Sein Leben finden und es füllen

Kein Tropfen Wasser, Steine und dicke Felsbrocken – die Atacama im Norden Chiles sieht aus wie eine Marslandschaft. Im Osten halten die Anden den Regen ab, die den Wolken ihre vom Meer herantragenden Wassermassen abnehmen. Auch von Westen her ist kein Nass zu erwarten, obwohl die trockenste Wüste der Welt direkt an der Küste liegt. Der kalte Humboldtstrom, der aus der Antarktis die Pazifikküste entlang fließt, sorgt nur für Nebel, der landeinwärts getrieben wird. Nicht nur die USA testen hier ihre Sonden für den Roten Planeten, sondern auch europäische Forscher haben ihre astronomischen Fühler ausgestreckt. Sie installieren derzeit das weltgrößte „Auge ins All“, das „European Extremely Large Telescope“ (E-ELT), ca. 20 Kilometer neben dem bereits funktionstüchtigen Very Large Telescope (VLT) der Eso in Cerro Paranal. Die extreme Trocken-, aber auch Dunkelheit bieten ideale Bedingungen für derartige Blicke ins Universum. Für Mensch und Tier ist diese Gegend allerdings extrem lebensfeindlich.

Neben den Bauarbeitern, Wissenschaftlern und Ingenieuren kommt niemand freiwillig für längere Zeit hierher. Doch der Protagonist aus Hans Platzgumers Roman sucht genau diese Einöde. Er flieht vor der lärmenden, schwatzhaften Welt, die ihm immer nutzloser vorkommt. Im Oktober 1996, an seinem 27. Geburtstag, sitzt Julian Ogert genau hier, um schreibend sein Leben aufzuarbeiten. Ein Leben, das bis dato eher nach Flucht, als nach Ankommen aussah. Der Auslöser: ein zutiefst traumatischer Vorfall kurz vor seinem 16. Geburtstag. Am 28. Juni 1985 findet Julian beim Betreten der Linzer Wohnung seine Eltern, die sich beide das Leben genommen haben. „An diesem Tag begann ich ein neues Leben. Mein eigenes. Ein Korridorleben entlang einer Reihe von Türen, die ich geschlossen hielt, weil ich nicht mehr sehen wollte, was sich dahinter verbarg. Ich lebte für den Tag. Ohne Verbindungen zu einem Davor oder Danach.“ Nach zunächst zwei vorrübergehenden Jahren bei seiner Tante in Wien, schnappt er sich mit 18 seine Gitarre und zieht hinaus in die Welt. In der Schweiz, in Paris, New York und letztendlich in Los Angeles lebt er als Straßenmusikant von der Hand in den Mund, ohne gültige Papiere und mit wechselnden Wohnsitzen. „Ich ziehe durch die Welt und hinterlasse keine Spuren. Ich habe gelernt, dass man nichts verlieren kann, wenn man nichts sammelt, keine Dinge, keine Bindungen. Keine falschen Hoffnungen.“ Doch zunehmend ist Julian genervt vom Getöse des Planeten und seinen scheintoten Bewohnern. Immer deutlicher erkennt er, dass sein Leben eigentlich kein Leben ist, sondern eher einem Ausharren gleichkommt. „Ich hatte eine Belanglosigkeit erreicht, nach der ich mich sogar gesehnt hatte, aber ich musste erkennen, dass diese nichts Spontanes, nichts Stärkendes an sich hatte.“ Das Northrige-Erdbeben am 17. Januar 1994 in L.A. markiert so etwas wie einen erneuten Wendepunkt, heraus aus seinem nomadisierenden Korridorleben.

„Ich blicke hinunter auf das Wolkenmeer, das Paranal nie erreichte, aber unablässig von unten her bedrängte. Manchmal konnte ich klar und deutlich durch Wolken hindurchsehen. Vergangene Bilder flackerten auf, die ich erneut durchlebte, ohne Angst jedoch, ohne Bedenken, denn ich wusste, dass die Wolken wiederkommen, alles zudecken und doch nie zu mir herauf zum Wüstenplateau finden würden. Die Atacama stattete mich, so lebensfeindlich sie war, mit einer gewissen Sicherheit aus. Dank ihr wagte ich, mich allem zu stellen. Sie gab mir zu verstehen, was richtig und falsch gewesen war. (…) Hier schreibe ich auf, wie alles weniger wurde. (…) Die Gespenster der Vergangenheit lassen mich ziehen.“

In wechselnden, kurzen Abschnitten, die zwischen Gegenwart und Vergangenheit springen, lässt Hans Platzgumer seinen Ich-Erzähler die elf Jahre nach seiner „Flucht“ aus Linz in Augenschein nehmen. Dabei taucht er mitunter ganz tief in seine Kindheit ein, reflektiert und analysiert. Entstanden ist eine atemberaubende, tiefgehende Innensicht seines Protagonisten, die zugleich einen sezierenden Blick auf seine Mitmenschen und deren in der Fülle doch ziemlich einsam-monotones Leben wirft. Ein beobachtendes Erzählen, das sich von Zeit zu Zeit an die Gefühlsregungen seines Protagonisten anpasst. Ausgestattet mit einem wachen Blick, gelingen Platzgumer feinfühlige Charakterisierungen wie sie kaum detaillierter sein können. Ein Roman, der eine unglaubliche Tiefe ausstrahlt und der trotz seiner Grundstille permanent durch die Seiten treibt. Ein Autor, der nicht nur gute Musik macht, sondern dessen feingeistiger Schreibstil an seine Landsleute Christoph Ransmayr oder Michael Köhlmeier erinnert und von Zeit zu Zeit gar einen ähnlich bissig-zynischen Ton aufblitzen lässt wie ihn Thomas Bernhard inszenierte. „Korridorwelt“ gehört für mich zu DER positiv-überraschenden Entdeckung im Frühjahr 2014. Eine Stimme aus Österreich, die man sich merken sollte.

Hans Platzgumer
Korridorwelt
Edition Nautilus (Februar 2014)
224 Seiten, Gebunden
ISBN-10: 3894017864
ISBN-13: 978-3894017866
Preis: 19,90 EUR

Über Heike Geilen 597 Artikel
Heike Geilen, geboren 1963, studierte Bauingenieurswesen an der Technischen Universität Cottbus. Sie arbeitet als freie Autorin und Rezensentin für verschiedene Literaturportale. Von ihr ist eine Vielzahl von Rezensionen zu unterschiedlichsten Themen im Internet zu finden.

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