Ein literarischer Geniestreich ?! Hana Lehečková. Das heilige Haupt

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Hana Lehečková. Das heilige Haupt. Aus dem Tschechischen von Hana Hadas. roman. Erlangen (homunculus verlag) 2022, 198 S., 23,50 €, ISBN 978-3-946120-82-7.

„Mit sprachlicher Bravour sperrt Hana Lehečková ihre Leserinnen und Leser in den Kopf eines geistig beeinträchtigten jungen Mannes ein.“ Der Auszug aus dem  Werbetext auf der Rückseite des Hardcover Bandes mit dem seltsam anmutenden Titel erregt insofern besondere Aufmerksamkeit als ein zweiter Blick auf den mit unterschiedlichen Graphemen und Textformen gestalteten Text die neugierig gewordenen Leser*innen ins Grübeln geraten lässt. Könnte dieser mit einem kleinen Anfangsbuchstaben versehene roman gar nicht „ALLEN ZERBRECHLICHEN SEELEN GEWIDMET“ sein, die Triggerwarnung vor einer angeblich rassistischen und sogar diskriminierenden Sprache eine ebenso verfremdende Ansage sein wie die provokante Aussage, dass die „Aussage der Figuren … nicht die Ansichten der Autorin“ wiedergeben?

Bereits der Einstieg in die Texthandlung, die dem verwunderten Leser in konsequenter Kleinschreibung, fehlenden Satzzeichen, merkwürdigen Wiederholungen von Aussagen über alltägliche Verrichtungen des Protagonisten Zdenek dargeboten werden, ruft gewisse Zweifel an der Gültigkeit dieser Aussage hervor. Gewiss, die Autorin Hana Lehečková entledigt sich ihrer Verantwortung für das literarische Produkt, indem sie ihrem „halbwüchsigen“ Protagonisten jegliche kritische Bewertung des religiös-konservativem Milieus in dem tschechisch-österreichischen Grenzdorf abspricht. Zugleich aber übereignet sie ihrem Text eine autonome Funktion, die sowohl durch die in die Texthandlung eingefügten grafischen städtischen und ländlichen Landschaftskonturen(Ondřej Dolejší) als auch durch unterschiedliche Textgestaltungsformen umgesetzt werden soll. In diesen graphisch variantenreichen Textpassagen äußert sich der Protagonist Zdenek mal folgerichtig (im Hinblick auf tägliche Abläufe seines monoton ablaufenden Alltags), mal in katatonisch sich wiederholenden Wort- und Satzfolgen (was auf seinen angeblich minderwertigen Geisteszustand hinweisen soll), mal auch wirr und zugleich selbstreflektierend im Hinblick auf die durch ihn erfahrende körperliche Gewalt. Eine solche irritierende Folge von Situationen, denen Zdenek hilflos oder erstaunlich reflektiert ausgesetzt ist, erfordert beim Lesen dieser Passagen wie auch bei dem Versuch, eine vorläufige Einschätzung und individuelle Wertschätzung vorzunehmen, höchste Konzentration.

Wesentliche Orientierungsmuster in dem diffusen Wahrnehmungsprozess des Protagonisten Zdeněk zeichnen sich in dessen Beschreibung seiner tief religiösen Großmutter ab. Sie hat ihm den wöchentlichen Gang zur Dorfkirche gleichsam rituell anerzogen und versorgt ihn auch mit Heiligenbildern zur Deutung von alltäglichen Handlungen. Zu ihr entwickelt Zdeněk ein Vertrauensverhältnis, das sich auch nach dem  Tod seiner Großmutter fortsetzt. Angesichts der sperrigen Textfragmente ist es allerdings für Leser*innen, die an narrativ „durchlässigen“ Texthandlungen geschult sind, ungewöhnlich schwierig, sich einer Fülle von unterschiedlichen Textformen hinzugeben und diese zugleich auch semantisch und noetisch einzuordnen.

Deshalb verfolgt der Rezensent bei der Deutung des vorliegenden „romans“ eine zweite Spur, die die Arbeitstitel ‚konkrete Poesie‘, ‚traumatische Erlebnisprosa‘ und ‚Alltagschronologie‘ trägt. Er lenkt dabei seine Aufmerksamkeit auf das Kapitel ‚Kulturtreff‘ (vgl. 103-126), in dem Verfahren der konkreten Poesie, traumatisch besetzte Erinnerungsfetzen, Todesanzeigen, gemischt mit Sachtexten, eine unbewusst ausgelöste Sex-Szene, Prügeleien, Einbruch in einen Laden mit dem Überfall auf eine Vietnamesin so dargestellt werden, als ob simultan ablaufende Szenen sich nur durch unterschiedliche Textarten trennen lassen. Dem diesem Tohuwabohu völlig unterschiedlicher Alltagserlebnisse davonrennenden Zdenek gelingt es nur noch nur Worte wie „warum sehe ich die welt / und nicht jemand anderes/ warum schmerzt mein kopf / vor gedanken ….“ (S. 126) auszustoßen, während ein Luzifer ihn anlächelt.

Ist Hana Lehečková, Jg. 1990, Absolventin der Prager Kunsthochschule DAMU, mit ihrem „roman ein literarischer Geniestreich gelungen, wie die tschechische Literaturkritik und eine Auswahlkommission es mit ihrem Urteil ‚ bestes Werk von Autor*innen unter 30, im Jahr 2019 ausgezeichnet  mit dem Jiři Orten Preis, verkündet? Der auf den sogenannten „ersten Blick“ Verwunderung und Langeweile auslösende Text gewinnt – nicht beim Lesen – seine magische Anziehungskraft. Erst aufgrund der unterschiedlichen Textarten und seiner beharrlichen, fast manischen Wiederholung von Aussagen eines „Dorfdeppen“ über Alltagsvorgänge erhält er seine magische Anziehungskraft – beim lauten Rezitieren. Ob nun das auf dem Buch-Cover schwarz umrandete „Das heilige Haupt“ im deutschsprachigen Feuilleton ein „gnädiges“ Urteil finden wird, bleibt abzuwarten. Auf jeden Fall eine mutige Publikation, für die der Homunculus-Verlag zu loben ist!

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