Smyrna 1922: Als die Türken Menschen und Häuser verbrannten

Lutz C. Kleveman, Smyrna in Flammen – Der Untergang der osmanischen Metropole 1922 und seine Folgen für Europa

The Burning of Smyrna as seen from HMS King George V

Die Katastrophe von Smyrna jährt sich im September 2022 zum 100. Mal. Die legendäre und kosmopolitische, seit der Antike durchweg griechisch geprägte Hafenstadt liegt im uralten ionischen – also griechisch-kleinasiatischen – Siedlungsgebiet. Lutz C. Kleveman hat jetzt über Smyrna ein bemerkenswertes Buch vorgelegt.

Smyrna wurde mit Vorbedacht und sehr gezielt durch eine exakt geplante und am 13. September 1922 gelegte Feuersbrunst zerstört. Das zwischenmenschliche Klima in der Stadt war trotz des immer radikaler moslemisch ausgerichteten jungtürkischen Regimes im Osmanischen Reich bis zu diesem Tag immer weltoffen und multikulturell geblieben. Die Stadt galt damit den jungtürkisch geprägten Mohammedanern, die einen rassisch und religiös „reinen“ Staat in Kleinasien schaffen wollten, als Ort der „Giaur“, der Leugner, der Ungläubigen – kurzum als Treffpunkt derer, die sie nicht mit totalitären religiösen Normen kontrollieren konnten. Konkreter Anlaß für den Brand und den damit seinem traurigen Höhepunkt zutreibenden Völkermord an den Pontos-Griechen war der türkisch-griechischen Krieg, der als Fortsetzung des 1918 keinesfalls beendeten Ersten Weltkriegs verstanden werden muß. Die blutige Vertreibung der seit drei Jahrtausenden in Kleinasien angestammten Griechen wird gerne als „Bevölkerungsaustausch“ bemäntelt – ein menschenverachtender Topos.

In Wirklichkeit war auch das gigantische Mordbrennen von Smyrna nur ein schrecklicher Meilenstein. Es ging um eine ethnische und vor allem religiöse „Säuberung“ Kleinasiens in größtem Maßstab, wie der Völkermord der Türken an den Armeniern beweist. Auch christliche Aramäer wie muslimische – aber nicht der „richtigen“ Rechtsschule folgende – Kurden waren betroffen. Im Rahmen der kriegerischen Gesamtauseinandersetzungen mussten schließlich fast zwei Millionen Christen und Muslime aus ihrer Heimat fliehen. Leider starben auch Türken durch griechische Hand, aber systematisch ermordet wurden ausschließlich Christen, und sie sind die zahlenmäßig mit weitem Abstand größte Gruppe unter den Todesopfern. Nach dem türkischen Völkermord an den Armeniern diente das massenhafte Verbrennen von Menschen in Smyrna als zweite Blaupause für die ethnischen Säuberungen des 20. Jahrhunderts, die noch folgen sollten, vor allem im russischen und im deutschen Namen. Soviel vorweg.

Nun zum Buch von Lutz C. Kleveman. Auf Seite 269 steht zu lesen, als wie präsent er den Völkermord an den Griechen in Smyrna immer noch empfindet: „Es war noch früher Morgen, die Luft herbstlich kühl. Ich ging am Quai entlang, der heute Kordon heißt. In einer Stadt namens Smyrna, die heute Izmir heißt. (…) Wellen schlugen an die Kaimuaer, prallten zurück und schwappten übereinander her. Kleine aufgebrachte Wellen, die mir wir ruhelose Seelen vorkamen. Seelen, die immer noch ertranken.“

Fire of Smyrna

Um das Grauen eines Völkermordes zu schildern, es in seiner Absolutheit herauszuarbeiten, ist es nötig, das Umfeld zu schildern. Den hoffnungsvollen, brüchigen Frieden zuvor ebenso wie die Friedhofsruhe danach – sei es in einem Exil, sei es am Ort des grausigen Geschehens. Dieses Buch ist ein gutes Beispiel dafür, wie das gelingen kann. Es steht in einer Reihe mit der bedeutenden biographischen Erzählung „Die Hunde vom Ararat“ von Peter Balakian, in der die Wirkung des Völkermordes der Türken an den Armeniern durch einen eingeschobenen Sachtext geschildert wird. Eine Reiseerzählung wie die hier vorliegende, in der sich Lutz C. Kleveman dem Völkermord der mordlustigen Türken an den Pontos-Griechen Schritt für Schritt nähert, ist eine probate Herangehensweise, die funktioniert. Auch bei ihm steht dann ein Sachtext, wissenschaftlich exakt, im Zentrum des Buches.

Im Prolog bereits, der in Athen spielt, läßt Kleveman in einem knappen Dialog die Problemstellung aufblitzen: „Vielleicht war Smyrna die erste wirklich globale Stadt.“ – „Bis man sie niedergebrannt hat.“ Sodann nimmt er die Leser mit auf die Insel Chios. Das ist zunächst etwas überraschend, aber doch völlig schlüssig und logisch, um die Genese des Problems darzulegen, dessen schlimmste Folge letztlich der Brand von Smyrna sein sollte. Auf Chios jedenfalls fand vor 200 Jahren ein riesiges Massaker von Moslems an Christen statt, damals noch alles unter der Regentschaft des Sultans in Konstantinopel, das seit der gewaltsamen Eroberung durch Sultan Mehmed II. Istanbul genannt wird. Und mit dem Kapitel „Verbrannte Erde“ führt Kleveman die Leser dann endlich ins heutige Izmir, den eigentlichen Schauplatz des Buches – ins historische Smyrna.

Die Ereignisse entfaltet Kleveman gekonnt, er beginnt 1907. Sehr gut fassbar sind die Personen, er wählt zudem unterschiedliche Schauplätze – Langweile ist nicht zu befürchten! Unterbrochen wird seine große historische Schilderung von zwei aktuellen Kapiteln, „Interludium“ und „Nationale Ideen“. Danach widmet er sich der Fortsetzung der historischen Ereignisse, wobei dem verblüfften Rezensenten auffällt, daß doch tatsächlich im Inhaltsverzeichnis zwei Seitenzahlen falsch sind – die auf den Seiten 213 und 238 beginnenden Kapitel sind zehn Seiten zu früh annonciert. Hat der umpaginierte, zehn Seiten starke Bildteil, kurz davor und mutmaßlich kurz vor Druck eingefügt, der Herstellungsabteilung einen Streich gespielt? Wie dem auch sei – derlei Schlamperei sieht man selten bei angesehenen Verlagen.

Ein paar Seitenzahlen können indes nicht irritieren. Die Schilderung, die Kleveman liefert, ist bestechend in ihrer Klarheit und ihrer düsteren Objektivität. Sie liest sich herunter wie ein Krimi, und am Ende sind auch nicht nur die moslemischen Mordbrenner und Menschenschlächter, die als Bestien dastehen, sondern ebenso die grundlegend versagenden Westmächte, die in Smyrna engagierten US-Konzerne und auch die griechische Regierung in Athen. Umso berührender das Denkmal der Menschlichkeit, das Klevemans dem US-amerikanischen Pastor Asa Jennings setzt. Er war ein Held der Menschlichkeit in einem Ozean aus Blut. Allein durch die Schilderung seiner Tat hätte sich die Lektüre dieses Buches bereits gelohnt!

Der Brand von Smyrna und der gleichzeitige, hunderttausendfache Mord an Griechen und Christen anderer Konfessionen ist ein welthistorisches Ereignis, mit dem „der Genozid an den Armeniern im Jahre 1915 sieben Jahre später in Smyrna seine Fortsetzung fand“. So zumindest befindet Dora Sakayan, die Enkelin von Garabed Hatscherian, jenem Arzt, dessen Tagebuch heute die wohl wichtigste Primärquelle zum Holocaust von Smyrna aus Opfersicht ist. Das Wort Holocaust ist hier, Hannah Arendt folgend, im Sinne seiner etymologischen Bedeutung verwandt, nämlich als „völlige Verbrennung von Menschen“. Philip Blom schreibt resümierend auf den Seiten des Aufbau-Verlages: „Lutz C. Kleveman reiste ein Jahr lang auf die griechischen Inseln und nach Izmir – über Grenzen und durch die Zeit. Dabei entdeckt er das historische Smyrna wieder, wo Griechen, Türken, Juden, Armenier, Europäer und Amerikaner einst friedlich zusammenlebten. Er lässt die kosmopolitische Metropole erzählerisch auferstehen und uns verstehen, wie es zur Katastrophe von 1922 kommen konnte. Einer Katastrophe, die Europa für immer verändern sollte.“

Ja, 2022 ist ein gefährliches Jahr für Griechenland. 1822 das Massaker von Chios, 1922 der Völkermord an den Pontos-Griechen und allen gemeinsam mit ihnen im westlichen Kleinasien lebenden Christen anderer Konfessionen und an den toleranten Menschen anderer Religionsgruppen. Was kommt noch, 2002, und was dann erst 2023, zum düsteren Jahrhundertfest der heutigen Türkei, die über einem Meer aus Blut errichtet wurde? Was ist Reccep Tayyib Erdogan zuzutrauen?

Lutz C. Kleveman, Smyrna in Flammen – Der Untergang der osmanischen Metropole 1922 und seine Folgen für Europa, 381 Seiten, geb. mit Lesefaden, 10 Abb., ISBN 978-3-351-03459-7, 24,00 Euro.

Cover: Smyrna in Flammen von Lutz C. Kleveman

 

Über Sebastian Sigler 104 Artikel
Der Journalist Dr. Sebastian Sigler studierte Geschichte, Literaturwissenschaft und Kunstgeschichte in Bielefeld, München und Köln. Seit seiner Zeit als Student arbeitet er journalistisch; einige wichtige Stationen sind das ZDF, „Report aus München“ (ARD) sowie Sat.1, ARD aktuell und „Die Welt“. Für „Cicero“, „Focus“ und „Focus Money“ war er als Autor tätig. Er hat mehrere Bücher zu historischen Themen vorgelegt, zuletzt eine Reihe von Studien zum Widerstand im Dritten Reich.