: ein einst in Anatolien erstandenes altes osmanisches Sticktuch mit floralem Doppel-Muster, Foto: Hans Gärtner

Das Buch:

Anahita Nasrin Mittertrainer: „In trockenen Tüchern. Gewebtes und Besticktes aus dem Osmanischen Reich“, 176 Seiten, zahlreiche Farb-Abbildungen, 38 Euro, Museum Fünf Kontinente, München; arnoldsche Art Publishers, Stuttgart 2022

Die Ausstellung:

„Liegt das Mädchen in der Wiege, fülle die Truhe mit Aussteuer!“ Die Münchnerin Ulla Ther lebte in den 1980er Jahren mit ihrem Mann in Istanbul. Von dort aus erforschte sie mit Eifer und Erfolg die türkische Textilkultur. Sie hat das Sprichwort – verstanden als Mahnung an jede Mutter, die ein Mädchen zur Welt brachte – oft gehört. Ulla Ther deutete die Redensart als Antrieb für die Mütter zum Weben kleiner, feiner Handtücher. Nicht nur viel, sondern schön sollte die Aussteuer sein, die sich Nachbarn, Freunde und Verwandte vor der Hochzeit im Haus der Braut oder des Bräutigams, jedenfalls auf dem Dorf, gerne ansehen kamen. Die schönen Tüchlein waren auch für Geschenke an die Hochzeitsgäste vorgesehen. Dafür hinterließen diese wiederum ein Geldgeschenk für das junge Paar.

Ulla Ther spielt, mit dem Berliner Werner Middendorf, eine der beiden Hauptrollen in der Ausstellung, die das Museum Fünf Kontinente in der Münchner Maximilianstraße bis weit in diesen Sommer hinein zeigt: „In trockenen Tüchern“ heißt sie. Die Sammlungen Ther und Middendorf sind mit ihren extravaganten Leihgaben die Quellen für all die Herrlichkeiten, die die Kuratorin Anahinta Nasrin Mittertrainer sowohl im Museum Fünf Kontinente als auch in dem nicht weniger großartig gestalteten und getexteten Begleitband ausbreitet, assistiert von der Istanbuler Museumsdirektorin Hülya Bilgi. Sie feiert in dem überaus schönen Buch kenntnisreich die „Stick-Kunst aus osmanischer Zeit“ in einem zweisprachigen informativen Essay

Um kunstvoll Gewebtes, vor allem aber Besticktes geht es ihr. Sie ist so klug,  nicht allein die Tücher zu präsentieren, sondern diese in die Wohn- und Lebens-Kultur rund um diese Relikte aus den beiden letzten Jahrhunderten der über 600 Jahre währenden Zeit des Osmanischen Reichs, das vor 100 Jahren endete, einzubinden. Textilien wie Kissenbezüge und Wandbehänge sind zu bewundern, Tischdecken und Servietten, vor allem Tücher aus Leinen und Baumwolle: Gürtel-, Spiegel-, Hand-, Kopf-, Bade- und Einschlagtücher. Sie haben alle zwei Schauseiten, können also gewendet werden. Sie wurden  golden, silbern, rot, dunkelgrün und blau bestickt. Die Muster sind floral, symbolhaft, phantasievoll empfunden und traditionell gewachsen: da gibt es  Blumenvasen, Granatapfelsträucher, Lebensbäume, Eisenkraut- und Nelken-Blüten, Blattranken – die meisten gestickten Bordüren der Tücher bilden nicht  die Natur ab, sondern sind, ähnlich den aus der katholischen Liturgie bekannten Paramenten, verspielt stilisiert.

Entstanden sind die in Handarbeit hergestellten, heute als Sammlerstücke in Basars gehandelten Antiquitäten in Palästen ebenso wie in Bauernstuben. Wer sie schuf, ist kaum überliefert. Übrigens kommen da nicht nur Frauen in Betracht, es gab auch, in den Städten Anatoliens, Berufsgilden von männlichen Strickern. Eine Zuordnung der Stickereien zu bestimmten Herkunfts-Regionen ist nur selten möglich.

In Veranstaltungen des Begleitprogramms zu dieser hoch rühmlichen sehens- und begehenswerten Ausstellung lässt sich manches, was in den Köpfen der vielen unbekannten Kreativen beim Sticken vorging, nachempfinden. Nur auf zwei sei hier beispielhaft verwiesen: Am Sonntagnachmittag des 14. April um 14 Uhr gibt es Schattentheater („Karagöz“) mit Volkan Türlü auf Deutsch mit Live-Musik aus Anatolien. Wichtiger: Es gibt immer wieder Stick-Workshops für Erwachsene und Kinder (Telefon 089 210136100), um sich in die alte Kunst des Stickens zu vertiefen. (Bis 10. Juni täglich außer Montag 9.30 Uhr bis 17.30 Uhr)

Über Hans Gärtner 499 Artikel
Prof. Dr. Hans Gärtner, Heimat I: Böhmen (Reichenberg, 1939), Heimat II: Brandenburg (nach Vertreibung, `45 – `48), Heimat III: Südostbayern (nach Flucht, seit `48), Abi in Freising, Studium I (Lehrer, 5 J. Schuldienst), Wiss. Ass. (PH München), Studium II (Päd., Psych., Theo., German., LMU, Dr. phil. `70), PH-Dozent, Univ.-Prof. (seit `80) für Grundschul-Päd., Lehrstuhl Kath. Univ. Eichstätt (bis `97). Publikationen: Schul- u. Fachbücher (Leseerziehung), Kulturgeschichtliche Monographien, Essays, Kindertexte, Feuilletons.