Auf dem Fluchtweg des Vaters – Christiane Hoffmanns Schlesien-Buch

Christiane Hoffmann Alles, was wir nicht erinnern Zu Fuß auf dem Fluchtweg meines Vaters, Quelle: C.H.Beck Verlag

Es ist ein erstaunlicher Vorgang: 75 Jahre nach Kriegsende 1945 läuft Christiane Hoffmann, eine nachgeborene Schlesierin des Jahrgangs 1967, auf dem Fluchtweg ihres 2018 verstorbenen Vaters von Rosenthal im schlesischen Landkreis Brieg bis Klinghardt im Egerland. Es sind 558 Kilometer, die sie zu bewältigen hat, als sie am Montag, dem 22. Januar 2020, dem ersten Fluchttag des Rosenthaler Trecks 1945, aufbricht.

Was treibt die fast 53jährige Journalistin an, sich diesem anstrengenden und aufwühlenden Fußmarsch zu unterziehen? Welche Beweggründe hat sie, dem „Fluchtweg meines Vaters“ (Untertitel) zu folgen und sich Wind, Nässe, Kälte auszusetzen? Es ist, dem Leser mag es mitunter so erscheinen, eine Art Bußgang, den sie auf sich nimmt, um Abbitte dafür zu leisten, was die Deutschen 1939/45 im besetzten Polen angerichtet haben. Man  kann diesen selbst auferlegten Gewaltmarsch auch die Erfüllung eines Gelübdes nennen, das sie ihrem verstorbenen Vater gibt: „Nun werde ich mich an Deiner Stelle erinnern. Ich weiß jetzt mehr als Du…“.

Sie geht nicht unvorbereitet auf diese beschwerliche Reise, sie kennt sich aus in der deutsch-polnischen Geschichte. Sie hat als hochbegabte Stipendiatin der „Studienstiftung des deutschen Volkes“ Slawistik studiert in Freiburg/Breisgau, in Leningrad und Hamburg. Sie war 1996/99 Korrespondentin in Moskau und spricht Russisch. Sie hat, nachdem sie schon als Kind 1978 Rosenthal besucht hat, Polnisch gelernt, und sie kennt die heutigen Bewohner Rosenthals, das jetzt ein polnisches Dorf ist.

Im Sommer 2019, fast ein Jahr nach dem Tod ihres Vaters, fährt sie noch einmal nach Rosenthal, dem Heimatdorf ihrer schlesischen Vorfahren. Es scheint, als hätte sie diese Reise zu Lebzeiten ihres Vaters nicht antreten können. Auf dem früheren Hof ihrer Großeltern trifft sie Jana, eine junge Mutter mit Kleinkind, deren Großvater Jan Piwinski nach dem Krieg aus der Umgebung Lembergs in der Ukraine nach Schlesien vertrieben worden ist. Am Abend verwickelt sie Jana in ein Gespräch über die Ankunft der Großeltern in Rocyna: „Das Dorf war frei, die meisten Häuser standen leer, und man konnte selbst entscheiden, welches Haus man nimmt. Man fragte niemanden und wurde auch nicht gefragt.“ Christiane Hoffmann bleibt mehrere Tage in Rosenthal, sie wandert in die Nachbardörfer Lossow, der ersten Raststation des Trecks 1945, und Frohnau, wo ihre Großmutter Olga auf dem Gutshof in Stellung war, bevor sie Herbert Hoffmann, den späteren Großvater, kennen lernte.

Die Autorin erwartet von ihren Lesern, die überwiegend Krieg und Nachkriegszeit nicht mehr erlebt haben, das in vier Zeitabschnitte gegliederte Buch sehr genau zu lesen, weil es ständige Szenenwechsel gibt. Da ist einmal der Fluchtverlauf in Schlesien und Böhmen, der eigentlich erst dann, mit dem Umweg über Nordhausen in Thüringen, in Wedel bei Hamburg sein Ende findet, als die schlesische Familie endlich über einen festen Wohnsitz verfügt. Unterbrochen wird die Nacherzählung der Flucht, wie Christiane sie von Teilnehmern des Trecks erfahren hat, durch die breit aufgefächerte Familiengeschichte vor und nach 1945, wo man viel über Schlesien und die Schlesier erfährt. Dazu treten die Reisen der Autorin ins polnische Schlesien und die Schicksale der heutigen Bewohner. Den Rahmen aber bildet die Wanderung der Autorin auf den Spuren ihres Vaters.

Christiane Hoffmann ist auf ihre Erkundungsreise gut vorbereitet, schließlich ist sie Journalistin, die recherchiert hat. Sie hat die noch lebenden Rosenthaler, zumal ihr Vater nicht sehr auskunftsfreudig war, eindringlich nach ihren Erinnerungen befragt, sie hat die Aufzeichnungen einer Rosenthalerin über das Fluchtgeschehen gelesen, und sie hofft, unterwegs noch alte Leute zu treffen, Polen oder Tschechen, die sich an den Treck mit den Rosenthalern erinnern. Denen wurde beim Weggang im Winter 1945 nicht gesagt, dass es ein Abschied für immer sein sollte. Es wäre nur für drei Tage, beruhigte sie der NSDAP-Bürgermeister, bis die Kamphandlungen eingestellt würden: „Das glaubten nicht alle, aber die Wenigsten ahnten, dass es ein Abschied für immer ist.“ Davon, dass die drei Siegermächte schon im Herbst 1943 in Teheran beschlossen hatten, Schlesien den Polen zu überlassen, wussten sie nichts!

Am Montag, 22. Januar 1945, einem eiskalten Wintertag, um 17.00 Uhr setzte sich der Treck, an dem nur die Hälfte der Dorfbewohner teilnahm, in Bewegung, bis dahin war der Aufbruch verboten. An diesem Abend schafften sie es nur bis ins Nachbardorf Lossen, aber Eile schien geboten, denn sie hörten ein ständiges Grollen aus Richtung Breslau herüberdringen, von wo die Front näher rückte. Auf dieses Grollen bezog sich auch der Titel des Romans „Wintergewitter“ (1951), den der schlesische Pfarrer Kurt Ihlenfeld (1901-1972) sechs Jahre nach Kriegsende veröffentlichte.

Das Buch Christiane Hoffmanns, in dem auch physische Anstrengung steckt, ist aus mehreren Gründen sehr lesenswert. Zunächst einmal deshalb, weil es anders geschrieben ist, als sie Schlesien-Bücher der unmittelbaren Nachkriegszeit, in denen, so überzeugend sie auch  waren, der Schmerz über die verlorene Heimat übermächtig war. Einmal schreibt sie, dass erst in der dritten Generation, der sie angehört, dieser Schmerz spürbar nachlässt. Bei ihr allerdings scheint das anders zu sein, noch im Jahr 2020 empfindet sie, wenn sie Schlesien besucht, eine Art „Phantomschmerz“, obwohl sie in Wedel aufgewachsen ist.

Der zweite Grund ist, dass sie das polnische Nachkriegsschicksal in ihre Überlegungen einbezieht. Sie weiß, dass auch die Bewohner der ostpolnischen Gebiete „zwangsumgesiedelt“ wurden. Es gibt genügend Zeugnisse vertriebener Polen, die mit Schlesien nicht anfangen konnten und sich nach Wilna und Lemberg zurücksehnten.

Auf Seite 69 ihres Buches bemerkt sie, dass sie auf ihrem langen Weg von Schlesien nach Böhmen nur durch einst deutsch besiedeltes Gebiet kam: „Warum ist es schwer, diese Sätze zu schreiben? Warum dieser Stich? Eine Spur von Scham und die Angst, missverstanden zu werden, die Angst vor dem Revisionismusverdacht?“  Hält sie sich jetzt den Mund zu, damit sie nicht noch „Schlimmeres“ sagt? Zum Beispiel, dass in den deutschen Ostgebieten, die Polen zugesprochen bekam, zehn Millionen Deutsche lebten und in den „polnischen Ostgebieten“, die nur von 1920 bis 1939 zu Polen gehörte, nur 100 000 Polen? Und dass die Warschauer Regierung nach 1945 Mühe hatte, die „wiedergewonnenen Westgebiete“ zu besiedeln und in immer neuen Aufrufen zur Einwanderung aufforderten? Selbst unter polnischen Intellektuellen kam Kritik auf über die Vereinnahmung der Westgebiete, die, wie Jan Jozef Lipski (1926-1991) in seinem Aufsatz „Zwei Vaterländer – zwei Patriotismen“ (1980) schrieb, zu keinem Zeitpunkt zu Polen gehört hätten. Warum verschweigt sie, dass die ostpolnischen Gebiete, in denen zahlreiche nichtpolnische Minderheiten lebten, erst 1920 Polen angegliedert wurden, nachdem Marschall Jozef Pilsudski (1867-1935) die „Rote Armee“ vor Warschau vernichtend geschlagen hatte?

Fragen über Fragen, die nicht beantwortet werden.

Christiane Hoffmann „Alles, was wir nicht erinnern. Zu Fuß auf dem Fluchtweg meines Vaters“, Beck-Verlag, München 2022, 280 Seiten, 22.00 Euro

Quelle: C.H. Beck Verlag

 

Über Jörg Bernhard Bilke 261 Artikel
Dr. Jörg Bernhard Bilke, geboren 1937, studierte u.a. Klassische Philologie, Gemanistik und Geschichte in Berlin und wurde über das Frühwerk von Anna Seghers promoviert. Er war Kulturredakteur der Tageszeitung "Die Welt" und später Chefredakteur der Kulturpolitischen Korrespondenz in der Stiftung ostdeutscher Kulturrat.