Das gewaltige Lied der Erde – eine „Epidemie unsichtbarer Musik“

Die Welt scheint Dur und Moll zu sprechen und zwar global und universell. Schon Babys verstehen Musik. Kaum auf der Welt, können sie angenehme Tonfolgen von Dissonanzen unterscheiden oder Wechsel im Rhythmus bemerken. Musik spielt auf der Klaviatur unserer Gefühle, macht traurig, fröhlich oder siegesgewiss. Sie berührt uns im Innersten, bringt den Körper dazu, dass er glaubt, eine Seele zu haben. „Vier Milliarden Jahre Zufall hatten eine unvorstellbar komplizierte Partitur in jede einzelne lebendige Zelle geschrieben. Und jede Zelle war eine Variation desselben Ausgangsthemas, das sich ununterbrochen auf der ganzen Welt teilte und replizierte. All diese gigabitlangen Sequenzen warteten nur darauf, zu Gehör zu kommen, transkribiert, arrangiert, verarbeitet zu werden, ausgearbeitet von genau den Gehirnen, die von diesen Partituren hervorgebracht wurden. Das war ein Medium, mit dem man arbeiten konnte – wilde Formen, frische Klänge. Melodien für immer und für niemanden.“ Gibt es vielleicht eine Sprache der Musik, die bereits im Erbgut programmiert ist? Diese Frage stellt sich der siebzigjährige Protagonist in Richard Powers neuem Roman. Peter Clemens Els, vor drei Jahren als außerordentlicher Professor eines Colleges in Pennsylvania in Pension gegangen, hat eine besondere Gabe. Er fühlt in Noten, denkt von Kindheit an in musikalischen Sequenzen, findet Geheimbotschaften, die über der Sprache – dem Klang – der Natur schweben. Sogar seine Hündin Fidelio, die Gefährtin seiner späten Jahre, „singt“ für ihn. Er will diesem magischen Geheimnis, diesem „großartigen Uhrwerk“ auf die Spur kommen. „Gerade eben lernten die Genwissenschaften, Partituren von unbeschreiblicher Schönheit zu lesen. Els wollte das noch hören, bevor das Licht in seinem Zelt erlosch.“ Mittels Biologie im Do-it-yourself-Verfahren versucht er den „Universalien der Musik“ auf die Spur kommen. In seinem Privatlabor manipuliert er DNA an Bakterienstämmen. „Für Els war die Chemie der lang verkannte Zwilling der Musik: Mischungen und Modulationen, Spektralmusik und Spektroskopie. Die Struktur langer Polymere erinnerte ihn an komplizierte Webern'sche Variationen. (…) In einer einzigen Zelle gab es die unglaublichsten synchronisierten Sequenzen, Notenspiele, neben denen die h-moll-Messe klang wie ein Liedchen, zu denen man mit dem Sprungseil hüpfte.“
Doch was für den einen wie eine Jubelarie klingt, ruft bei anderen Dissonanzen hervor. So dauert es nicht lange und sein Tun ruft Geheimdienst und Seuchenschutzbehörde auf den Plan. Ein „Sturmtrupp im weißen Overall“ stürmt sein Haus. Els flieht – quer durch die USA, „unterstützt“ von den Medien, die zuverlässig für kollektive Panikmache sorgen. „Wieder einmal hielt eine Bedrohung die wacklige Demokratie zusammen. (…) Und auf Wegen, die Els immer noch nicht so ganz verstand, hatten die zwei Albträume, in denen die hysterische Gegenwart lebte – Bazillen und der Dschihad -,in ihm einen gemeinsamen Protagonisten gefunden.“ Peter Els wird Opfer seiner paranoiden Kultur und zum Gejagten. „Eine Flucht vor den nächtlichen Schweißausbrüchen des eigenen Jahrhunderts.“
Erneut hat sich Richard Powers seinen zwei literarischen Leidenschaften angenommen: den Naturwissenschaften und natürlich der Musik. Beide verwebt er vor dem eindrucksvollen gesellschaftspolitischen Panorama seines Heimatlandes im Speziellen und der Welt im Allgemeinen. Entstanden ist ein anspruchsvolles, intellektuelles Buch, das mit einer überbordenden Fülle vor allem musikfachspezifischer Kenntnisse aufwartet. Kurze, beinahe wie aus einem Blog gerissene Satzsequenzen, deren Sinn erst am Ende des Buches klar wird, wechseln sich mit längeren, beschreibenden Abschnitten ab. In gewohnt geschliffener und kraftvoller Sprache durchziehen Spannung, Tragik, große Emotionen, wunderbar skizzierte Menschenporträts, neben grandiosen Analysen und Beschreibungen musikalischer Themen den Roman und werden miteinander verwoben. Die eigentliche Rahmenhandlung umgrenzt nur einen Zeitraum von wenigen Tagen. Doch in dieser kurzen Spanne rollt Powers chronologisch die letzten siebzig Jahre seines Protagonisten auf: vom hochmusikalischen Kind, zum jungen Studenten der Chemie und späteren Kompositionslehre, der ersten Liebe sowie Ehe und Tochter.
„Orfeo“ offenbart sich als beinahe sprachlos machender, seelisch berührender Roman, in dem sich „Stimmen und Gegenstimmen abspalten“ und „in einem kosmischen Fangspiel“ vervielfältigen. „Triolengetriebene phrygische Tonfolgen“ durchziehen neben berühmten Komponisten wie Mahler, Bach, Mozart oder Beethoven die Seiten. Ein Text – „grob und feinsinnig in einem komplexen Kontrapunkt“ – wie „eine drängende, stolpernde Vorwärtsbewegung, die, binnen ein und desselben Taktes, zwischen der Tonart der Hoffnung und den atonalen Hieben des Nichts oszilliert.“ Bei Powers wird – pathetisch ausgedrückt – das Quietschen einer Schreibtischschublade zum Tongemälde und „die Angel seiner Zimmertür singt wie ein Heldentenor“. Der Autor wechselt scheinbar schwerelos zwischen heiterer Etüde, üppig verflochtenen Harmonien, nebelhaftem Dacapo, umwerfenden Akkorden, wirbelnden Ekstasen, abstrakten Mustern und Kaskaden von Echos, um es einmal ganz im Duktus des Textes auszudrücken. „Diese Töne könnten eine Elegie auf die knapp zehn Jahrhunderte sein, in denen aus liturgischem Gesang Melodie wurde, Melodie in der Harmonie zur Blüte kam und Harmonie in immer riskanteren Ausfällen die Grenzen zum Verbotenen überschritt. (…) der Klang der Möglichkeit, nachdem auch der letzte weiße Fleck auf der Landkarte des Möglichen ausgefüllt ist.“
Das Buch mag sicherlich nicht leicht zu lesen, zu verstehen und zu verdauen sein. Wenn man sich aber dem ureigenen Rhythmus hingibt und die anfänglichen Dissonanzen parliert, verzaubert es im Klang der Zeit, „ein Spektrum der Trauer, Verrücktheit und Freude von so gewaltigen Dimensionen, dass er gar nicht weit genug zurücktreten konnte, um es in seinen ganzen Ausmaßen zu erfassen. (…) ein Ort, an dem die Seele zu allem im Rhythmus pocht.“
Fazit: Richard Powers schafft es, Worte wie Musik zum Klingen zu bringen. Ein Buch über die Suche nach Identität und zugleich – als kunstvoll verwobene zentrale Metapher – eine einzigartige Hommage an die Musik, die das Schicksal herausfordert. „Orfeo“ offeriert wie sein musikalisches Äquivalent – Monteverdis Oper -, das Leben als ein außer Kontrolle geratenes Experiment, bei dem letztendlich die „Kunst der Töne“ alle Grenzen sprengen kann. Wer nichts von Musik versteht, wird vieles erfahren – wer etwas davon versteht, auch. Ein Buch, dasj e d egelesene Sequenz lohnt.
„Und all diese in allen Dingen der Welt schlummernde Kompositionen sagten immer nur eins: Hör genauer hin, hör auf die Feinheiten, die leisen Töne, hör auf jedes Geräusch, dann weißt du, wie die Welt klingen wird, wenn dein eigenes Konzert längst zu Ende ist.“

Richard Powers
Orfeo
Aus dem Amerikanischen von Manfred Allié
Titel der Originalausgabe: Orfeo
S. Fischer Verlag (August 2014)
496 Seiten, Gebunden
ISBN-10: 3100590252
ISBN-13: 978-3100590251
Preis: 22,99 EUR

Über Heike Geilen 597 Artikel
Heike Geilen, geboren 1963, studierte Bauingenieurswesen an der Technischen Universität Cottbus. Sie arbeitet als freie Autorin und Rezensentin für verschiedene Literaturportale. Von ihr ist eine Vielzahl von Rezensionen zu unterschiedlichsten Themen im Internet zu finden.

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