Kennen Sie Edzard Schaper? Falls Ihnen dieser Name nichts sagt, sollten Sie dringend das neue Buch von Günter Scholdt zur Hand nehmen, gerade jetzt, gerade in diesem Jahr. Denn Schaper veröffentlichte 1940, mitten im Siegestaumel des noch jungen, aber darum nicht minder schrecklichen Zweiten Weltkrieges, ein 750 Seiten starkes Buch über die Schuld von Soldaten und ihre Verstrickung in Verbrechen und nannte es auch noch „Der Henker“. Zwar spielt die Handlung im Baltikum, zwar ist die Hauptperson in russischen Diensten – aber die Nachricht kam an. Die Nationalsozialisten, allen voran Alfred Rosenberg, waren entrüstet. Scholdt, der Germanist und Historiker, bringt Schaper zu Ehren – in jenem Jahr, in dem es, welch Unglück, wieder einen Krieg gibt in Europa.
Ernst Wiechert? Wie ist es mit dem? Kennen Sie seine Werke? Schon wieder ein Versäumnis! Wiechert kam 1938 in Gestapo-Haft und wurde danach in das KZ Buchenwald verschleppt. Dies hinderte ihn nicht, im Jahr darauf ein Buch voller versteckter Andeutungen der Regimekritik am Nationalsozialismus zu verfassen: „Vom einfachen Leben“ – und seine Botschaft wurde verstanden. 1942 hatte der Verlag bereits 260.000 Exemplare dieses Titels abgesetzt. Was war Wiecherts „Verbrechen“? Seit 1933 hatte er in flammenden Reden vor Hitler gewarnt, hatte sich jahrelang nicht unterkriegen lassen, hatte sich schließlich mit Martin Niemöller solidarisiert.
Geschichten wie diese lassen Günter Scholdt nicht los. Er arbeitet systematisch, Schicht um Schicht offenbart er der Leserschaft die Problematik. Bereits der erste näher behandelte „Schlüsseltext der inneren Emigration“, es handelt sich um „Der Großtyrann und das Gericht“ von Werner Bergengruen, belegt dies anschaulich. Völlig zurecht klassifiziert Scholdt dieses Buch als „subversive Epik“. Er ist, das belegt er deutlich, einer der wenigen wirklichen Kenner der Materie. Das Buch ist, anders kann es nicht gesagt werden, ein echtes Desiderat! Ein Beispiel für eine äußerst gelungene Einbettung einer wissenschaftlichen Beschäftigung mit einem Buch in einem Zeitkontext.
Als die Nationalsozialisten und ihre Helfershelfer allerorten im Reich Bücher verbrannten, wussten die Autoren, die das Regime – zutreffend! – für mörderisch hielten, dass sie in Gefahr waren. Und dass reagieren mussten. Und sie taten genau dies. Scholdt belegt es. Doch wie konnten Literaten ihre Botschaft zum Leser bringen und trotzdem der Verhaftung, ja, dem KZ entgehen? Durch geheimen Protest, durch klandestine Andeutungen, häufig auch durch ganz offene Anprangerung des Bösen – die aber die Nationalsozialisten in ihrer ideologischen Beschränktheit nicht wahrnahmen. Und fatalerweise setzt sich das fort, scheinbar mühelos über das Ende des Nationalsozialismus hinweg. Die deutsche Literatur widerständigen, diktaturfeindlichen Inhalts stellt den am meisten unterschätzten Sektor der hiesigen Literaturgeschichte dar. Das ist das Fazit von Günter Scholdt, dem bedeutenden Germanisten, Historiker und Literaturwissenschaftler.
Namen wie Werner Bergengruen, Jochen Klepper, Gerhart Hauptmann, Gottfried Benn und Ricarda Huch stehen exemplarisch für die klare Haltung von Literaten gegen Diktatur und Verführung. Erich Kästner, der Schreibverbot erhielt, ist deutlich bekannter, aber sein widerständiges Verhalten wird durch eine Pünktchen-und-Anton-Romantik übertüncht. Namen wie Stefan Andres, Marianne Langewiesche und Georg Britting sind dann wirklich nur noch Spezialisten geläufig. Dabei wäre es wichtig, die Werke all dieser Autoren zu kennen, ihr Œuvre studiert zu haben. Denn sie alle und viele mehr gehören in die Literaturgattung „Innere Emigration“, die den stillen Widerstand der Literaten in den Jahren 1933 bis 1945 beschreibt. Ebenso wie übrigens Hermann Hesse, der zwar sehr populär ist, aber kaum mit einer regimekritischen Haltung gegenüber dem NS-Staat in Zusammenhang gebracht wird.
Ein Beispiel ist auch das Schicksal Hans Falladas. der emigierte nicht, sondern arrangierte sich mit dem Regime. Später wurde ihm das durchaus zum Vorwurf machte – von Menschen, die nichts mehr zu befürchten hatten. Scholdt ergänzt jedoch, und das tut er bereits in der Einleitung, dass Fallada drogenabhängig, alkoholkrank und politisch völlig illusionslos war – dass ihn letztlich, vielleicht aufgrund eigener prekärer Lebensumstände, sein Mitgefühl für arme und leidende Zeitgenossen auszeichnete. Alle Vorwürfe werden angesichts dessen stark relativiert. – Thomas Mann gerät angesichts seiner Haltung in das Licht der Hypermoral. Höchst bemerkenswert auch, dass Marion Gräfin Dönhoff wiederum die Aussage, Kunst im Nationalsozialismus sei notwendigerweise totalitär gewesen, ebenfalls für totalitär hält. Und selbst das sind nur Beispiele. Scholdts Studie weitet den Blick enorm!
In seiner nun vorliegenden Studie zur den in der NS-Zeit verfolgten und verfemten Autoren würdigt Scholdt gleichermaßen bedeutende ästhetische Leistungen und einen heute weithin unterschätzten widerständigen Mut. Es geht ihm dabei zugleich um die besondere Bedeutung, die das widerständige Schreiben der NS-Jahre hinsichtlich der Verwerfungen in unserer eigenen Zeit gewinnt. Auf knapp 500 Seiten präsentiert er Meisterwerke, lebendig und vielfältig – entstanden trotz Unterdrückung, gegen die Gleichschaltung. Er vermittelt seinen Gegenstand dabei so, dass Spezialisten Neues erfahren, ein breiteres Publikum zugleich aber bestens verständlich informiert wird. Weil ihm dieser Spagat gelingt, kann er auch auf einen wissenschaftlichen Apparat mit Fußnoten und detailliertem Quellenverzeichnis verzichten, ohne dass die Qualität der Ergebnisse leidet.
Als Wissenschaftler genießt Günter Scholdt höchste Anerkennung, aber er spricht eine andere, viel handfestere Sprache als die häufig abgehoben diskutierenden Kollegen seines Faches. Angesichts dieser Authentizität nimmt es nicht wunder, dass er es an zeitgeschichtlicher Kritik nicht mangeln lässt – doch deutlich wird letztlich, warum er dies tut: Scholdt hier einen Grundstein für die Neuentdeckung der von der NS-Diktatur verfolgten und verfemten Autoren, die zu Unrecht in Vergessenheit gerieten – dies maßgeblich befördert durch die „68er“-Bewegung, deren geistige Abwicklung noch lange dauern wird, obschon sie höchst dringlich ist. Für seinen Beitrag zu diesem kulturellen Großprojekt gebühren Scholdt Dank und Anerkennung.
Prof. Dr. Günter Scholdt wurde 1946 in Mecklenburg geboren, er ist Germanist und Historiker. Bis 2011 war er Leiter des Saarbrücker „Literaturarchivs Saar-Lor-Lux-Elsaß“. Arbeitsschwerpunkte: Literatur 1933 – 1945, Regional- und Grenzliteratur. Zuletzt erschienen: Die große Autorenschlacht – Weimars Literaten streiten über den Ersten Weltkrieg (2015), Literarische Musterung – warum wir Kohlhaas, Don Quijote und andere Klassiker neu lesen müssen (2017). Dazu Beiträge zur Analyse aktueller politisch-rechtsstaatlicher Verwerfungen, so etwa: Anatomie einer Denunzianten-Republik (2018), Populismus (2020).
Günter Scholdt: Schlaglichter auf die „Innere Emigration“
Nichtnationalsozialistische Belletristik in Deutschland 1933 – 1945
Reihe „Erinnern und Überliefern“, Rückersdorf über Nürnberg 2022
476 S., zahlr. Abb., 140 x 205 mm, Klappenbroschur, 29,50 € (D), 30,40 (AUT), 30,60 (CHF)
ISBN 978-3-942605-25-0