Die Heldentaten Robin Hoods sind ein fester Bestandteil unserer modernen Mythologie und ein strahlendes Beispiel für Abenteuerlust und den Kampf um Gerechtigkeit. Das gilt auch für die vom japanischen Fernsehen ab 1973 produzierte Serie „Die Rebellen vom Liang Shan Po“, die zu Beginn der achtziger Jahre auch in Deutschland ausgestrahlt wurde und damals die Teenager europaweit begeisterte. Beide Geschichten, sowohl die mittelalterliche, englische Legende aus dem Sherwood Forest, als auch die im 12. Jahrhundert in China spielende Variante heroisieren das Leben der Gesetzlosen und Geächteten. Outlaws, wie es bereits der Titel verrät, sind auch das Thema des Romans des spanischen Autors Javier Cercas. Diesen lässt er allerdings im Sommer 1978 in Spanien beginnen.
General Franco ist bereits drei Jahre tot. Doch noch immer scheint das Land unter seiner autoritären, diktatorisch-blutigen Herrschaft mit ihren brutalen „Säuberungsaktionen“ nahezu paralysiert zu sein. Die baskische Untergrundorganisation ETA, einst als Widerstandsbewegung gegen die Franco-Diktatur gegründet, hat sich zwar gespalten, aber Teile kämpfen weiter um eine Autonomie des Baskenlandes. Auch Katalonien verzeichnet deutliche Unabhängigkeitsbemühungen. Javier Cercas setzt seine Erzählung in den Nordosten der Iberischen Halbinsel, nach Gerona, ca. 100 km von Barcelona entfernt. „In Gerona war es damals, als befände man sich immer noch in der Nachkriegszeit, ein düsteres Kaff fest im Griff der Kirche, ringsum bedroht durch das Land und im Winter in dicken Nebel gehüllt.“ In den armen Vorstädten wohnen viele Charnegos, damals eine gebräuchliche Bezeichnung für nichtkatalanische Einwohner. Noch übler, in sogenannten Behelfsunterkünften, haust der „Abschaum des Abschaums“, die Quinquis, eine nomadisierende bis halbsesshafte soziale Randgruppe in Spanien, vom Bürgertum beinahe symbolisch getrennt durch einen Park und die Flüsse Ter und Onyar. Die Grenze übertritt man selten.
Doch Ignacio Cañas, genannt „Brillenschlange“, tut es. „Mit sechzehn sind alle Grenzen durchlässig… (…) Ein Junge aus der Mittelschicht, der unbedingt ausprobieren wollte, wie es auf dem anderen Ufer zugeht, in der Wildnis“. Er wird in seiner Schule von Batista und seinen Freunden gedemütigt und terrorisiert. Als ihm der markante Antonio Gamallo, genannt Zarco, und vor allem die hübsche, selbstbewusste Tere über den Weg laufen, springt er über die Demarkationslinie. Ab sofort ist er Mitglied der Gang, die sich vor allem durch Handtaschendiebstähle, Drogenkonsum bis hin zu Einbrüchen und späteren, zunehmend gewaltbereiteren Raubüberfällen, auszeichnet und hernach ihren erbeuteten Gewinn im Rotlichtviertel auf den Kopf haut. Bis zu jenem magischen Tag als ein Banküberfall durch offensichtlichen Verrat scheitert. Zarco wird gefasst, aber Ignacio entkommt. Im Gefängnis entwickelt sich der Mythos um den jungen Quinqui stetig weiter und erhält zunehmend landesweit mediale Aufmerksamkeit, die Zarco fast den Status einer Ikone verleiht, eines modernen Robin Hood oder Lin Chung wie in der fernöstlichen Variante. Nach zwanzig Jahren trifft das ursprüngliche „Dreigestirn“ erneut aufeinander. Aus Cañas ist mittlerweile ein erfolgreicher Strafverteidiger geworden, Gamallo sitzt immer noch hinter Gittern und Tere bringt bei Ignacio schon wie damals gewisse Saiten zum Schwingen. Die starken psychologischen Abhängigkeiten der Jugend sind offensichtlich vor allem auf Seiten Ignacios noch nicht gänzlich abgestreift…
Javier Cercas hat für seinen äußerst interessanten und tiefgehenden Plot eine interessante Form zur Wiedergabe gewählt. In wechselnden Kapiteln lässt er jeweils Ignacio und einen damals mit dem Fall betrauten Inspektor die Geschichte der Quinqui-Bande des Sommers 1978 aufrollen. Etwa in der Hälfte des Buches erfolgt ein Sprung von 20 Jahren, der bis in die Gegenwart hineinreicht. Nun berichtet Zarcos ehemaliger Gefängnisdirektor und erneut Cañas vom erneuten Aufeinandertreffen. Alle drei werden dabei von einem Schriftsteller interviewt, der ein Buch über die ganze Geschichte schreiben will. Was zunächst ungewöhnlich anmutet, entwickelt allerdings schon nach wenigen Seiten einen unglaublich spannungsgeladenen Sog. Der spanische Autor gestaltet diese Interviews allerdings ohne Leseverlust. Angesiedelt auf hohem Niveau, mit einem raffinierten psychologischen Aufbau, vermittelt er zudem noch jede Menge geschichtliche Hintergründe. Sein Hauptaugenmerk liegt jedoch zweifelsohne auf der Frage, was einen Menschen zum Menschen macht. Antworten, die leider immer wieder stark von Klassen- und Gruppenzugehörigkeit abhängig gemacht werden. Cercas schreibt über die Zerrissenheit und das sich Finden in der Jugend genauso souverän wie über Liebe, Freundschaft, Vorbilder, Anerkennung, Hoffnung, Scheitern und vor allem den Werten im Leben eines Menschen. Der in Gerona lebende Spanier lotet aus, wägt ab und stellt verschiedene Meinungen nebeneinander, ohne zu werten. Dies überlässt er souverän und äußerst raffiniert seinem Leser.
Fazit: Javier Cercas erzählt eine spannende Geschichte, die letztendlich Teil einer größeren ist und bei der sich zunehmend die Quintessenz herauskristallisiert, „dass es zwar sehr beruhigend ist, für das, was wir tun, eine Erklärung zu haben“, es allerdings für das allermeiste mehr als nur eine Erklärung gibt – „vorausgesetzt es gibt überhaupt eine.“ Ein Text, der in menschliche Tiefen eindringt. „Ein Buch wie ein Spiegel“. Denn nicht wir lesen die Bücher, „sondern die Bücher lesen uns.“
Javier Cercas
Outlaws
Aus dem Spanischen von Susanne Lange
Titel der Originalausgabe: Las leyes de la frontera
S. Fischer Verlag (April 2014)
512 Seiten, Gebunden
ISBN-10: 3100105109
ISBN-13: 978-3100105103
Preis: 24,99 EUR
Kommentar hinterlassen
Du musst angemeldet sein, um einen Kommentar abzugeben.