„Flecken auf der Seele“ oder: „Wer warst du, kleiner Mann?“

Was er in seinem vorangegangen „Winterjournal“ begann, das setzt Paul Auster in seinem „Bericht aus dem Inneren“ fort. Beide Bücher stehen für einen Rückblick auf ein intensives, ein gelebtes Leben. Aus einzelnen Fetzen und Bruchstücken webt der amerikanische Schriftsteller erneut einen Teppich aus Erinnerungen. Dieses Mal geht der Blick noch weiter zurück, in seine Kindheit. Auch wenn Auster gealtert ist und die Zeichen der Zeit sich in sein Gesicht gegraben haben, so trägt er doch immer noch den Jungen von einst in sich. Und darüber schreibt er.

In drei große Abschnitte, einschließlich eines opulenten Bildanhangs, der das Gelesene zusätzlich visuell bereichert, hat er seinen Text untergliedert. Zunächst lernt der Leser den jungen Buben von fünf bis zu einem Alter von 12 Jahren kennen. Für ihn eine magische und ganz bewusst gesetzte Grenze. Denn danach, so Auster, glimmt bereits das erwachsene Denken durch und zerstört das kindliche Selbstbild, „dessen Leben ein immerwährendes Eintauchen ins Neue war“. Der Autor gestaltet seine Aufzeichnungen jedoch nicht konsequent chronologisch, sondern sie zeichnen sich eher durch ein hin und wieder „kurzes Aufblitzen von Bildern, willkürlich und unerwartet – hervorgerufen von einem Geruch, von einer Berührung, von einem Lichtstrahl, wie er im Hier und Jetzt des Erwachsenenlebens auf einen Gegenstand fällt“ aus. Nichtsdestotrotz tastet sich Auster von ganz frühen Lebensbildern immer näher an seine gesetzte Demarkationslinie heran. Stets unter dem Gesichtspunkt: „Wie bist du zu dem geworden, der denken konnte, und wohin hat dein Denken dich geführt, als du denken konntest?“

Paul Auster gräbt tief und befördert so manche alte Geschichte wieder ans Tageslicht. Getreu dem Motto: „Scharre nach allem, was du finden kannst, dann halte die Scherben ans Licht und sieh sie dir an. Tu das. Versuch es.“ Dieses Suchen, Erstaunen, Verstehen und Analysieren macht zugleich den Duktus seiner Zeilen aus: der Werdegang eines erwachenden Bewusstseins. Zutage fördert er (s)eine kleine innerhalb einer großen, aber damals für ihn noch die ganze Welt, „da die große Welt noch nicht sichtbar war.“ Er erinnert sich an Lieblingsfernsehsendungen, Kinobesuche und Zeichentrickhelden des damals Fünf- bis Sechsjährigen, an geheime Buchstaben im Alphabet, an Idole und Helden, an glorreiche Baseballspiele, aber zum Beispiel auch an die Schmach des Bettnässens. Natürlich kommen seine Eltern, deren missglückte Ehe und seine jüdischen Wurzeln zur Sprache. Und: Auster entdeckt seinen vermeintlich ersten Versuch einen Blick „ins verborgene Räderwerk der literarischen Schöpfung“ zu werfen.

Der zweite Teil des Buches besteht aus einer fast minutiösen Wiedergabe zweier Kinofilme, die einen tiefen und bleibenden Eindruck bei dem nun schon pubertären Paul hinterlassen haben: „Die unglaubliche Geschichte des Mister C.“ und „Jagd auf James A“ – zwei „kinematographische Erdbeben“ für den jungen Auster.
Teil Drei wiederum setzt sich aus Briefen des mittlerweile 19 bis 22-jährigen jungen Mannes an seine zukünftige Frau Lydia Davis zusammen. Briefe, die für den Autor so etwas wie ein Tagebuch darstellen, das er bedauert, nie geschrieben zu haben. Ein „scharfes, klar umrissenes Bild einer Lebensphase, von der dir fast nur noch verschwommene Erinnerungen geblieben waren“. Der Autor nennt sie „Zeitkapsel“.

Paul Austers „Bericht aus dem Inneren“ offenbart sich letztendlich als „Spiel magischer Gedankenübertragungen“ voller Verschränkungen. Ein Buch, das nach den eigenen Wurzeln greift und im ersten Teil seinen unbestrittenen Höhepunkt hat, leider jedoch in den beiden letzten Abschnitten ein wenig von der erzählerischen Faszination einbüßt. Die ungewöhnliche zweite Person, die Auster dabei wählt, schafft auf der einen Seite Distanz, auf der anderen überlässt gerade sie es dem Leser, in die ein oder andere Rolle zu schlüpfen und einen differenzierten Blick auf den Autor zu werfen. Ein Panorama aus Zeit, „die fortschreitet und doch stillsteht, alles anders und doch alles gleich…“

Fazit: Paul Austers ganz intimer Blick auf seine frühen Jahre gestaltet sich als sensible, zuweilen philosophische Komposition, die durch die deutsche Übertragung von Werner Schmitz ein tiefes Leseerlebnis ist und bleibt, auch wenn das Buch nicht ganz an seine brillante „Phänomenologie des Atmens“ – das wunderbare „Winterjournal“- heranreicht.

Paul Auster
Bericht aus dem Inneren
Aus dem Englischen von Werner Schmitz
Titel der Originalausgabe: Report from the Interior
Rowohlt Verlag (September 2014)
360 Seiten, Gebunden
ISBN-10: 349800087X
ISBN-13: 978-3498000875
Preis: 19,95 EUR

Über Heike Geilen 597 Artikel
Heike Geilen, geboren 1963, studierte Bauingenieurswesen an der Technischen Universität Cottbus. Sie arbeitet als freie Autorin und Rezensentin für verschiedene Literaturportale. Von ihr ist eine Vielzahl von Rezensionen zu unterschiedlichsten Themen im Internet zu finden.

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