Das Elend überredet uns
zur Verzweiflung;
der Stolz zur Anmaßung.
Pascal, Pen., Aph. 229
Der Weg ins Paradies führt über das Universum der Niedertracht. Wieviele unsagbare Schicksale bilden das schreckliche Antlitz dieser Welt? Wir sind Verdammte, seit wir das zulassen. Wir sehen, was wir sehen wollen, und das sind vor allem: keine Schwierigkeiten. Romantisch, was wie schön gedeckt mit Kerzenschein aussieht und wenn einer dazu am Klavier sitzt. Und wenn der Klavierspieler gerade von da herkommt, wo gequält wird? Nur Kinder stellen solche Fragen. Das ist so sicher,wie auf ihren Spaziergängen durch die Wohnung keine Tür verschlossen bleibt. Mutti, Vati, was geschieht in einem Lager? Die Antwort lautet – wetten -,dass sich das so einfach gar nicht sagen lässt.
Susanne Schädlich leuchtet in ihrem Roman „Herr Hübner und die sibirische Nachtigall“ das Unsagbare aus und verwebt die Lebensfäden zweier Schicksale zu einer lehrreichen Geschichte: die des Liberaldemokraten Dietrich Hübner, der im Jahr 1948, mit 21, von der sowjetischen Militärverwaltung verhaftet wird. Mara Jakisch, eine Operettensängerin und Filmschauspielerin, ist bei ihrer Verhaftung bereits 42. Beide schmoren in der KGB-Untersuchunghaftanstalt am Münchner Platz in Dresden.
Und beide werden dort für kurze Zeit Zellennachbarn und tauschen sich über Klopfzeichen aus (A 1 bis Z 26, Wortende kurz zweimal kurz, Ende der Info dreimal kurz). Sehen werden sie sich nie, aber sie werden sich für immer im Gedächtnis bewahren. Beide hatten einst vor, die Welt zu verbessern – er über die Politik, sie über die Macht der Musik (was ihr noch helfen wird) -, jetzt warten drakonische Strafen auf sie. Beide erhalten 25 Jahre Arbeitslager. Wobei Dietrich Hübner in der Sowjetisch besetzten Zone bleibt, –die am 07. Oktober 1949 zur Deutsche Demokratische Republik, kurz DDR, umgestaltet wird -,und wünscht sich im Laufe der Haftjahre manchmal nach Sibirien.
Während Mara Jakisch tatsächlich in den sibirischen Gulag kommt und sich nach Deutschland zurücksehnt. Doch gegenüber der Präsenz des Lagers und was es über die Jahre dem Leidtragenden zunehmend an Kraft abringt, spielt am Ende nur noch innere Stärke die Rolle, selbst das Leiden als erträgliche Existenz anzuerkennen.
Lenin, der für ein irdisches Paradies war, hatte die Losung ausgegeben, dass uns Menschen, anstatt mit dem Wahren, Schönen und Guten zu begeistern, stets ordentlich eins über den Schädel gehört. Genau in diesem Sinne gestaltete sich auch die Lagerwelt des KGB.
Was Susanne Schädlich auszeichnet ist, dass sie die Strategie der Lagertechnik eher in der Unschärfe lässt – darüber wurde ja eh schon alles geschrieben -, während ihre ganze Aufmerksamkeit der Technik des Überlebenskampfes der Leidtragenden gilt.
Aufmerksamkeit? Moment mal! Was ist mit den begangenen Verbrechen? Nun ja, wenn das Verbrechen sind. Also: Dietrich Hübner war Liberaldemokrat und damit kein Kommunist. Punkt. Er musste weg. Auch über diese Technik gibt es bereits ausgezeichnete Literatur. Und Mara Jakisch? Die sang auch im braunen Reich, das stimmt. Sang sie aber auch im Herzen für Hitler? Spielte Heinrich George auch im Herzen für Hitler? 1941 war Mara auch in Paris. Von der“Austellung 'Le Juif des France“' (S. 27) hielt sie sich jedoch fern.
Dietrich Hübner war von Herzen Liberaldemokrat und kein Kommunist, das stimmt. Dürfen wir einen Menschen aber nur deswegen zum Verstummen bringen, weil er uns irgendwie nicht – oder nicht mehr -,in den Kram passt? Der KGB durfte das nicht nur, er war besessen vom Verstummenbringen anderer Menschen. Das war sein inneres Ziel. Nur zu diesem Zweck wurden in den Lagern die unwürdigsten Bedinungen geschaffen.
Susanne Schädlichs weist in ihrem ausgezeichnet strukturiertem Roman drei Möglichkeiten auf, die Würde und das Leben in diesen Lagern zu bewahren: ein festes Herz und einen eisernen Willen (Hübner) oder eine goldene Stimme (Jakisch); die größere Rolle aber spielt die Zeit.
Im Roman klingt das so: „An einem kühlen Morgen nahm eine sehr viel ältere russische Frau Maras Gesicht in ihre Hände, küßte die rechte Wange, die linke Wange, die rechte, die linke. Die viel ältere Frau bekreuzigt sich. 'Sobaka umerla! Sobaka umarla!' sagte sie. Der Hund ist tot.'“ (S. 90)
Stalin war gestorben und die Zeiten änderten sich. Mara Jakisch durfte im Lager auftreten, singen und sich und den anderen Trost spenden. Auch solche Erfahrungen haben Folgen. Später, als sie längst entlassen ist, in Frankfurt am Main lebt,ist sie, sobald am Himmel der „Mond als Sichel“ steht, wieder „in Sibirien“.Im Buch klingt das so: „Und sie sah dieses Licht. Dieses blaue Licht von Sibirien. Das sie nicht ersehnte. Das sie nicht losließ.“ (S. 192)
In der SBZ, seit 1949 DDR,knallten indessen weiter die schweren Riegel. „Gesicht zu Boden.“ … „Umdrehen, Gesicht zur Wand.“ … „Gehnse.“ „Stehenbleiben. Gesicht zur Wand.“ (S. 193) Und diesging bekanntlich weiter so bis zum Herbst 1989, in dem sich – und das in nur drei Wochen -, alle acht Völker des kommunistischen Osteuropas von ihrer Machthabern befreiten. Dietrich Hübner gelangte im August 1964 aus der Haft in die Bundesrepublik und fand erfolgreich seinen Platz in der Politik.
Für beide Protagonisten, für Dietrich Hübner wie für Mara Jakisch, bleiben es in der Erinnerung entbehrungsreiche Jahre voller Schläge, Hunger und Kälte, aber nie voller Einsamkeit. Susanne Schädlichs Buch ist eine kleine wunderbare Enzyklopädie menschlicher Solidarität, das einem das Herz öffnet und wieder einmal eine Axt ist gegen das gefrorene Meer in uns (Thank you, Mister Kafka). Kurz: Susanne Schädlich erzählt knapp, dafür bleibt sie beim wesentlichen. Damit weckt sie unsere Neugier, macht Wegsehen unmöglich, verdammt.
Susanne Schädlich, Herr Hübner und die sibirische Nachtigall, Roman, Droemer 234 Seiten. ISBN 978-3-426-19975
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