„Herkunftsnähe, Herkunftsferne“ oder: „Ein Zoom in der Zeit“ durch die Schule der Erinnerung

„Mein Vater lebt, ein Lebender, in mir
So lang ich atme lebt auch sein Gedächtnis.“

Dies schrieb Franz Grillparzer in seinem 1848 vollendeten Märchendrama „Libussa“. Der kurze Satz könnte auch als Leitmotiv über dem schmalen Bändchen von Botho Strauss stehen. Auch wenn die Vater-Sohn-Beziehung nicht wirklich als liebevoll bezeichnet werden kann, sondern eher als spannungsreich einzustufen ist, so hat der 1971 Verstorbene dennoch den selbst nicht mehr jungen Sohn stark geprägt. „Die Strenge des Vaters, sogar einzelne seiner Ansichten steigen wie eigner Erfahrungsbestand ins Bewusstsein. Man altert, trotz der sozialen Bedeutungslosigkeit von Tradition, immer noch geradewegs in das hinein, was man einst als rettungslos veraltet empfand.“
Das Buch entpuppt sich als emotional-intellektuelle Hommage an seinen verstorbenen Vater und zugleich als Rückblick auf und Erinnerung an seine Herkunft. Hervorgerufen durch die Auflösung der Kindheitswohnung in Bad Ems, Römerstraße 18, dritter Stock, die seine Mutter bis zum 09.04.90 bewohnte, dem Tag an dem sein Vater 100 geworden wäre, zieht plötzlich mit spürbarer Intensität und Emotionalität „aus jedem Winkel, jedem Gegenstand Herkunft hervor.“ Die Räume atmen immer noch Warmherzigkeit, aber auch Züchtigung. Sie waren für den jungen Botho Ausgangspunkt von frohen und düsteren Gängen. Doch damals war er im Vorwärtsblicken unterwegs. Heute schaut er zurück und wird sogar der Pfad für seinen Vater. „Durch mich kommt er herüber, geht er zurück.“
In seinen Erinnerungen wächst Strauss langsam in den umfassenden Sinn für Vermissen hinein. Damals schämte er sich des „Unduldsamen, der so provozierend anders schritt als die übrigen, lässigen Bürger. Er hatte sein ganzes Wesen abweisend und stolz gemacht um seine Entstellung herum.“ Einer, der ein schwindendes bürgerliches Habitat pflegt, streng geregelte Tagesabläufe zelebriert, stets korrekt gekleidet, auch zu Hause am Schreibtisch. Um 1940 war er Miteigentümer einer kleinen Fabrik in Naumburg, in der frühen DDR wurde er dann unter Zuckerschmuggel-Verdacht verhaftet – ein Vorwand für die Enteignung. Danach verdingt er sich mehr schlecht als recht als freiberuflicher Pharmazeut.
Botho Strauss' Blicke in seine Frühe, in sein „Einst-Weltlein“ erinnern an Schauspieler und Schauspiele, an alte Theateraufführungen und an ehemalige Lehrer, die ihn vom „Bravo“-Leser zum „Tristan“-Schwärmer veredelten, die noch den Hut zogen, wenn man sie im Städtlein traf und die Mutter mit „gnädige Frau“ anredeten. Badeausflüge an die Lahn sind genauso unter seinen „Beschwörungen“ wie das Abendbrot im elterlichen Gartenhaus am Berg, das hart erkämpfte erste „Texashemd“ oder aber der liebenswürdig verschrobene Onkel, der glaubte die mathematische Lösung der Quadratur des Kreises gefunden zu haben. Aber er spricht auch vom Älterwerden, vom Vergehen und das man dieses nicht einfach dem Zufall überlassen, sondern sich genauso wie beim Werden ins Zeug legen soll.
Auf knapp 100 Seiten öffnet sich ein ganzes Depot von Sinnesreizen, das nach und nach angelegt wurde und nun in einem beinahe eruptiven Akt der Erinnerung, ausgelöst durch den Auszug seiner Mutter, hervorbricht. Sein Vater ist ihm dabei seine Sphäre. „Das Gedächtnis ist eine Variable der Sehnsucht, so dass Fernweh und Heimweh, Erwartung und Erinnerung in ein und demselben 'Enzym' des Unerreichlichen symmetrisch angeordnet sind.“ Zwischen den Zeilen weht dabei eine leichte Melancholie. „Was ist vorbei? (…) Wer schwindet mehr – dies Bild oder der es in sich trägt?“ Warum verlässt man seinen angestammten Platz und bleibt nicht dort, wo Eltern und Großeltern gelebt haben? Und warum kommt man wenn man schon da draußen etwas lernen will, nicht wieder zurück?, sind Fragen die der Autor in den Raum wirft.
Fazit: „Herkunft“ gestaltet sich als intellektuelles Lesevergnügen per excellence, vor allem für den Wortliebhaber. Botho Strauss zieht aus der Zeit eine auf den ersten Blick vielleicht blass und dünn wirkende Essenz, aber gerade das Unscheinbare hat manchmal den größten Nährwert. Ein beinahe eruptiver Akt der Erinnerung an die Heimat, den historischen Badeort Bad Ems und seine Eltern und Familie. In seinem Leinen-Einband auch optisch ein Text auf allerhöchstem Niveau: Ein gewichtiges Gedankenbuch! Eine sprachmächtige Essenz! Ein Lesegenuss!
„Es gehört ja nicht zu solchen Bildern, die man aus dem Kino kennt, auch nicht zu Kunstwerken, die an den Wänden hängen. Vielmehr handelt es sich um ein Implikat, eines jener zeugenden Bilder, die Stammzellen sind eines bestimmten Sehens, Empfindens, Begreifens. Bilder, die in unserem Leben ein eigenes Wachstum haben, indem sie sich selber niemals ganz der Wahrnehmung öffnen.“

Botho Strauss
Herkunft
Hanser Verlag (September 2014)
96 Seiten, Gebunden
ISBN-10: 3446246762
ISBN-13: 978-3446246768
Preis: 14,90 EUR

Über Heike Geilen 597 Artikel
Heike Geilen, geboren 1963, studierte Bauingenieurswesen an der Technischen Universität Cottbus. Sie arbeitet als freie Autorin und Rezensentin für verschiedene Literaturportale. Von ihr ist eine Vielzahl von Rezensionen zu unterschiedlichsten Themen im Internet zu finden.

Hinterlasse jetzt einen Kommentar

Kommentar hinterlassen

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.