Die Religionsphilosophin Hanna-Barbara Gerl-Falkovitz hat vor kurzen im Rahmen der Jahrestagung der Edith-Stein-Gesellschaft im Kaisersaal des Doms zu Speyer den päpstlichen Silvesterorden erhalten. Wir sprachen mit der Wissenschaftlerin über Glauben und Wissen, aber auch über die Themen Globalisierung und Gender.
Sehr geehrte Frau Professor Gerl-Falkovitz, befinden wir uns in einer Glaubenskrise?
Zweifellos. Es gibt ein neues Wort – die Transzendenzverflüssigung. Von dieser reden sowohl Soziologen als auch die Humanwissenschaften. Sicherlich gibt es eine Verflüssigung auch aus meiner Sicht, aber den Begriff Transzendenz würde ich ganz anders besetzen. Natürlich ist der biblische Gott transzendent, aber nicht im Sinne, dass es keine Beziehung zu ihm gibt, dass er einfach alles übersteigt. Zweifellos sind wir in einer Glaubenskrise, aber Glaube und Religion sind gar nicht dasselbe. Von Religion dampft es wie in einer Waschküche – das zeigt die Fülle von Esoterikangeboten im Internet, aber auch Bücher zu Engeln und Satanismus sowie Prophezeiungen, wie die Welt im Jahr 2050 aussehen wird, finden sich überall. Diffuse Ängste werden da beschworen und ganz diffus beantwortet. Bei all diesen Angeboten geht es um eine ungefähre Findung irgendeiner göttlichen Kraft. Man redet von Kräften, weniger von Gott. Wir haben insofern keine Krise der Religion, vielmehr sinkt der Glaube im biblischen Sinne ab.
Woran liegt es aus der Sicht der Religionsphilosophin, dass immer weniger Menschen in der westlichen Welt den Weg zu Gott finden?
Dies ist ein Phänomen, welches sich nicht nur in der westlichen Welt findet. Auch in der arabischen Welt gibt es eine Entwicklung, dass die verfasste Religion nicht mehr prägt. Bekanntlich wird dort in Sachen Religion viel Druck aufgebaut, aber wenn dieser weicht, sieht die Sache schon ganz anders aus. Aus meiner Sicht hatten viele Generationen vor uns auch ihre je spezifischen Hinderungen, mit Gott zurechtzukommen oder umgekehrt Gott hereinzulassen.
Ein Blick in die Geschichte des Westens zeigt: Früher war es mehr der Aberglaube, die Angst, die sich dann in magischen Praktiken niedergeschlagen hat. Man hat eine Mauer zwischen sich und Gott aufbaut. In dem Sinne würde ich daher das Mittelalter nicht einfach nur als gelungen empfinden. Im 18 Jahrhundert hat sich in Zeiten der Aufklärung die Vernunft zwischen den Menschen und Gott geschoben. Damit verbunden war das grundsätzliche Misstrauen, dass die Offenbarung überhaupt noch irgendetwas sagen kann, was nicht mit der Vernunft korrelierte. John Henry Newman hat einmal – auch mit Blick auf die Aufklärung im 19 Jahrhundert – gesagt: Der Raum, in dem er in Oxford die Kollegen traf, stank nach Logik. Dies scheint dann sogar eine Art Gipfel theologischer Erkenntnis gewesen zu sein.
Was heutzutage zwischen dem Menschen und Gott steht, ist die technische Welt. Diese technisierte Welt ist immer auch eine wohlhabende Welt, einfach weil bestimmte Funktionen mechanisch ausgeführt werden können. Ganz vieles bleibt beherrschbar, nicht alles. Aber wir können Krankheiten heilen, Menschen künstlich befruchten, die Äcker fruchtbar und das Wetter machen. Wir sind gar nicht mehr auf die Gnade angewiesen.
Und das bedeutet: Was früher durch Gebet erworben wurde, scheint heute relativ gut durch Naturwissenschaften herstellbar zu sein. Aber bei den existentiellen Fragen des Menschen, Liebe, Anerkennung und Krankheit und Tod – auf alle diese kann die technische Welt nicht antworten. Und in dem Sinne schiebt sich zwischen die moderne Welt und Gott dieser techniknahe Raum, der überdies naturfern ist und wo Gott gar nicht mehr präsent ist, weil man ihn gar nicht mehr zu brauchen scheint. Diese Gottesferne zeigt sich ganz pragmatisch beispielsweise in vielen Kliniken. Dort gibt es mittlerweile fast gar keine Anbetungsräume mehr. Wir haben heute die Mentalität, technisch mechanisch zu denken und nur in Notsituationen dann zu so etwas zu greifen, wie zu einem Gebet. Aber um das zu können, muss das längst vorher geübt sein. Das geht nicht einfach nur so durch einen unmittelbaren Kanal, der sich plötzlich irgendwie auftut. Und insofern ist diese naturwissenschaftlich technische Welt eine Hemmung.
Der italienische Renaissance-Philosoph Giovanni Pico della Mirandola hatte im 15. Jahrhundert bereits eine neue Konzeption der Menschenwürde definiert. Der Mensch sei „ein Werk von unbestimmter Gestalt.“ Darin liege das Wunderbare seiner Natur und seine besondere Würde, und insofern ist er ein Abbild Gottes. Welche Rolle spielt dieser Freiheits- und Würdebegriff heute?
Pico ist ein wichtiger Theoretiker. Eigentlich verteidige ich ihn immer, weil er natürlich im Duktus des Übergangs in eine neue Epoche, also in unsere Neuzeit, genau das Merkzeichen gesetzt hat. Mehr als der Würde- ist es allerdings der Freiheitsbegriff, der bei ihm im Zentrum steht. Aber diese Freiheit meint bei ihm etwas ganz anderes, als was wir heute darunter verstehen. Freiheit bedeutet für ihn, dass wir entweder den Aufstieg zu Gott vollziehen oder den Abstieg zu den Tieren. Also Freiheit ist nicht ziellos. Der Aufstieg zu Gott vollzieht sich in einem klar platonischen Sinne – und darauf sollten wir alle unsere Kräfte auch richten. Wie Pico betont, hat der Mensch keine Natur im Sinne einer Festlegung wie alle anderen Geschöpfe. Aus seinem Freiheitsbegriff hat die Spätmoderne dann die menschliche Autonomie gemacht – dies gilt auch für die Theologie.
Wir sind tatsächlich von Gott so frei geschaffen und so in seiner Nähe. Und gerade diese Nähe ist es, die uns in Versuchung bringt, uns zu überheben. Hildegard von Bingen betonte einst: Der Mensch ist gefallen, weil er groß und nicht, weil er klein war. Die Freiheit oder auch die Würde, die ihn mit Gott verwandt machen, verführen dazu, noch ein Stück mehr zu wollen. Doch für Pico ist allein der Aufstieg zu Gott zentral. Gott zu ersetzen, indem sich der Mensch als autonomes Wesen an seine Stelle setzt, widerspricht seinem Freiheitsbegriff. Und das bedeutet, dass man ihn nicht zum Vater dieses modernen oder spätmodernen hypertrophen Freiheitsgedanken Gedankens machen darf. Wenn wir also unsere Freiheit gegen die von Gott stellen, nehmen wir diesen aus dem Gespräch. Und das geschieht jetzt in der Moderne. Das ist auch der große Unterschied zwischen der Bibel und der griechischen Philosophie. Gott spricht zu den Menschen. Das kennen wir von den antiken Göttern nicht. Die biblische Freiheitskonzeption ist eine, die für den anderen offen ist, das Tor zu einem Austausch. Eine Bitte vorzutragen, Wünsche zu äußern oder umgekehrt auch seine Wünsche anzuhören, dies ist genau das, was den lebendigen Austausch zwischen Personen und mit Gott ausmacht. Wenn ich mich aber nur auf meine Freiheit versteife, dann ist das eine Verhärtung und auch ein Zuschließen meiner Freiheit.
Das Christentum Europas beruht bekanntlich auf den drei Säulen Jerusalem, Athen und Rom, die für die Wertefundamente des Abendlandes stehen. Welche Gefahr hat eigentlich die Globalisierung für den christlichen Glauben oder überhaupt für den Glauben, wenn diese Orte relativ werden?
Ja, die Globalisierung hat grundsätzlich die Gefahr, dass sie die Orte in einem wörtlichen Sinne auch überfliegt. Im Flugverkehr kann ich mühelos die ganze Welt in kürzester Zeit überfliegen. Eine bestimmte Heimatlosigkeit ist damit einerseits auch angezeigt. Andererseits gibt es Gegenbewegungen. Wir haben auch eine deutliche Regionalisierung. Die Bedeutung des Nationalen und der Nationen als selbständige Einheiten wird wieder deutlicher.
Corona hat uns auch gezwungen, Grenzen wieder wahrzunehmen. Ja, das ist vielleicht jetzt die negative Seite, aber ich glaube nicht, dass die Globalisierung das einzige Konzept bleiben wird. Auch für Europa nicht, denn auf dem Kontinent werden die Nationen so bleiben. Die politischen Parteien aller Couleur haben seit Jahren das Stichwort Heimat auf ihrer Agenda. Und das zeigt, dass wir nicht einfach nur in einer undefinierten Welt leben können. Das finde ich schon sehr hilfreich. Was die Weltstädte des Abendlandes, Athen, Jerusalem und Rom betrifft, so glaube ich an Gegenkräfte. Es besteht eine Witterung dafür, was von diesen Orten ausgegangen ist.
Die Genderbewegung transformiert die Gesellschaft, dies gleichwohl als Minderheitenbewegung. Warum ist unsere Gesellschaft hier so anpassungs- und reformfreudig, dass sie christliche Wertvorstellungen dafür gern kippt?
Wir wissen, dass mindestens drei Viertel der Bevölkerung hier in Deutschland gegen die Gendertheorie sind und auch diese neue Sprache ablehnt. Der ganzen Transgender-Bewegung wird mit großem Misstrauen begegnet. Die Frage ist vielmehr wieso die öffentlichen Meinungsführer das so politisch und medial aufheizen. Das Misstrauen vieler Menschen scheint sich im Wahlverhalten aber nicht niedergeschlagen zu haben.
Das Argument von Seiten der Politiker ist ja immer der Minderheitenschutz. Es wird immer von einer Quote gesprochen, doch diese liegt bei 0,02 Prozent, die mit nicht eindeutigen Geschlechtsmerkmalen auf die Welt kommen. Das sich Menschen in einem falschen Körper fühlen, die auch im Phänotyp, also im Erscheinungsbild mehr eigentlich einem dem anderen Geschlecht zuneigen als ihrem eigentlichen genetischen oder hormonellen Geschlecht, ist ein Fakt, aber eben eine sehr kleine Zahl. Im Grunde geht es eigentlich wenig um die genannten Minderheiten. Vielmehr springt die Öffentlichkeit auf dieses Thema auf, so zumindest meine Vermutung, weil man sich selbst eine Offenheit bei der eigenen Lebensführung wünscht und das Thema sich daher für eigene Zwecke wunderbar instrumentalisieren lässt. Wenn es immer weniger Vorschriften und Gebote gibt, wie man liebt und wie man lebt, so öffnet das Freiräume, sich von traditionellen Wertebildern zu verabschieden und an die Stelle ein „Alles ist erlaubt“ zu setzen.
Das ist meiner Meinung auch der Grund, warum das Thema so viel öffentliche Aufmerksamkeit bekommt. Dennoch mehren sich immer mehr kritische Stimmen zur Gendertheorie. Gender widerspricht sich selbst. Sogar im Augenblick, wo wir von einer fluiden, also flüssigen Geschlechtsidentität ausgehen und so was wie eine virtuelle oder operative Geschlechtsumwandlung gewünscht wird, kommen wir niemals aus dem bipolaren Geschlecht heraus. Eine Frau, die ein Mann zu werden wünscht und umgekehrt, wird ja nicht irgendwas. Davon abgesehen kann sie nicht tatsächlich physisch ein Mann werden. Die Bipolarität ist uns eingeschrieben. Es gibt keine Möglichkeit, noch irgendwas anderes zu werden.
Problematisch scheint mir hier, dass ein Gros, nicht alle, in der katholischen Kirche nicht wirklich mitdenken. Hier springen zu viele auf den Zug auf. Gerade aus der Tiefe der biblischen Theologie wissen wir, dass hier ganz anders gedacht wird. Die Polarität von Mann und Frau, die im Grunde von Gender nicht aufgehoben wird, sondern nur durchlässig wird, entspricht einer guten Ordnung, wo es auch sinnvoll bleibt, diese nicht aufzuheben. Bereits in der Antike gab es immer die Trennung von Einheit und Vielfalt, sozusagen das Glück der Grenze. Was aber keine Grenze hat, besitzt sich selbst nicht. Und wir verbinden mit der Grenze so etwas wie eine Schranke oder eine Ordnung, aber auch Form und Identität. Wichtiger wäre daher wieder, den Gedanken in den Raum stellen, dass man sich selbst annimmt, weil ein anderer, weil mein Schöpfer mich so geschaffen hat, und zwar schön, so dass ich bin und glücklich bin.
Interview: Stefan Groß-Lobkowicz, Quelle: Bistum Regensburg