Pyramidenerscheinungen und ein „Geheimnis des Mittelpunkts“

In „Farm der Tiere“ lässt George Orwell durch die Schweine ein Gebot ans Scheunentor nageln, so dass es auch ja kein Tier vergisst: „Manche sind gleicher“. Sie haben es nach der Klärung der Machtverhältnisse als einzig noch gültigen Edikt zum Status Quo erhoben, um ihren Führungsanspruch zu untermauern. Orwells Gleichnis, das 1945 erschien, zielt auf den Stalinkult in der Sowjetunion. Medial weitestgehend kaum wahrgenommen, fand in einem anderen Land ein fast noch schlimmerer Personenkult statt. Die Götzenverehrung um den albanischen KP-Chef Enver Hoxha gehörte zu den exzessivsten in den sozialistischen Ländern, auch wenn sie bedeutend subtiler als der seiner kommunistischen Ebenbilder (Mao, Ceaușescu, Stalin) vonstatten ging. Überdimensionale Portraits, Büsten oder Denkmäler gab es nicht. Trotzdem war der Diktator allgegenwärtig und kein Albaner konnte sich dem inszenierten Kult entziehen. Zur vollen Entfaltung gelangte er in den 1960er Jahren, als die Machtfrage nach mehreren „Säuberungswellen“ geklärt wurde. In allen Bereichen der Kunst ließ sich der Diktator bejubeln und glorifizieren. In biografischen Bildbänden musste die Fotoauswahl immer wieder neu getroffen werden, um liquidierte Weggefährten auch in der Erinnerung verschwinden zu lassen. Unzählige zu seinen Ehren verfassten Gedichte und Lieder wurden geschrieben. Zudem ließ er, der unter Verfolgungswahn litt, ca. 700.000 Bunker bauen, die noch heute über das kleine Land verstreut zu finden sind. Die größte Geschmacksverirrung jedoch steht im Stadtzentrum der Hauptstadt Tirana und geht auf das Konto seiner Tochter Pranvera, einer Architektin: ein Pharaonengrab. Diese pompöse Pyramide sollte sein Mausoleum werden.
Zwischen 1988 und 1992 schrieb der albanische Schriftsteller Ismail Kadare, der mehrfach für den Nobelpreis nominiert wurde, dieses Buch. Doch nicht in sein Land mit dem Image einer „nordkoreanischen Diktatur“ verlegt er seine Erzählung, sondern siedelt sie rund 4,5 Jahrtausende früher an den Ufern des Nils an. Hier im alten Ägypten benutzt der Herrscher ein ähnlich totalitäres, mythisches System wie das des albanischen Diktators. Der Pharao hört auf den Namen Cheops und ihm wird gerade von Beratern eingeimpft, seine törichte Idee, keine Pyramide bauen zu wollen, fallenzulassen. Denn allzu viel Wohlstand hat sich unter der Bevölkerung breitgemacht. Jener mache die Menschen nur unabhängig und frei im Denken. Also weg damit. Wie ließe sich dies am effektivsten bewerkstelligen? Ganz einfach: Man generiere etwas, „das die Ägypter durch seine Großartigkeit beschränkte und geringer machte. Kurz gesagt, etwas, das Körper und Geist auslaugte und dabei völlig unnötig war. Oder genauer, so unnötig für die Untertanen, wie es für den Staat unläßlich war.“ Gesagt – getan. Der Bau der mächtigsten und höchsten Pyramide beginnt. Zahlreiche Menschenopfer sind von vornherein einkalkuliert. Jegliche Aufstände werden schon im Keim blutig niedergeschlagen. Auch wenn sie nur laut gedacht werden. Es gilt, staatsfeindliche Gedanken sofort auszumerzen. Am besten durch den Tod des Andersdenkenden.
Trotz der zuweilen recht plastisch vorgeführten Brutalität, gelingt es Ismail Kadare mit viel Szenenhumor und überspitzter Ironie, die mitunter einen zynisch-sarkastischen Ton annimmt, durchweg glaubhafte Bilder übereinanderzulegen und die albanische Gegenwart in die ägyptische Wüste zu implizieren. „Pyramidenförmige Verschwörungen“, allgegenwärtige Angst unter der Bevölkerung, Denunziationen: „alles wurde an seinen Platz gerückt wie die Steine der Pyramide. Da sich bei den Pyramiden alles wiederholte, konnten die Aufseher und Meister also gelassen abwarten, bis das Elend ein Ende hatte und eine andere Zeit mit anderen Steinen zurückkam und alles wieder wie früher war.“ Gespickt mit zahlreichen Analogien zu seinem Heimatland und Querverbindungen in die Gegenwart („Weißes Haus“, Geheimpolizei, Deportationen, Mauerschmierereien, neue Diktatur etc.) verwebt Ismail Kadare kunstvoll rund 4600 Jahre miteinander. Kenntnis um die Geschichte Albaniens und seines Despoten Hoxha ist im Vorfeld der Lektüre unbedingt zu empfehlen. Ansonsten gehen die vielen kleinen Spitzen, Parallelitäten und Kongruenzen verloren oder erscheinen recht wunderlich und überzogen.
„In alten Zeiten hatte man geglaubt, aus den unachtsam verspritzten Samen- und Keimzellen göttlicher Wesen entstünden Geschöpfe oder Himmelskörper, und nun streute die greise Pyramide wie bei einem Koitus kosmischen Ausmaßes nicht nur Tausende, sondern Zehntausende ihrer Abkömmlinge über die Landschaft aus. Sie wurden Bunker genannt, und so klein sie auch im Vergleich zur Mutter sein mochten, jeder einzelne trug in sich ihren ganzen Schrecken und Irrsinn.“
Fazit: Enver Hoxhas Mausoleum bekam nie seinen „Pharao“ zu sehen. Nach dem Untergang des Kommunismus wurde es erst als Abenteuerspielplatz, dann als Disko zweckentfremdet. Heute steht die Pyramide zwischen restaurierten Bonzenpalästen und Luxushotels leer. Sie soll eventuell zu einem repräsentativen Ort aufpoliert werden. Über den Pyramidenplatz aber weht immer noch ein Hauch von Restanarchie. Oder will man die Ruine der Nachwelt als Mahnmal für die betrügerischen Pyramidenspiele der späten 1990er-Jahre hinterlassen? Im ärmsten Land Europas wurde fast das gesamte Volk Opfer von Finanzbetrügern
Die deutsche Erstausgabe von Ismail Kadares Buch belebt die unrühmliche Vergangenheit diesen kleinen Mittelmeerstaates erschreckend neu.

Ismail Kadare
Die Pyramide
Aus dem Albanischen von Joachim Röhm
Titel der Originalausgabe: Piramida
S. Fischer Verlag (Mai 2014)
160 Seiten, Gebunden
ISBN-10: 3100384105
ISBN-13: 978-3100384102
Preis: 19,99 EUR

Über Heike Geilen 597 Artikel
Heike Geilen, geboren 1963, studierte Bauingenieurswesen an der Technischen Universität Cottbus. Sie arbeitet als freie Autorin und Rezensentin für verschiedene Literaturportale. Von ihr ist eine Vielzahl von Rezensionen zu unterschiedlichsten Themen im Internet zu finden.

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