Drohender Völkermord in Nigeria: „Dagegen war Ruanda ein Kinderspiel!“

Interview mit Dr. Franklyne Ogbunwezeh zur dortigen Christenverfolgung

Bild von Adeboro Odunlami auf Pixabay

Dr. Franklyne Ogbunwezeh ist Senior research fellow und Direktor für Genozidprävention bei der in der Schweiz ansässigen und international tätigen Hilfsorganisation Christian Solidarity International (CSI). Für Tabula Rasa befragte ihn Sebastian Sigler zur menschenrechtlichen Lage in Nigeria. Insbesondere ging es um die dortige Christenverfolgung.

Tabula Rasa: Dr. Ogbunwezeh, Sie stammen aus Nigeria, haben Familie dort. Wie schätzen Sie die Lage in ihrer Heimat ein?

Dr. Franklyne Ogbunwezeh: Die Christen in ganz Nigeria stehen unter starker Verfolgung. Es gibt es keinen Tag, an dem Christen nicht angegriffen werden, physisch oder verbal.

TR: Ist es speziell eine Christenverfolgung, oder werden Angehörige anderer Religionen auch angegriffen?

FO: Auch die Menschen, die traditionellen afrikanischen Religionen anhängen, werden durch radikale Anhänger Mohammeds unter Druck gesetzt. Mit Bomben und Maschinengewehren aber gehen diese Islamisten gegen Christen vor. Die Gewalt geht damit von den Anhängern einer bestimmten Religion aus.

TR: Nigeria ist ein sehr großes Land. Ist die Verfolgung überall so stark?

FO: Der Schwerpunkt der Angriffe ist in der Mitte Nigerias zu beobachten, besonders die Bundesstaaten Plateau und Benue sind betroffen. Die Angreifer sind militante Fulani. Sie sind mit AK 47, also Kalaschnikow-Maschinengewehren, und mit Macheten bewaffnet. Sie greifen christliche Dörfer an, meistens nachts. Sie legen Feuer in den Dörfern, verbrennen alle Häuser und vor allem die Kirchen. Sie vergewaltigen Frauen, verschleppen die Einwohner. Allein in Benue haben wir derzeit 2,6 Millionen Binnenflüchtlinge.

TR: Sind die Gewalttaten regional eingrenzbar?

FO: Nein. Wir haben auch gesehen, wie die militanten Fulani Dörfer und Kirchen im Süden Nigerias angegriffen haben. Am 5. Juni 2022 wurden 40 christliche Gläubige während der Sonntagsmesse in Owo im Bundesstaat Ondo im Südwesten Nigerias getötet. Viele christliche Dorfbewohner wurden auch im Dorf Aguamede in Eha Amufu im Südosten Nigerias am 19. Dezember 2022 getötet. Man muss leider sagen, dass sie ihre Angriffe auf Christen auf das ganze Land ausdehnen.

TR: Ist die Gewalt wirklich so stark glaubensmäßig motiviert?

FO: Ja, eindeutig. Die ganz große Mehrheit der Menschen in den Flüchtlingslagern in Benue und den anderen Bundesstaaten ist christlich. Und sie werden von der Regierung vernachlässigt, ihnen wird jede Hilfe verweigert, in zahlreichen Medienberichten ist das dokumentiert. Und es ist eine gezielte Benachteiligung. Die Menschen in diesen Lagern kämpfen um ihr Überleben, ohne jede Unterstützung.

TR: Welche Rolle spielt bei alledem die Terrororganisation Boko Haram?

FO: Sie ist ein sehr wesentlicher Faktor. Und sie wird nicht gestoppt. Goodluck Jonathan, der vorherige Regierungschef,  hat den Kampf gegen Boko Haram sehr ernst genommen. Auch die derzeitige Regierung behauptet, Boko Haram und andere Terrororganisationen wie ISWAP zu bekämpfen, aber viele Nigerianer befürchten, dass es in der nigerianischen Regierung Elemente gibt, die mit den Terroristen unter einer Decke stecken.

TR: Sind die Boko-Haram-Kämpfer bereits die faktischen Herrscher im Norden Nigerias?

FO: Zumindest haben sie diesen Anspruch. In der der Denkweise dieser Terroristen verkörpern sie den Norden. Jede Bekämpfung ihrer illegalen Herrschaft werten sie als Angriff gegen das Land. Viele Menschen glauben ihnen das, und sie sind deswegen bereit, Gewalt auszuüben.

TR: Müssen die Nigerianer einen Anstieg der Gewalt befürchten?

FO: Die Indizien sind nicht gut. Wenn es so weitergeht, werden sich die Christen verteidigen. Es könnte einen Religionskrieg geben, und das, was in 1996 Ruanda passiert ist, wird ein Kinderspiel gegen das sein, was dann in Nigeria geschehen kann. Ein Völkermord, dem Millionen und Millionen Menschen zum Opfer fallen, kann dann die Folge sein.

TR: Hat sich diese schlimme Lage angedeutet?

FO: Diese Lage war zu befürchten. Ahmadu Bello, er war bis 1966 Premierminister im Norden Nigerias, hat bereits in den 1960er Jahren erklärt, daß er den Koran in den Atlantischen Ozean im Süden des Landes tauchen möchte. Das war eine Metapher. Er hat schon damals das Ziel ausgegeben, alle nigerianischen Christen in Richtung Süden zu vertreiben und im Zweifelsfall zu töten. Nigeria soll nach Bellos Lesart mit Gewalt islamisiert werden. Genau das wird jetzt umgesetzt.

TR: Dazu gehört auch die Massenentführung von 276 Schülerinnen aus Chibok am 14. April 2014? Die hat hierzulande ja wie ein schriller Weckruf gewirkt…

FO: Exakt. In Nigeria war dies ein fatales Signal, denn die Schule, aus der sie entführt wurden, war eine christliche schule. Das war ein Komplott, um die Regierung von Goodluck Jonathan, die damals noch im Amt war, gezielt zu schwächen. Es war ein Signal, um zu zeigen, wie schwach diese christlich geführte Regierung ist.

TR: Was höchst wirkungsvoll gelungen ist…

FO: Leider ja.

TR: Wie kommt es überhaupt zu der stetigen Zunahme der Gewalt in Nigeria?

FO: 70 Prozent der Nigerianer sind junge Menschen. Besonders viele der jungen Nigerianer sind verarmt und haben keine Zukunftsperspektive. Das ist eine tickende Zeitbombe, das wäre es für jedes Land. Das ist ein Pool, aus dem jeder Demagoge mit Geld schöpfen und diese Menschen für seine Zwecke nutzen kann – seien sie ideologisch, religiös oder politisch.

TR: Und der Islam ist hier besonders attraktiv?

FO: Die Scharia wurde den jungen Leuten im Norden als Lösung angeboten. Aber das ist eine Scheinlösung. Denn die Gesetze der modernen, industrialisierten Welt und die Regeln der Scharia passen nicht zusammen.

TR: Also doch auch ein wirtschaftlicher Zusammenhang?

FO: Der spielt dort mit hinein. Wenn die Armut wirksam bekämpft werden könnte, würde die Scharia schwächer werden. Und der Beitritt zu Terrororganisationen wird dann keine lukrative Option mehr sein.

TR: Auch hier eine Parallele zum Südsudan?

FO: Auch dort gibt es enorme Schwierigkeiten und sehr viel bittere Armut und vor allem viel Sklaverei. Wie im Norden Nigerias gibt es im Südsudan sehr viel Wüste. Auch dort fehlt der Zugang zum Meer. Aber anders als in Südsudan können die Christen eben über ihre Kultur, über die Religion nicht mehr frei entscheiden, sie werden von der moslemischen Mehrheit drangsaliert.

TR: Könnte eine Aufspaltung des Landes, wie sie 2011 im Sudan stattfand, eine Lösung sein?

FO: Es gibt in der Tat viele Gruppierungen, die das befürworten, eine große Zahl von Nigerianern möchte diesen Weg gehen. IPOB – Indigenous People of Biafra – ist eine der Organisationen, die dafür ein eintritt, sie wird von Nnamdi Kanu angeführt. Die IPOB strebt die Abspaltung von Nigeria und eine Wiederauferstehung des Staates Biafra an.

TR: Steht die IPOB damit allein?

FO: Durchaus nicht. Die Yoruba-Nation, angeführt von Sunday Igboho, ist eine weitere Gruppe, die sich von Nigeria abspalten will. Beide Gruppen befinden sich derzeit im Konflikt mit der nigerianischen Regierung. Ihr gemeinsames ziel ist es, dass die Menschen über ihr Schicksal selbst entscheiden können, jedenfalls vom Grundsatz her.

TR: Gibt es da genaue Zahlen? Um wie viele Menschen handelt es sich?

FO: Nein, genaue Zahlen gibt es nicht. Eine solche Staatengründung hat viele Anhänger, die meisten davon sind Jugendliche. Die nigerianische Zentralregierung kämpft militärisch dagegen. Ob solch eine Wiedererrichtung eines Staates Biafra eine Lösung ist, weiß niemand.

TR: Vor einigen Jahren wurde verkündet, die Mehrheit der Menschen in Nigeria sei nun moslemisch. Ist Nigeria seitdem kein christliches Land mehr?

FO: Das ist reine Propaganda. Wir haben zehn Prozent traditionelle Religion und ungefähr gleich viel Christen und Moslems, daran hat sich nichts geändert. Aber die Regierung ist in den Händen von Moslems. Seitdem wird verkündet, die Bevölkerungsmehrheit sei moslemisch. Seitdem ändern sich die veröffentlichten Zahlen, und es sind Zahlen, die der Regierung passen. Das hat nichts mit der Realität zu tun.

TR: Wie kam es zu dem Machtwechsel?

FO: Eine Kabale aus militärischen und zivilen Machthabern und Eliten bestimmt, wer Nigeria regieren darf. Das ist seit 1967 der Fall. Und der jetzige Machthaber passt diesem oligarchisch geprägten Komplott besser ins Konzept.

TR: Bedeutet die Machtübernahme eines moslemischen Regierungschefs zugleich den Beginn einer einseitigen Bevorzugung von moslemischen Mandatsträgern?

FO: Die Geschichte Nigerias hat uns reichlich Beweise geliefert, um diese Frage mit „Ja“ beantworten zu können. Es gibt eine gezielte Bevorzugung muslimischer Gruppen in der gesamten Gesellschaft. Christliche Gemeinden bekommen keine Baugenehmigung für ihre Kirchen. Christliche Geschäfte werden benachteiligt, und Regeln, die eigentlich nur für den religiösen Bereich gelten sollten, werden allgemein ausgeweitet. Im norden von Nigeria dürfen Hotels beispielsweise keinen Alkohol verkaufen. Es gibt Fälle in öffentlichen Behörden im Norden Nigerias, in denen Christen aus Glaubensgründen die Beförderung verweigert wurde.

TR: Wie reagieren Menschen christlichen Glaubens? Gibt es eine Fluchtwelle?

FO: Es gibt eine stille Migration von Christen von Norden nach Süden, und die ist sehr groß. Aber man sieht keine Flüchtlingslager. Ihre Familien nehmen sie auf. Auch in meiner Familie ist das so. Eine Cousine von mir ist aus dem Norden in das Haus meiner Eltern gekommen und lebt jetzt dort. Ich sende seitdem mehr Geld nach Nigeria, damit die Familie keine Not leidet.

TR: Wie sind ihre persönlichen Erfahrungen mit Verfolgung?

FO: Fast jeder Nigerianer ist durch Verfolgung betroffen. Meine Schwester lebte in Kano, einer Stadt im Norden. 2013 ist meine Schwester durch einen Selbstmordattentäter am Busbahnhof in der Stadt, wo sie ihren Laden hatte, us Leben gekommen. Sie hat zwei Kinder und ihren Mann hinterlassen. Für unsere Familie war das eine Katastrophe. Meine Eltern hat das psychisch zerstört.

TR: Wie bewerten Sie die Zukunft von Christen in Nigeria?

FO: Es wird schwere Kämpfe geben. Das Ziel der Islamisten im Norden ist es, die christlichen Einheimischen in ganz Nigeria auszulöschen, vor allem geschieht das derzeit im mittleren Teil des Landes. Deswegen brauchen die Christen in Nigeria internationale Unterstützung, diese Nachricht muss in die ganze Welt getragen werden.

TR: Eine wichtige Nachricht….

FO: Oh ja, denn Nigeria ist ein strategisch enorm wichtiges Land. 220 Millionen Menschen leben dort. Wenn Nigeria in einem Religionskrieg versinkt, werden diese Menschen sich in Bewegung setzen, und alle Polizisten Europas und das Militär dazu werden sie nicht aufhalten. Es ist also sehr im europäischen Interesse, Nigeria zu stabilisieren.

TR: Wie kann das geschehen?

FO: Zuerst muss für ein Ende der Christenverfolgung gesorgt werden. Es handelt sich um die Verletzung von Menschenrechten, und das muss klar benannt werden.

TR: Was müsste die EU, was müsste Deutschland am dringendsten tun?

FO: Es muss Druck auf nigerianische Regierung ausgeübt werden, um die Christen zu schützen. Dazu müssen erstens konkrete Maßnahmen ergriffen werden, Sanktionen sind dringend nötig. Zweitens müssen Christen, die wegen Blasphemie im Gefängnis sitzen, schnell freigelassen werden. Hier nenne ich den Fall von Rhoda Jatau, sie muß sofort das Gefängnis verlassen dürfen. Drittens: Die Regierung muß die Islamisten, die Dörfer angreifen, verhaften und vor Gericht stellen. Die EU und Deutschland müssen ihre politische, wirtschaftliche und diplomatische Macht nützen. Nigeria hat alle wichtigen Menschenrechtskonventionen der UN unterschrieben. Es muß Druck aufgebaut werden, damit sie sich daran halten.

TR: Können die USA helfen?

FO: Wenn die USA jemanden wirklich verhaften wollen, können sie das, und zwar weltweit. Diese Mittel müssen gegen die moslemischen Terroristen und ihre Unterstützer angewandt werden. Wir von der CSI fordern, daß die USA, die EU und Deutschland hier konkret für die Belange der Menschenrechte tätig werden und Sanktionen gegen die Befürworter religiöser Verfolgung und die Regierungsbeamten beschließen, die der Gewalt tatenlos zusehen.

TR: Wie kann so etwas aussehen?

FO: Was wäre, wenn den politischen Eliten Nigerias die medizinische Behandlung verweigert wird? Der nigerianische Präsident läßt regelmäßig in London medizinisch behandeln. Was wäre wenn diesen Eliten in Europa Verhaftung droht? Wenn Europa kein Öl mehr in Nigeria kauft? Wenn keine Ersatzteile für Flugzeuge werden? Wenn die im Ausland gebunkerten Millionen eingefroren worden? Das könnte eine Menge bewirken!

TR: Haben Sie Hoffnung, daß das geschieht?

FO: Große Hoffnung haben wir bei der CSI nicht, denn die wirtschaftlichen Interessen des Westens in Nigeria sind zu groß. Die Europäer sehen einen Kampf gegen China in Afrika, sie sehen die neuen Machthaber in Nigeria als Brückenkopf gegen chinesische Interessen, Deswegen erlauben sie den moslemischen Machthabern in Nigeria alles, und es ist zum Nachteil der Christen. Aber wir werden nichts unversucht lassen, um die Lage zu verbessern.

TR: Was ist Ihre Botschaft?

FO: Ich appelliere an die ganze Welt, nicht wegzuschauen. Nigeria ist wichtig – jeder sechste Afrikaner ist ein Nigerianer. Es ist ein Land, das reich gesegnet ist mit Ressourcen und Menschen, die den ganzen Kontinent nutzen können. Wenn Nigeria funktioniert, funktioniert Afrika. Es gibt dort zum Beispiel eine eigene Filmproduktion, die sogar schon einen Namen bekam: „Nollywood“. Hier wird ein neues Bild von Afrika für sehr viele Menschen gezeichnet. Sie alle schauen nach Nigeria, um zu sehen, wie es mit dem Kontinent weitergehen kann. Jetzt wird es wirklich Zeit, Nigeria zu unterstützen.

KU: Mit mehr Geld?

FO: Nein. Die Entwicklungshilfe hat auf der ganzen Linie versagt. Daher brauchen wir Sanktionen gegen korrupte Politiker und ihre Kollaborateure, die ein Interesse daran haben, dass Nigeria arm bleibt und weiter von religiöser Intoleranz geplagt wird. Wir müssen Druck ausüben, damit die nigerianischen Eliten das tun, was sie sollen – den Menschen nützen. Nigeria muss jetzt stabilisiert werden. Und weil dieses Land so groß und bedeutend ist, liegt hier wahrscheinlich unsere beste Chance, dem gesamten Kontinent Afrika eine gute Zukunft zu ermöglichen.

Dr. Franklyne Ogbunwezeh

Über Sebastian Sigler 104 Artikel
Der Journalist Dr. Sebastian Sigler studierte Geschichte, Literaturwissenschaft und Kunstgeschichte in Bielefeld, München und Köln. Seit seiner Zeit als Student arbeitet er journalistisch; einige wichtige Stationen sind das ZDF, „Report aus München“ (ARD) sowie Sat.1, ARD aktuell und „Die Welt“. Für „Cicero“, „Focus“ und „Focus Money“ war er als Autor tätig. Er hat mehrere Bücher zu historischen Themen vorgelegt, zuletzt eine Reihe von Studien zum Widerstand im Dritten Reich.